Mit dem unter den Voraussetzungen des
Schreibens des Bundesministeriums der Finanzen vom 27.3.2003 IV A 6
- S 2140 - 8/03 (BStBl I 2003, 240 = SIS 03 19 23; ergänzt
durch das Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom
22.12.2009 IV C 6-S 2140/07/10001-01, BStBl I 2010, 18 = SIS 10 00 07; sog. Sanierungserlass) vorgesehenen Billigkeitserlass der auf
einen Sanierungsgewinn entfallenden Steuer verstößt das
Bundesministerium der Finanzen gegen den Grundsatz der
Gesetzmäßigkeit der Verwaltung.
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A. I. Vorgelegte Rechtsfrage
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Der X. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) hat
mit Beschluss vom 25.3.2015 X R 23/13 (BFHE 249, 299, BStBl II
2015, 696 = SIS 15 12 88) dem Großen Senat des BFH
gemäß § 11 Abs. 4 der Finanzgerichtsordnung (FGO)
folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:
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„Verstößt das Schreiben
des Bundesministeriums der Finanzen vom 27.3.2003 IV A 6 - S 2140 -
8/03 (BStBl I 2003, 240 = SIS 03 19 23; ergänzt durch das
Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 22.12.2009 IV C
6-S 2140/07/10001-01, BStBl I 2010, 18 = SIS 10 00 07; sog.
Sanierungserlass) gegen den Grundsatz der
Gesetzmäßigkeit der Verwaltung?“
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II. Sachverhalt und
Ausgangsverfahren
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1. Der Kläger und Revisionskläger
(Kläger) betrieb ein Einzelunternehmen. Seine
Gewinnermittlungen gemäß § 4 Abs. 1 des
Einkommensteuergesetzes (EStG) ergaben für die
Veranlagungszeiträume 2001 bis 2006 Verluste.
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Nach einer zwischen dem Kläger und
einer Sparkasse im November 2005 getroffenen Vereinbarung, die
fällige Zahlungsansprüche der Sparkasse sowie einer
Bankengruppe gegen den Kläger betraf, erklärten jene, auf
„die nicht bedienbaren Forderungen“ verzichten zu
wollen, falls der Kläger seinen Verpflichtungen aus der
Vereinbarung ordnungsgemäß und termingerecht nachkomme.
Nachdem der Kläger eine sog. Vergleichszahlung geleistet
hatte, unterrichtete ihn die Sparkasse im Dezember 2007 über
den seitens der Bankengruppe erklärten Verzicht auf die
Restforderung.
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Der Veranlagung zur Einkommensteuer
für das Jahr 2007 (Streitjahr) legte der Beklagte und
Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA - ) Einkünfte des
Klägers aus Gewerbebetrieb gemäß dem eingereichten
Jahresabschluss zugrunde, der Erträge aus den genannten
Forderungsverzichten der Banken enthielt, und setzte mit
Steuerbescheid vom 17.2.2009 Einkommensteuer gegen den Kläger
und seine mit ihm zusammen veranlagte Ehefrau fest.
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Hiergegen legte der Kläger Einspruch
mit der Begründung ein, der sich aus den Forderungsverzichten
ergebende Sanierungsgewinn müsse „steuerlich neutral
behandelt werden“. Auf Hinweis des FA beantragte der
Kläger am 19.3.2009 den „Erlass der anfallenden Steuern
auf den Sanierungsgewinn“ und legte im September 2009 ein von
ihm selbst erstelltes Konsolidierungskonzept vor, welches den
Forderungsverzicht der Sparkasse und des FA voraussetzt.
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Für die Folgejahre 2008 und 2009 wies
der Kläger in seinen Einkommensteuererklärungen wieder
Verluste aus Gewerbebetrieb aus.
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Den Einspruch des Klägers gegen den
inzwischen geänderten Einkommensteuerbescheid 2007 vom
29.4.2010, der Gegenstand des Einspruchsverfahrens geworden war und
der gemäß dem zuletzt eingereichten Jahresabschluss
Einkünfte aus Gewerbebetrieb in Höhe von ca. 599.000 EUR
(hierin enthalten Erträge aus den genannten
Forderungsverzichten in Höhe von ca. 620.000 EUR) zugrunde
legte, wies das FA mit der Begründung zurück, der Gewinn
aus Gewerbebetrieb sei zutreffend ermittelt worden; über den
Antrag nach § 163 der Abgabenordnung (AO), der nicht
Gegenstand des Einspruchsverfahrens sei, werde in einem gesonderten
Verfahren entschieden. Klage wurde insoweit nicht erhoben.
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Den Antrag „auf Erlass der Steuern
für 2007 aus dem Sanierungsgewinn“ lehnte das FA mit
Bescheid vom 12.7.2010 ab. Den hiergegen erhobenen Einspruch wies
das FA mit Einspruchsentscheidung vom 18.4.2012 zurück. Die
Voraussetzungen für die Annahme eines begünstigten
Sanierungsgewinns i.S. des sog. Sanierungserlasses des
Bundesministeriums der Finanzen (BMF) lägen nicht vor. Es
fehle die Sanierungseignung des Forderungsverzichts, weil der
Kläger auch im Folgejahr einen Verlust erzielt habe. Zudem
hätte der Kläger die Steuerfestsetzung für das
Streitjahr auch ohne die begehrte Billigkeitsmaßnahme,
nämlich durch Teilwertabschreibungen auf den betrieblichen
Grundbesitz, vermeiden können.
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Die hiergegen erhobene Klage, mit der der
Kläger geltend macht, die Voraussetzungen für einen
Erlass der festgesetzten Einkommensteuer 2007 aus sachlichen
Billigkeitsgründen gemäß dem sog. Sanierungserlass
lägen vor, wies das Finanzgericht (FG) mit Urteil vom
24.4.2013 1 K 759/12 (EFG 2013, 1898 = SIS 13 29 30) ab. Es
könne offen bleiben, ob die Voraussetzungen des sog.
Sanierungserlasses im Streitfall erfüllt seien, denn der
Gesetzgeber habe mit der Aufhebung des § 3 Nr. 66 EStG in der
vor dem Gesetz zur Fortsetzung der Unternehmenssteuerreform vom
29.10.1997 - UntStRFoG - (BGBl I 1997, 2590) geltenden Fassung
(EStG a.F.) zum Ausdruck gebracht, Sanierungsgewinne
unterschiedslos besteuern zu wollen. Mit dem sog. Sanierungserlass
verstoße die Finanzverwaltung daher gegen den Grundsatz der
Gesetzmäßigkeit der Verwaltung.
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2. Mit seiner Revision verfolgt der
Kläger sein Erlassbegehren weiter. Den Zweifeln an der
Rechtmäßigkeit des sog. Sanierungserlasses sei der X.
Senat des BFH bereits mit Urteil vom 14.7.2010 X R 34/08 (BFHE 229,
502, BStBl II 2010, 916 = SIS 10 22 93) entgegengetreten. Mit der
Aufhebung des § 3 Nr. 66 EStG a.F. habe der Gesetzgeber nicht
zum Ausdruck gebracht, es solle für Sanierungsgewinne keine
Erlassmöglichkeit mehr geben. Für die nach Ansicht des FA
möglichen Teilwertabschreibungen auf den betrieblichen
Grundbesitz hätten die Voraussetzungen nicht
vorgelegen.
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3. Das FA hält an der Ablehnung des
Erlassantrags fest. Zur Ansicht des FG, mit dem sog.
Sanierungserlass verstoße die Finanzverwaltung gegen den
Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung,
äußert sich das FA nicht, sondern meint, das FG-Urteil
sei aus anderen Gründen richtig (§ 126 Abs. 4 FGO), da
die Voraussetzungen für den Steuererlass nicht
vorlägen.
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4. Das BMF ist dem Verfahren beigetreten.
Es teilt die vom vorlegenden Senat mit Urteil in BFHE 229, 502,
BStBl II 2010, 916 = SIS 10 22 93 vertretene Auffassung, der sog.
Sanierungserlass tangiere nicht den Grundsatz der
Gesetzmäßigkeit der Verwaltung.
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Mit der Abschaffung des § 3 Nr. 66
EStG a.F. habe eine nach Einführung des zeitlich unbegrenzten
Verlustvortrags mögliche Doppelbegünstigung vermieden
werden sollen. Später sei aber der Verlustvortrag durch
Einführung einer Mindestgewinnbesteuerung wieder
beschränkt worden. Ein sorgfältiger Gesetzgeber
hätte sich zu jenem Zeitpunkt der Verknüpfung von
Aufhebung des § 3 Nr. 66 EStG a.F. mit zeitlich unbegrenztem
Verlustvortrag erinnert und von der Mindestgewinnbesteuerung die
Verlustverrechnung mit Sanierungsgewinnen ausgenommen. Dies habe
der Gesetzgeber aber nicht getan, weil kurz zuvor im März 2003
der sog. Sanierungserlass die unbeschränkte Verlustverrechnung
des Sanierungsgewinns vorgesehen habe. Der sog. Sanierungserlass
reduziere die Besteuerung systemgerecht und dem Willen des
Gesetzgebers bei Aufhebung des § 3 Nr. 66 EStG a.F. folgend
auf den eigentlichen Fiskalzweck. Zu einer gesetzeswidrigen
Doppelbegünstigung komme es nicht. Schon in der
Begründung des Entwurfs des Gesetzes zur Fortsetzung der
Unternehmenssteuerreform vom 29.10.1997 (gemeint ist offenbar die
Begründung des Entwurfs eines Steuerreformgesetzes 1999 der
CDU/CSU- und FDP-Fraktion vom 22.4.1997, BTDrucks 13/7480, 192) sei
auf mögliche Billigkeitsmaßnahmen der Finanzverwaltung
hingewiesen worden und auch später habe der Gesetzgeber
erkennen lassen, dass der sog. Sanierungserlass eine taugliche
Rechtsgrundlage für Billigkeitsmaßnahmen im
Sanierungsfall sei.
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Darüber hinaus sei zum 1.1.1999 die
Insolvenzordnung (InsO) in Kraft getreten, deren wesentliche Ziele
die Förderung der außergerichtlichen Sanierung, die
bessere Abstimmung von Sanierungsverfahren und die
Restschuldbefreiung für den redlichen Schuldner seien. Die
Abschaffung der Steuerfreiheit von Sanierungsgewinnen stehe mit
diesen Zielen der InsO in einem „Zielkonflikt“. Dieser
Wertungswiderspruch werde durch den sog. Sanierungserlass in
hinreichender Weise aufgehoben.
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Eine gesetzliche Regelung möglicher
Billigkeitsmaßnahmen bei Sanierungsgewinnen wäre - wegen
der erforderlichen Folgeänderungen im Bereich der
Verlustverrechnungsbeschränkungen - äußerst komplex
und liefe den Bemühungen um eine Steuervereinfachung zuwider.
Anders als eine starre gesetzliche Regelung sei die bestehende
Verwaltungsanweisung flexibler zu handhaben und habe sich in der
Praxis bewährt.
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III. Vorlagebeschluss des X.
Senats
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Nach Ansicht des vorlegenden Senats
verstößt der sog. Sanierungserlass nicht gegen den
Vorbehalt des Gesetzes.
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§§ 163 und 227 AO seien die
rechtlichen Grundlagen, die eine abweichende Steuerfestsetzung oder
einen Steuererlass aus Billigkeitsgründen in das Ermessen der
Finanzbehörden stellten. Mit dem sog. Sanierungserlass habe
das BMF die entscheidenden Ermessenserwägungen der
Finanzbehörden festgeschrieben und damit deren Ermessen auf
Null reduziert. Dies sei im Interesse einer
gleichmäßigen Festsetzung und Erhebung der Einkommen-
und Körperschaftsteuer durch die Landesfinanzbehörden
notwendig.
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Anders als das FG München im Urteil
vom 12.12.2007 1 K 4487/06 (EFG 2008, 615 = SIS 08 12 84) meine,
habe das BMF mit dem sog. Sanierungserlass die vor Aufhebung des
§ 3 Nr. 66 EStG a.F. bestehende Rechtslage nicht im Wege der
Billigkeit wieder in Kraft gesetzt. Vielmehr unterscheide sich der
sog. Sanierungserlass von der früheren gesetzlichen Regelung
und der hierzu ergangenen Rechtsprechung insoweit, als er die
vorrangige vollständige Verrechnung des Sanierungsgewinns mit
Verlustvorträgen und negativen Einkünften auch anderer
Einkunftsquellen fordere und die Stundung oder den Erlass der
Steuer nur für den danach verbleibenden Sanierungsgewinn
vorsehe. Außerdem werde im Gegensatz zur früheren
Rechtslage grundsätzlich nur eine unternehmensbezogene, nicht
aber eine unternehmerbezogene Sanierung steuerlich
begünstigt.
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Des Weiteren sei zu berücksichtigen,
dass die Aufhebung des § 3 Nr. 66 EStG a.F. mit der seinerzeit
bestehenden Möglichkeit eines unbeschränkten
Verlustvortrags begründet worden sei, die aber ab dem
Veranlagungszeitraum 2004 wieder beschränkt worden
sei.
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24
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Der nach BMF-Auffassung bestehende Konflikt
der Besteuerung von Sanierungsgewinnen mit den Zielen der InsO
lasse sich nicht vorrangig durch insolvenzrechtliche Regelungen,
sondern nur durch steuerliche Maßnahmen lösen. Der sog.
Sanierungserlass trage zum Abbau grundlegender Konflikte zwischen
Steuerrecht und InsO bei. Gläubiger eines angeschlagenen
Unternehmens, die mit einem Forderungsverzicht einen Beitrag zu
dessen „Überleben“ leisteten, erwarteten
regelmäßig, dass sich der Fiskus hieran beteilige und
die beabsichtigte Sanierung nicht durch die Besteuerung eines
Gewinns erschwere.
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Auch habe der Gesetzgeber im Zusammenhang
mit mehreren gesetzlichen Regelungen zu erkennen gegeben, dass er
den sog. Sanierungserlass des BMF billige und auch für
erforderlich halte.
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Billigkeitsmaßnahmen im Zusammenhang
mit Sanierungsgewinnen seien zum Ausgleich sachlicher, nicht
gewollter Härten unerlässlich. Unter den im sog.
Sanierungserlass beschriebenen Voraussetzungen bestünden
sachliche Billigkeitsgründe i.S. der §§ 163 und 227
AO.
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Der sog. Sanierungserlass sei auch mit dem
unionsrechtlichen Beihilferecht vereinbar.
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IV. Stellungnahme der
Beteiligten
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Der Kläger und das FA haben sich zur
Vorlage nicht geäußert. Das BMF hat allein zu den
beihilferechtlichen Fragen ergänzend Stellung
genommen.
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B. Entscheidung des Großen Senats zu
Verfahrensfragen
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I. Keine mündliche Verhandlung
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Der Große Senat entscheidet
gemäß § 11 Abs. 7 Satz 2 FGO ohne mündliche
Verhandlung, weil eine weitere Förderung der Entscheidung
durch eine mündliche Verhandlung nicht zu erwarten ist. Die
Vorlagefrage und die Auffassungen, die dazu in Rechtsprechung und
Schrifttum vertreten werden, sind im Vorlagebeschluss eingehend
dargestellt. Die Beteiligten hatten Gelegenheit, zur Vorlagefrage
Stellung zu nehmen.
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II. Zulässigkeit der Vorlage
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1. Entscheidungsreife des
Revisionsverfahrens
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Der vorlegende X. Senat war nicht
gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 60 Abs. 3
Satz 1 FGO verpflichtet, die zusammen mit dem Kläger
veranlagte Ehefrau, die im Einspruchsverfahren hinzugezogen war
(§ 360 Abs. 3 AO), im Revisionsverfahren beizuladen oder die
Sache an das FG zur Nachholung der Beiladung
zurückzuverweisen, denn die Voraussetzungen des § 60 Abs.
3 Satz 1 FGO liegen nicht vor, wenn einer der zusammen veranlagten
Ehegatten die Steuerfestsetzung anficht oder - wie im Streitfall -
Verpflichtungsklage auf eine abweichende Steuerfestsetzung oder
einen Steuererlass aus Billigkeitsgründen erhebt
(ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Urteil vom 7.2.2008 VI R
41/05, BFH/NV 2008, 1136 = SIS 08 24 71, m.w.N.).
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2. Vorlagegrund
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Der vorlegende Senat hat eine Entscheidung des
Großen Senats wegen grundsätzlicher Bedeutung der
Vorlagefrage gemäß § 11 Abs. 4 FGO erbeten, weil
diese Frage in der finanzgerichtlichen Rechtsprechung und im
Schrifttum unterschiedlich beantwortet werde und auch der VIII.
Senat in einem Kostenbeschluss vom 28.2.2012 VIII R 2/08 (BFH/NV
2012, 1135 = SIS 12 15 75) zu erkennen gegeben habe, er könnte
hinsichtlich dieser Frage möglicherweise zu einer anderen
Rechtsauffassung als der vorlegende X. Senat gelangen. An die
Auffassung des vorlegenden Senats, die Vorlagefrage habe aus den
genannten Gründen grundsätzliche Bedeutung (Rz 93 des
Vorlagebeschlusses in BFHE 249, 299, BStBl II 2015, 696 = SIS 15 12 88), ist der Große Senat gebunden (Beschluss des Großen
Senats des BFH vom 31.1.2013 GrS 1/10, BFHE 240, 162, BStBl II
2013, 317 = SIS 13 08 30, m.w.N.).
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3. Entscheidungserheblichkeit der
Vorlagefrage
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Ob die vorgelegte Rechtsfrage
entscheidungserheblich ist, hängt von der Vorfrage ab, welche
Rechtswirkung der sog. Sanierungserlass im finanzgerichtlichen
Verfahren entfaltet.
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a) Verwaltungsvorschriften, zu denen der sog.
Sanierungserlass gehört, sind keine die Gerichte bindenden
Rechtsnormen. Daran ändert auch der Umstand grundsätzlich
nichts, dass der sog. Sanierungserlass - wie der vorlegende Senat
meint - eine Ermessensrichtlinie der Finanzverwaltung ist, mit der
das BMF „die entscheidenden Ermessenserwägungen der
Finanzbehörden festgeschrieben und damit deren Ermessen auf
Null reduziert“ hat (Rz 58 des Vorlagebeschlusses in BFHE
249, 299, BStBl II 2015, 696 = SIS 15 12 88), denn sowohl im Fall
einer Anfechtungs- als auch einer Verpflichtungsklage kann das
angerufene Gericht die in Ermessensrichtlinien niedergelegten
Regeln, unter welchen Umständen die Verwaltung das ihr
eingeräumte Ermessen in welcher Weise ausüben soll,
für ermessensfehlerhaft halten und die auf der Grundlage der
Richtlinie ergangene Ermessensentscheidung im Fall der
Anfechtungsklage aufheben und im Fall der Verpflichtungsklage die
Behörde zur Neubescheidung verpflichten. An der dem Gericht
nach § 102 Satz 1 FGO obliegenden Prüfung, ob die
Behörde mit ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des
Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem
Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch
gemacht hat, ändert sich also nichts, wenn die Behörde
mit ihren Ermessenserwägungen und ihrer Entscheidung einer
Ermessensrichtlinie gefolgt ist (vgl. BFH-Beschluss vom 27.7.2011 I
R 44/10, BFH/NV 2011, 2005 = SIS 11 36 30).
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Rechtliche Bedeutung können
Ermessensrichtlinien im finanzgerichtlichen Verfahren allein
insofern erlangen, als sie - soweit sie tatsächlich angewandt
werden - die Finanzverwaltung unter dem Gesichtspunkt der
Gleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) binden
(sog. Selbstbindung der Verwaltung, vgl. Beschluss des
Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 11.5.1988 2 B 58.88, NJW
1988, 2907). Den für die Entscheidung des Einzelfalls
zuständigen Finanzbehörden ist es danach verwehrt, die
Anwendung einer Ermessensrichtlinie in einem Fall, der von der
Richtlinie gedeckt ist, ohne triftige Gründe abzulehnen. Nur
insoweit hat der Steuerpflichtige einen auch von den
Finanzgerichten zu beachtenden Rechtsanspruch, nach Maßgabe
der Ermessensrichtlinie behandelt zu werden (z.B. BFH-Urteil vom
23.4.1991 VIII R 61/87, BFHE 164, 422, BStBl II 1991, 752 = SIS 91 17 11, m.w.N.).
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Dies gilt wegen der Bindung der Gerichte an
die gesetzlichen Vorschriften und der gemäß § 102
Satz 1 FGO in jedem Fall gebotenen Rechtsprüfung allerdings
nur, soweit die Ermessensrichtlinie eine ausreichende
Rechtsgrundlage hat und sie der Gesetzeslage nicht widerspricht
(vgl. BFH-Beschluss vom 30.1.1991 IX B 58/89, BFH/NV 1992, 463;
BFH-Urteil in BFHE 164, 422, BStBl II 1991, 752 = SIS 91 17 11,
jeweils m.w.N.). Art. 3 Abs. 1 GG vermittelt nach ständiger
Rechtsprechung keinen Anspruch auf Anwendung einer rechtswidrigen
Verwaltungspraxis (BFH-Urteil vom 7.10.2010 V R 17/09, BFH/NV 2011,
865 = SIS 11 13 05, m.w.N.).
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43
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b) Der vorlegende Senat geht von einem Fall
der Selbstbindung der Verwaltung durch das BMF-Schreiben vom
27.3.2003 (BStBl I 2003, 240 = SIS 03 19 23) aus. Wie seine
Ausführungen in Rz 59 bis 74 des Vorlagebeschlusses (BFHE 249,
299, BStBl II 2015, 696 = SIS 15 12 88) deutlich machen, sieht er
die Bejahung sachlicher Unbilligkeit unter den im sog.
Sanierungserlass beschriebenen Voraussetzungen im Einklang mit den
gesetzlichen Vorschriften und meint, das BMF habe mit dem sog.
Sanierungserlass die für den Fall des Billigkeitserlasses
entscheidenden Ermessenserwägungen der Finanzbehörden
festgeschrieben und damit deren Ermessen auf Null reduziert;
deshalb sei die Steuer zu stunden, niedriger festzusetzen oder zu
erlassen, wenn im Streitfall die im sog. Sanierungserlass genannten
Voraussetzungen vorlägen, was allerdings in tatsächlicher
Hinsicht noch der Klärung durch das FG bedürfe (Rz 58, 87
des Vorlagebeschlusses in BFHE 249, 299, BStBl II 2015, 696 = SIS 15 12 88).
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44
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Darüber hinaus ist dem Vorlagebeschluss
die Ansicht des vorlegenden Senats zu entnehmen, die Besteuerung
eines Sanierungsgewinns sei nur unter den im sog. Sanierungserlass
beschriebenen Voraussetzungen sachlich unbillig (so auch schon sein
Urteil in BFHE 229, 502, BStBl II 2010, 916 = SIS 10 22 93), denn
nach seiner Ansicht müsse die Revision zurückgewiesen
werden, wenn der Große Senat die Vorlagefrage bejahe. Andere
Gründe sachlicher Unbilligkeit der Besteuerung sieht der
vorlegende Senat im Streitfall offenbar nicht.
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c) Geht es um die Entscheidungserheblichkeit
einer dem Großen Senat vorgelegten Rechtsfrage, ist die
Beantwortung der hierfür maßgeblichen rechtlichen
Vorfragen ausschließlich Sache des vorlegenden Senats. Der
Große Senat muss daher über die
Entscheidungserheblichkeit einer vorgelegten Rechtsfrage auf der
Grundlage der Rechtsauffassung des vorlegenden Senats zu den
Vorfragen befinden (Beschluss des Großen Senats des BFH in
BFHE 240, 162, BStBl II 2013, 317 = SIS 13 08 30, m.w.N.).
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Da der vorlegende Senat eine Selbstbindung der
Finanzverwaltung durch den sog. Sanierungserlass bejaht und
außerhalb des sog. Sanierungserlasses liegende
Billigkeitsgründe im Streitfall verneint, ist die Sache - wie
unter Rz 91 des Vorlagebeschlusses (BFHE 249, 299, BStBl II 2015,
696 = SIS 15 12 88) ausgeführt - an das FG
zurückzuverweisen, falls die Vorlagefrage verneint wird,
dagegen ist die Revision zurückzuweisen, falls die
Vorlagefrage bejaht wird.
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Die Vorlagefrage ist somit
entscheidungserheblich.
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C. Entscheidung des Großen Senats
über die Vorlagefrage
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I. Steuerfreiheit von Sanierungsgewinnen -
Gesetzeshistorie und Rechtsprechung
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1. Gesetzeshistorie
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Gesetzliche Regelungen zur ertragsteuerlichen
Behandlung von Sanierungsgewinnen wurden durch die Rechtsprechung
des Reichsfinanzhofs (RFH) veranlasst, der mit Urteilen vom
30.6.1927 VI A 297/27 (RFHE 21, 263) und vom 12.12.1928 VI A
1499/28 (RStBl 1929, 86) für die Einkommensteuer entschied,
durch Forderungsverzicht der Gläubiger entstandene Mehrungen
des Geschäftsvermögens seien nicht
einkommensteuerpflichtig, weil die auf einer Vereinbarung zwischen
den Gläubigern beruhende Vermögensmehrung außerhalb
des Geschäftsbetriebs des Steuerpflichtigen liege. Allerdings
werde ein ohne die Berücksichtigung des Sanierungsgewinns
vorhandener Verlust beseitigt, soweit die Sanierung reiche
(RFH-Urteil vom 21.10.1931 VI A 968/31, RFHE 29, 315). Da der
für die Körperschaftsteuer zuständige I. Senat eine
andere Ansicht vertrat und lediglich die Möglichkeit eines
Steuererlasses aus Billigkeitsgründen in Betracht zog
(RFH-Urteil vom 5.2.1929 I A 394/27, RStBl 1929, 228), führte
der Gesetzgeber 1934 mit § 11 Nr. 4 des
Körperschaftsteuergesetzes (KStG) den Abzug des
Sanierungsgewinns vom körperschaftsteuerlichen Einkommen ein
(vgl. zur Entwicklung ausführlich: Seer, Insolvenz, Sanierung
und Ertragsteuern, FR 2014, 721, 725 ff.; Kahlert/Rühland,
Sanierungs- und Insolvenzsteuerrecht, 2. Aufl. 2011, Rz 2.2
ff.).
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52
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Auch nach § 11 Abs. 1 Nr. 4 KStG i.d.F.
vom 5.9.1949 (Gesetzblatt der Verwaltung des Vereinigten
Wirtschaftsgebiets 1949, 311), das nur für einige
Bundesländer galt und durch Art. V Abs. 3 des Gesetzes zur
Änderung des Einkommensteuergesetzes und des
Körperschaftsteuergesetzes vom 29.4.1950 (BGBl 1950, 95) auch
in den übrigen Bundesländern in Kraft gesetzt wurde,
waren Vermögensmehrungen, die dadurch entstehen, dass Schulden
zum Zweck der Sanierung ganz oder teilweise erlassen werden, bei
der Ermittlung des Einkommens abzuziehen.
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53
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Diese Regelung wurde in den folgenden Jahren
wortgleich beibehalten und fand sich zuletzt in § 11 Nr. 4
KStG i.d.F. vom 13.10.1969 - KStG a.F. - (BGBl I 1969, 1869).
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54
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Die Neufassung des KStG - KStG 1977 -
gemäß Art. 1 des Körperschaftsteuerreformgesetzes
vom 31.8.1976 - KStRG - (BGBl I 1976, 2597) enthielt keine solche
Vorschrift. Stattdessen wurde durch Art. 2 Nr. 1 Buchst. b KStRG
§ 3 EStG um die Nr. 66 erweitert. Steuerfrei waren danach
„Erhöhungen des Betriebsvermögens, die dadurch
entstehen, dass Schulden zum Zweck der Sanierung ganz oder
teilweise erlassen werden“. Diese Steuerfreiheit von
Sanierungsgewinnen galt über § 8 Abs. 1 KStG 1977 ebenso
für die Körperschaftsteuer. Die Änderungen waren ab
dem Veranlagungszeitraum 1977 anzuwenden.
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55
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§ 3 Nr. 66 EStG a.F. wurde durch Art. 1
Nr. 1 UntStRFoG aufgehoben. Die Vorschrift war nach § 52 Abs.
2i EStG i.d.F. des Art. 2 des Gesetzes zur Finanzierung eines
zusätzlichen Bundeszuschusses zur gesetzlichen
Rentenversicherung vom 19.12.1997 (BGBl I 1997, 3121) letztmals auf
Erhöhungen des Betriebsvermögens anzuwenden, die in dem
Wirtschaftsjahr entstehen, das vor dem 1.1.1998 endet.
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56
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2. BFH-Rechtsprechung zur Steuerfreiheit von
Sanierungsgewinnen
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57
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a) Obwohl bis zum Veranlagungszeitraum 1977
eine dem § 11 Nr. 4 KStG a.F. entsprechende Vorschrift
für das Einkommensteuerrecht fehlte, führte der BFH die
RFH-Rechtsprechung - wenn auch mit anderer Begründung - fort
und sah den Sanierungsgewinn nunmehr kraft Gewohnheitsrechts und
wegen der sowohl im Körperschaft- als auch im
Einkommensteuerrecht übereinstimmenden Grundsätze der
Gewinnermittlung als nicht einkommensteuerpflichtig an (BFH-Urteile
vom 25.10.1963 I 359/60 S, BFHE 78, 308, BStBl III 1964, 122 = SIS 64 00 75; vom 22.11.1963 VI 117/62 U, BFHE 78, 325, BStBl III 1964,
128 = SIS 64 00 79, und vom 27.9.1968 VI R 41/66, BFHE 94, 186,
BStBl II 1969, 102 = SIS 69 00 71).
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58
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Allerdings hielt der BFH zunächst auch an
der Rechtsprechung des RFH fest, dass ein Sanierungsgewinn, der in
die Jahre der Entstehung oder Absetzbarkeit eines betrieblichen
Verlustes falle, diesen Verlust verbrauche. Es sei nicht
gerechtfertigt, über die Steuerfreiheit des Sanierungsgewinns
hinaus einen Verlust, den der Steuerpflichtige wegen der Sanierung
wirtschaftlich nicht zu tragen brauche, trotzdem beim
Steuerpflichtigen abzuziehen (BFH-Urteile vom 4.8.1961 VI 35/61 U,
BFHE 73, 685, BStBl III 1961, 516 = SIS 61 03 37, und in BFHE 78,
325, BStBl III 1964, 128 = SIS 64 00 79, m.w.N.).
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59
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Diese BFH-Rechtsprechung wurde für die
Körperschaftsteuer mit Beschluss des Großen Senats vom
15.7.1968 GrS 2/67 (BFHE 93, 75, BStBl II 1968, 666 = SIS 68 04 55)
aufgegeben. Danach war ein nach § 11 Nr. 4 KStG a.F.
körperschaftsteuerfreier Sanierungsgewinn weder mit einem ohne
ihn in demselben Veranlagungszeitraum entstehenden Verlust noch mit
einem abzugsfähigen Verlust aus einem früheren
Veranlagungszeitraum zu verrechnen. Den Verlust oder Verlustabzug
durch einen Sanierungsgewinn zu beseitigen, sei mit dem Wortlaut
dieser Vorschrift nicht zu vereinbaren, denn der Sanierungsgewinn
würde im Ergebnis besteuert, wenn man ihn mit einem Verlust
des laufenden Veranlagungszeitraums oder einem Verlustabzug
verrechne. Dass es mit dem Nebeneinander von steuerfreiem
Sanierungsgewinn und Verlustausgleich oder Verlustabzug zu einer
doppelten Vergünstigung für den Steuerpflichtigen kommen
könne, sei ein vom Gesetzgeber gewolltes Ergebnis.
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60
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Für die Einkommensteuer schloss sich der
VI. Senat mit Urteil in BFHE 94, 186, BStBl II 1969, 102 = SIS 69 00 71 dieser Auffassung des Großen Senats an.
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61
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b) Für die Steuerfreiheit eines
Sanierungsgewinns gemäß § 3 Nr. 66 EStG a.F. (ab
dem Veranlagungszeitraum 1977) mussten nach ständiger
Rechtsprechung des BFH folgende Voraussetzungen erfüllt sein:
die Sanierungsbedürftigkeit des Unternehmens, der volle oder
teilweise Erlass seiner Schulden, die insoweit bestehende
Sanierungsabsicht der Gläubiger sowie die Sanierungseignung
des Schuldenerlasses (BFH-Urteile vom 19.3.1991 VIII R 214/85, BFHE
164, 70, BStBl II 1991, 633 = SIS 91 14 52; vom 19.3.1993 III R
79/91, BFH/NV 1993, 536 = SIS 93 25 23; vom 6.3.1997 IV R 47/95,
BFHE 183, 78, BStBl II 1997, 509 = SIS 97 16 38, und vom 17.11.2004
I R 11/04, BFH/NV 2005, 1027 = SIS 05 25 62, jeweils m.w.N.).
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62
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Die Sanierungsbedürftigkeit des
Unternehmens war nach den Verhältnissen zu dem Zeitpunkt zu
beurteilen, zu dem der Forderungsverzicht vereinbart wurde
(BFH-Urteile vom 14.3.1990 I R 64/85, BFHE 161, 28, BStBl II 1990,
810 = SIS 90 19 41, und in BFH/NV 1993, 536, jeweils m.w.N.).
Maßgebend waren insoweit die Ertragslage und die Höhe
des Betriebsvermögens vor und nach der Sanierung, die
Kapitalverzinsung durch die Erträge des Unternehmens, die
Möglichkeiten zur Zahlung von Steuern und sonstiger Schulden,
d.h. das Verhältnis der flüssigen Mittel zur Höhe
der Schuldenlast, die Gesamtleistungsfähigkeit des
Unternehmens und die Höhe des Privatvermögens
(BFH-Urteile in BFHE 161, 28, BStBl II 1990, 810 = SIS 90 19 41,
und in BFH/NV 1993, 536, jeweils m.w.N.). Die
Sanierungsbedürftigkeit war zu vermuten, wenn sich mehrere
Gläubiger an einer Sanierung beteiligten (BFH-Urteile vom
3.12.1963 I 375/60 U, BFHE 78, 327, BStBl III 1964, 128 = SIS 64 00 78, und in BFHE 161, 28, BStBl II 1990, 810 = SIS 90 19 41).
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63
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Hinsichtlich der Sanierungseignung war zu
prüfen, ob der Schuldenerlass allein oder zusammen mit anderen
- auch nicht steuerbefreiten - Maßnahmen das Überleben
des Betriebs zu sichern geeignet war (vgl. BFH-Urteile vom
22.1.1985 VIII R 37/84, BFHE 143, 420, BStBl II 1985, 501 = SIS 85 14 15; vom 20.2.1986 IV R 172/84, BFH/NV 1987, 493, und vom
19.10.1993 VIII R 61/92, BFH/NV 1994, 790, m.w.N.). Aber auch die
Aufgabe des Unternehmens hinderte die Annahme der Sanierungseignung
nicht; vielmehr sollte es (unter Hinweis auf RFH-Rechtsprechung)
insoweit genügen, wenn der Schuldenerlass einen
Einzelunternehmer in den Stand versetzte, das von ihm betriebene
Unternehmen aufzugeben, ohne von weiterbestehenden Schulden
beeinträchtigt zu sein (BFH-Urteile in BFHE 161, 28, BStBl II
1990, 810 = SIS 90 19 41; in BFHE 164, 70, BStBl II 1991, 633 = SIS 91 14 52, und in BFH/NV 1993, 536, jeweils m.w.N.). Für die
Annahme der Sanierungseignung war entscheidend, ob die Sanierung im
Zeitpunkt des Schuldenerlasses zu erwarten war; nachträglich
eingetretene Umstände, die das Gelingen der Sanierung
verhinderten, rechtfertigten keine andere Beurteilung (BFH-Urteile
in BFH/NV 1987, 493; in BFH/NV 1993, 536, und in BFH/NV 1994, 790,
m.w.N.). Als ungeeignet wurden aber Maßnahmen angesehen, die
von vornherein erkennbar nicht ausreichten, das wirtschaftliche
Überleben des Unternehmens sicherzustellen (BFH-Urteil in
BFH/NV 1993, 536, m.w.N.).
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64
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Zur Voraussetzung der Sanierungsabsicht der
Gläubiger war die BFH-Rechtsprechung nicht einheitlich.
Teilweise wurde vertreten, die Sanierungsabsicht sei zu verneinen,
wenn der Gläubiger Schulden erlasse, weil er erkennbar
besonders an der Fortführung seiner Geschäftsbeziehungen
mit dem Schuldner interessiert sei oder er durch einen Teilerlass
den Erhalt der Restforderung sichern wolle (BFH-Urteil in BFH/NV
1994, 790, m.w.N.). Demgegenüber hieß es in anderen
Entscheidungen, an das Vorliegen der Sanierungsabsicht seien keine
strengen Anforderungen zu stellen; vielmehr sei es ausreichend,
wenn neben eigennützigen Motiven des Gläubigers wie etwa
der Rettung eines Teils der Forderung oder des Erhalts der
Geschäftsverbindungen die Sanierungsabsicht mitentscheidend
gewesen sei (BFH-Urteile in BFH/NV 1987, 493; in BFH/NV 1993, 536,
und vom 24.2.1994 IV R 71/92, BFH/NV 1995, 15, jeweils m.w.N.). Bei
einem gemeinschaftlichen Erlass mehrerer Gläubiger sei die
Sanierungsabsicht in der Regel zu unterstellen (BFH-Urteile in BFHE
161, 28, BStBl II 1990, 810 = SIS 90 19 41; in BFH/NV 1993, 536,
und in BFH/NV 2005, 1027 = SIS 05 25 62, jeweils m.w.N.).
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65
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II. Billigkeitserlass der auf
Sanierungsgewinne entfallenden Steuer - Rechtsprechung, Schrifttum
und Verwaltungsauffassung
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66
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Seit Aufhebung des § 3 Nr. 66 EStG a.F.
haben Erhöhungen des Betriebsvermögens, die dadurch
entstehen, dass Schulden zum Zweck der Sanierung ganz oder
teilweise erlassen werden, bei der Gewinnermittlung
gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG keine Sonderstellung
mehr. Eine Steuerbefreiung solcher Sanierungsgewinne kann nur durch
Billigkeitsmaßnahmen im Einzelfall erreicht werden.
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67
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1. Rechtsprechung zum Billigkeitserlass bei
Sanierungsgewinnen
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68
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a) Rechtsprechung des BFH
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69
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Der vorlegende Senat hat mit Urteil in BFHE
229, 502, BStBl II 2010, 916 = SIS 10 22 93 die - jene Entscheidung
allerdings nicht tragende - Ansicht vertreten, die im sog.
Sanierungserlass wiedergegebene Auffassung der Finanzverwaltung,
Sanierungsgewinne könnten nach § 227 AO erlassen werden,
tangiere nicht den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der
Verwaltung. Der Ansicht des FG München (Urteil in EFG 2008,
615 = SIS 08 12 84), die Finanzverwaltung habe mit dem
BMF-Schreiben in BStBl I 2003, 240 = SIS 03 19 23 eine
Verwaltungspraxis contra legem eingeführt, könne
„in dieser Allgemeinheit nicht gefolgt werden“.
Auch für das Urteil des vorlegenden Senats vom 12.12.2013 X R
39/10 (BFHE 244, 485, BStBl II 2014, 572 = SIS 14 15 56) war die
dort ebenfalls vertretene Auffassung, der sog. Sanierungserlass
tangiere nicht den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der
Verwaltung, nicht tragend.
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70
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Der VIII. Senat des BFH hat es mit Beschluss
in BFH/NV 2012, 1135 = SIS 12 15 75 (Kostenentscheidung nach
Erledigung der Hauptsache) als zweifelhaft angesehen, ob die
Steuerfreiheit von Sanierungsgewinnen wegen sachlicher Unbilligkeit
gemäß dem sog. Sanierungserlass beansprucht werden
könne. Die von der Vorinstanz (FG München, Urteil in EFG
2008, 615 = SIS 08 12 84) vertretene Auffassung, ein Erlass der
Einkommensteuer auf Sanierungsgewinne wegen sachlicher Unbilligkeit
komme wegen des durch die Aufhebung des § 3 Nr. 66 EStG a.F.
zum Ausdruck gebrachten abweichenden Willens des Gesetzgebers nicht
in Betracht, sei „nicht von vornherein
abzulehnen“.
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71
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Der I. Senat des BFH hat mit Urteil vom
25.4.2012 I R 24/11 (BFHE 237, 403 = SIS 12 19 74) die Fragen, ob
der Sanierungserlass den Erfordernissen des allgemeinen
Gesetzesvorbehalts sowie des unionsrechtlichen Beihilfeverbots
uneingeschränkt genügt, offen gelassen.
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72
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b) Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
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73
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Auch der Bundesgerichtshof (BGH) hat in einem
Haftungsfall, in dem der beklagte Steuerberater seinen Mandanten
nicht auf die Möglichkeit eines Billigkeitserlasses nach dem
sog. Sanierungserlass hingewiesen hatte, die Frage, „ob
der Sanierungserlass gesetzeswidrig ist“, offen gelassen,
weil ein Steuerberater auch für Schäden einzustehen habe,
die dem Mandanten entstanden sind, weil dieser sich durch
schuldhaftes Handeln des Steuerberaters eine Behördenpraxis
nicht hat zunutze machen können, die sich im Nachhinein als
rechtswidrig erweist (BGH-Urteil vom 13.3.2014 IX ZR 23/10, HFR
2014, 638 = SIS 14 14 37).
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74
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c) Rechtsprechung der Finanzgerichte
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75
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Die im Vorlagebeschluss eingehend dargestellte
Rechtsprechung der Finanzgerichte lässt sich wie folgt
zusammenfassen:
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76
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Die im Streitfall vom 1. Senat des
Sächsischen FG mit Urteil in EFG 2013, 1898 = SIS 13 29 30
vertretene Auffassung, mit dem sog. Sanierungserlass werde gegen
den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung
verstoßen, entspricht im Ergebnis derjenigen des 5. Senats
des Sächsischen FG (Urteil vom 14.3.2013 5 K 1113/12, DStR
2014, 190 = SIS 14 06 29) sowie derjenigen des 6. Senats des
Sächsischen FG (Urteil vom 15.7.2015 6 K 1145/12, EFG 2016,
1582 = SIS 16 18 48). Diese Auffassung wird mit ähnlicher
Wortwahl („Verwaltungspraxis contra legem“) vom
FG München geteilt (Urteil in EFG 2008, 615 = SIS 08 12 84).
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77
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Mit Beschluss vom 20.1.2014 4 V 1794/12 (= SIS 14 15 40) hat der 4. Senat des Sächsischen FG die
Voraussetzungen des sog. Sanierungserlasses als in jenem Fall nicht
glaubhaft gemacht angesehen und die Frage, ob der sog.
Sanierungserlass überhaupt einen Rechtsanspruch auf
Gewährung einer Billigkeitsmaßnahme begründen kann,
offen gelassen. In gleicher Weise wird diese Frage mangels
Entscheidungserheblichkeit offen gelassen vom FG Berlin-Brandenburg
(Urteil vom 7.1.2014 6 K 6209/11, EFG 2014, 975 = SIS 14 12 84),
vom FG Hamburg (Urteil vom 8.8.2012 2 K 104/11, juris = SIS 12 28 91), vom Hessischen FG (Urteil vom 11.2.2010 3 K 351/06,
Steuerrecht kurzgefasst 2010, 345) sowie vom 13. Senat des FG
Köln (Urteil vom 16.6.2016 13 K 984/11, EFG 2016, 1756 = SIS 16 22 36).
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78
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Keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit
des sog. Sanierungserlasses haben der 6. Senat des FG Köln
(Urteil vom 24.4.2008 6 K 2488/06, EFG 2008, 1555 = SIS 08 33 93),
das FG Düsseldorf (Urteil vom 16.3.2011 7 K 3831/10 AO, EFG
2011, 1685 = SIS 11 25 14) und das FG des Landes Sachsen-Anhalt
(Urteil vom 14.11.2013 6 K 1267/11, EFG 2014, 721 = SIS 14 06 73).
Das FG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 18.4.2012 12 K 12179/09, 12 K
12177/10, DStRE 2013, 413 = SIS 12 28 63) und das
Niedersächsische FG (Urteil vom 31.1.2012 8 K 34/09, EFG 2012,
1523 = SIS 12 18 47) wenden den sog. Sanierungserlass an, ohne die
streitige Rechtsfrage zu erörtern. Das FG Münster
hält unter den Voraussetzungen, die denjenigen des sog.
Sanierungserlasses entsprechen, die Besteuerung eines
Sanierungsgewinns für sachlich unbillig (Urteil vom 27.5.2004
2 K 1307/02 AO, EFG 2004, 1572 = SIS 04 33 81).
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79
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d) Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte
und Verwaltungsgerichte
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80
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Die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung ist
uneinheitlich (vgl. dazu die Nachweise bei Krumm, Sanierungsgewinne
und Gewerbesteuer, DB 2015, 2714). Zumeist wird der sog.
Sanierungserlass als für die Gemeinden nicht verbindlich
angesehen und eine Ermessensreduktion auf Null verneint
(Sächsisches Oberverwaltungsgericht - OVG -, Beschluss vom
21.10.2013 5 A 847/10, juris; Hessischer Verwaltungsgerichtshof,
Beschluss vom 18.7.2012 5 A 293/12.Z, Zeitschrift für
Kommunalfinanzen - ZKF - 2013, 20). Das OVG Lüneburg hat es
dagegen offen gelassen, ob der sog. Sanierungserlass die Verwaltung
bindet; sein Inhalt sei aber bei der Entscheidung über den
Erlassantrag zu beachten (Beschluss vom 1.4.2011 9 ME 216/10, Neue
Zeitschrift für Verwaltungsrecht-Rechtsprechungs-Report 2011,
508).
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81
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Das Verwaltungsgericht (VG) Magdeburg sieht
ebenfalls keine Bindungswirkung des sog. Sanierungserlasses
für die Gemeinden und hält die Ablehnung eines
Steuererlasses aus Billigkeitsgründen unter Hinweis auf die
Aufhebung des § 3 Nr. 66 EStG a.F. für
ermessensfehlerfrei (Urteil vom 25.2.2014 2 A 193/12, juris).
Dagegen berücksichtigt das VG Köln die Aufhebung des
§ 3 Nr. 66 EStG a.F. nicht (Urteil vom 27.8.2014 24 K 2780/13,
juris). Das VG Halle verneint ebenfalls die Bindung der Gemeinde an
den sog. Sanierungserlass, bejaht aber die sachliche Unbilligkeit
der Besteuerung unter den dort beschriebenen Voraussetzungen
(Urteil vom 22.6.2011 5 A 289/09, juris = SIS 12 22 23). Auch das
VG Düsseldorf meint, die Gemeinde dürfe den Inhalt des
sog. Sanierungserlasses bei der Ermessensausübung
berücksichtigen, sie dürfe aber ermessensfehlerfrei auch
weitere Erwägungen anstellen wie z.B. die
regionalwirtschaftliche oder fiskalische Bedeutung eines
Unternehmens, die Verhinderung städtebaulich
unerwünschter Leerstände oder die Rettung von
Arbeitsplätzen (Urteil vom 28.7.2014 25 K 6763/13, FR 2014,
942 = SIS 14 29 88). Das VG Münster meint, die von der
Gemeinde im Anschluss an das Urteil des FG München in EFG
2008, 615 = SIS 08 12 84 vertretene Auffassung, nach Aufhebung des
§ 3 Nr. 66 EStG a.F. begründe ein Sanierungsgewinn als
solcher keine sachliche Unbilligkeit und das BMF-Schreiben in BStBl
I 2003, 240 = SIS 03 19 23 sei deshalb mit höherrangigem
Gesetzesrecht nicht vereinbar, sei nicht zu beanstanden (Urteil vom
21.5.2014 9 K 1251/11, DStRE 2015, 626 = SIS 15 13 99).
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2. Auffassungen im Schrifttum
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83
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a) Schon vor Aufhebung des § 3 Nr. 66
EStG a.F. hat Groh (Abschaffung des Sanierungsprivilegs?, DB 1996,
1890) die Besteuerung eines trotz Ausschöpfung der
Verlustverrechnungsmöglichkeiten verbleibenden
Sanierungsgewinns für sachgerecht gehalten. Ebenso hielt
Kroschel die Aufhebung der Steuerfreiheit für richtig,
allenfalls eine zeitweilige Zurückstellung des Steueranspruchs
für gerechtfertigt, und sprach sich gegen einen Steuererlass
im Billigkeitsweg aus (Rechtskritische Anmerkungen zur steuerlichen
Behandlung von Sanierungsgewinnen, DStR 1999, 1383). Heinicke hat
bereits anlässlich der Aufhebung des § 3 Nr. 66 EStG a.F.
die Auffassung vertreten, wegen des ausdrücklich abweichenden
Willens des Gesetzgebers entfalle nunmehr im Regelfall auch der vor
Einführung der Vorschrift von Verwaltung und Rechtsprechung
praktizierte Erlass der Steuer wegen sachlicher Unbilligkeit (in
Schmidt, EStG, 17. Aufl., § 3, ABC
„Sanierungsgewinn“). Er hält auch nach
Bekanntgabe des sog. Sanierungserlasses an dieser Auffassung fest
(in Schmidt, EStG, 35. Aufl., § 4 Rz 460
„Sanierungsgewinne“). Erhard (in Blümich,
EStG, § 3 Nr. 66 a.F. Rz 3) sieht die gesetzliche Grundlage
des sog. Sanierungserlasses ungeklärt. Bareis/Kaiser
(Sanierung als Steuersparmodell?, DB 2004, 1841) sehen in dem sog.
Sanierungserlass eine Kompetenzüberschreitung seitens des BMF
und den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung
tangiert. Maus meint, der Steuererlass habe den Zweck, im
Einzelfall die Fehler des generalisierenden Gesetzgebers zu
korrigieren; die explizite Abschaffung des § 3 Nr. 66 EStG
a.F. könne aber nicht als Fehler des Gesetzgebers gesehen
werden, der durch die Finanzverwaltung zu korrigieren sei (Die
Besteuerung des Sanierungsgewinns, Zeitschrift für
Wirtschaftsrecht - ZIP - 2002, 589). In gleicher Weise sieht v.
Groll im sog. Sanierungserlass eine gesetzesvertretende
Verwaltungsvorschrift, die allgemein und abstrakt die Behandlung
von Sanierungsgewinnen regele und eine aufgehobene gesetzliche
Regelung teilweise ersetzen wolle (in Hübschmann/Hepp/Spitaler
- HHSp -, § 227 AO Rz 32). Eine gesetzliche Regelung ebenfalls
für erforderlich halten Diffring (Umwandlung von Forderungen
zur Sanierung von Kapitalgesellschaften, Berlin 2012) sowie Kanzler
(Steuerfreiheit des Sanierungsgewinns durch Billigkeitserlass ...,
FR 2003, 480), der jedenfalls 2003 noch feststellte, die eindeutige
gesetzgeberische Entscheidung, das Sanierungsprivileg aufzuheben,
werde durch den Sanierungserlass des BMF konterkariert.
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84
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b) Die Verwaltungsauffassung, die Besteuerung
eines Sanierungsgewinns sei unter den Voraussetzungen des sog.
Sanierungserlasses sachlich unbillig, wird geteilt von Frotscher
(in Schwarz, AO, § 163 Rz 132), Musil (in
Herrmann/Heuer/Raupach - HHR -, § 4 EStG Rz 134), Seer (Der
sog. Sanierungserlass vom 27.3.2003 als Rechtsgrundlage für
Maßnahmen aus sachlichen Billigkeitsgründen, FR 2010,
306), derselbe (Insolvenz, Sanierung und Ertragsteuern ..., FR
2014, 721), Kahlert (Ertragsbesteuerung in Krise und Insolvenz, FR
2014, 731), Kahlert/Rühland (a.a.O., Rz 2.10 f.), Wiese/Lukas
(Sanierungsgewinne und Gewerbesteuer, DStR 2015, 1222),
Hageböke/Hasbach (Gewerbesteuerliche Kompetenzfragen beim
Sanierungserlass, DStR 2015, 1713), Sonnleitner/Strotkemper
(Steuerfreiheit von Sanierungsgewinnen: Quo vadis?, BB 2015, 2395),
Krumm (DB 2015, 2714), derselbe (in Blümich, § 5 EStG Rz
959), Keuthen/Hübner (Aktuelle steuerliche Fragen bei
Sanierungsgewinnen, FR 2015, 865), Buschendorf/Vogel (Der Anspruch
auf Billigkeitserlass bei Sanierungsgewinnen, DB 2016, 676),
Kanzler - anders als 2003 - (Anmerkung zum Urteil des FG
München vom 12.12.2007 1 K 4487/06, FR 2008, 1114, 1117 = SIS 08 12 84), Mitschke (Anmerkung zum BFH-Urteil vom 12.12.2013 X R
39/10, FR 2014, 658, 661 = SIS 14 15 56),
Hoffmann-Theinert/Häublein (Die Besteuerung von
Sanierungsgewinnen bei Forderungsverzichten, FU Berlin,
online-Dokument). Weitere dem sog. Sanierungserlass zustimmende
Autoren sind in Rz 50 des Vorlagebeschlusses in BFHE 249, 299,
BStBl II 2015, 696 = SIS 15 12 88 aufgeführt.
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85
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3. Auffassung der Verwaltung
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86
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Die Finanzverwaltung hält am sog.
Sanierungserlass fest und meint, dieser verletze nicht den
Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung.
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87
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III. Auffassung des Großen
Senats
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88
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Der Große Senat bejaht die Vorlagefrage.
Die im sog. Sanierungserlass aufgestellten Voraussetzungen für
einen Steuererlass aus Billigkeitsgründen beschreiben keinen
Fall sachlicher Unbilligkeit i.S. der §§ 163, 227 AO.
Soweit der sog. Sanierungserlass gleichwohl den Erlass der auf
einen Sanierungsgewinn entfallenden Steuer vorsieht, liegt darin
ein Verstoß gegen den Grundsatz der
Gesetzmäßigkeit der Verwaltung.
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89
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1. Grundsatz der Gesetzmäßigkeit
der Verwaltung
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90
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a) Art. 20 Abs. 3 GG bindet die vollziehende
Gewalt an Gesetz und Recht. Hieraus abgeleitet - zum Teil auch mit
dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung synonym
gebraucht - wird das Prinzip des Vorrangs des Gesetzes, dem zufolge
das Gesetzesrecht Vorrang hat gegenüber von der Exekutive
gesetzten Normen und anderen Verwaltungsentscheidungen (Grzeszick
in Maunz/Dürig, Komm. z. GG, Art. 20 V Rz 98, Art. 20 VI Rz
72); untergesetzliche Normen und andere Maßnahmen der
Verwaltung dürfen gesetzlichen Rechtsnormen nicht
widersprechen (Grzeszick, a.a.O., Art. 20 VI Rz 73; Schnapp, in: v.
Münch/Kunig, GGK, 6. Aufl., 2012, Rz 65 zu Art. 20). Ein
Verstoß gegen dieses aus Art. 20 Abs. 3 GG folgende
Verfassungsprinzip kommt danach in Betracht, wenn eine der
Verwaltungsmaßnahme entgegenstehende gesetzliche Vorschrift
existiert (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG -
vom 28.10.1975 2 BvR 883/73, 2 BvR 379/74, 2 BvR 497/74, 2 BvR
526/74, BVerfGE 40, 237, 247).
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91
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b) Im Abgabenrecht hat der vorgenannte
Verfassungsgrundsatz seinen Niederschlag in § 85 Satz 1 AO
gefunden. Nach dieser Vorschrift sind die Finanzbehörden
verpflichtet, die Steuern nach Maßgabe der Gesetze
gleichmäßig festzusetzen und zu erheben. Dieser für
das gesamte Verfahren geltende Grundsatz der
Gesetzmäßigkeit der Besteuerung ist der für das
Steuerrecht einfachrechtlich formulierte Grundsatz der
Gesetzmäßigkeit der Verwaltung i.S. des Art. 20 Abs. 3
GG (vgl. Schmitz in Schwarz, a.a.O., § 85 Rz 8;
Klein/Rätke, AO, 13. Aufl., § 85 Rz 1). § 85 Satz 1
AO enthält das im Steuerrecht geltende
Legalitätsprinzip.
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92
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Die Finanzbehörden sind danach nicht nur
berechtigt, sondern verpflichtet, die wegen Verwirklichung eines
steuerrechtlichen Tatbestands entstandenen Steueransprüche
(§ 38 AO) festzusetzen und die Steuer zu erheben. In dem von
den Grundsätzen der Gleichheit und der
Gesetzmäßigkeit geprägten
Steuerschuldverhältnis entspricht der Pflicht des Schuldners
zur gesetzmäßigen Steuerzahlung die Pflicht der
Finanzbehörden zur gesetzmäßigen Steuererhebung
(BVerfG-Urteil vom 27.6.1991 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239, 271 =
SIS 91 14 01). Die mit dem Vollzug der Steuergesetze beauftragte
Finanzverwaltung hat die Besteuerungsvorgaben in strikter
Legalität umzusetzen und so Belastungsgleichheit zu
gewährleisten (BVerfG-Urteil in BVerfGE 84, 239, 271 = SIS 91 14 01).
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93
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Die im Rahmen einer Ermessensausübung
anzustellenden Zweckmäßigkeitserwägungen spielen
daher bei der Steuerfestsetzung und -erhebung grundsätzlich
keine Rolle. Einen im Belieben der Finanzverwaltung stehenden,
freien Verzicht auf Steuerforderungen gibt es nicht. Auch im Wege
von Verwaltungserlassen dürfen die Finanzbehörden
Ausnahmen von der gesetzlich vorgeschriebenen Besteuerung nicht
zulassen (Schmitz, a.a.O., § 85 Rz 10; Klein/Rätke,
a.a.O., § 85 Rz 8), denn auch der Verzicht auf den
Steuereingriff bedarf einer gesetzlichen Grundlage (Hey in
Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl., § 3 Rz 235 ff.; Loose in
Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 227 AO
Rz 2; BVerwG-Urteil vom 18.4.1975 VII C 15.73, BVerwGE 48, 166,
BStBl II 1975, 679 = SIS 75 03 99). Fehlt diese, können die
Finanzbehörden von der Festsetzung und Erhebung
gemäß § 38 AO entstandener Steueransprüche
nicht absehen. Anderenfalls verstoßen sie gegen den Grundsatz
der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung (§ 85 Satz 1
AO) und damit gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit
der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG).
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2. Gesetzliche Grundlagen für
Billigkeitsmaßnahmen
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Die rechtlichen Grundlagen für einen
Steuererlass aus Billigkeitsgründen finden sich in den
Vorschriften der §§ 163, 227 AO, auf die sich der sog.
Sanierungserlass ausdrücklich bezieht.
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96
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Nach § 163 Satz 1 AO können Steuern
niedriger festgesetzt werden und einzelne Besteuerungsgrundlagen,
die die Steuern erhöhen, bei der Festsetzung der Steuer
unberücksichtigt bleiben, wenn die Erhebung der Steuer nach
Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. Nach § 227 AO
können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem
Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren
Einziehung nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre; unter
den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete
Beträge erstattet oder angerechnet werden.
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97
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Diese gesetzlichen Ermächtigungen der
Finanzbehörden, das steuerliche Ergebnis im Einzelfall aus
Gründen der Billigkeit zu korrigieren, sind aus der
früher in nur einer Gesetzesvorschrift enthaltenen und nahezu
gleichlautenden Billigkeitsregelung des § 131 der
Reichsabgabenordnung (RAO) hervorgegangen. Wegen der durch die AO
vorgegebenen Trennung von Steuerfestsetzungs- und
Steuererhebungsverfahren finden sich mit dem im Vierten Teil des
Gesetzes enthaltenen § 163 Satz 1 AO und mit dem im
Fünften Teil enthaltenen § 227 AO zwei gleichartige
Vorschriften, die es ermöglichen, die Steuer im Einzelfall
abweichend festzusetzen oder Ansprüche aus dem
Steuerschuldverhältnis zu erlassen, wobei der in § 163
Satz 1 AO verwendete Begriff der „Unbilligkeit“
mit dem in § 227 AO verwendeten identisch ist (BFH-Urteil vom
24.8.2011 I R 87/10, BFH/NV 2012, 161 = SIS 12 00 07). Die
Unbilligkeit der Erhebung der Steuer oder der Einziehung des
Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis kann daher sowohl im
Festsetzungs- als auch im Erhebungsverfahren geltend gemacht werden
und ist dementsprechend in beiden Verfahren zu prüfen.
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98
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a) Die Entscheidung über eine
Billigkeitsmaßnahme ist sowohl im Festsetzungs- als auch im
Erhebungsverfahren eine Ermessensentscheidung der Finanzverwaltung
(§ 5 AO). Allerdings handelt es sich hierbei nicht um ein
voraussetzungsloses Ermessen. Vielmehr setzen die abweichende
Steuerfestsetzung nach § 163 Satz 1 AO und der Erlass nach
§ 227 AO voraus, dass die Erhebung bzw. Einziehung der Steuer
nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. Die Unbilligkeit
der Besteuerung kann sich nach allgemeiner Auffassung aus
persönlichen oder sachlichen Gründen ergeben (vgl. statt
vieler: Klein/Rüsken, a.a.O., § 163 Rz 32, 36).
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99
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aa) Auf eine Vorlage des BVerwG hat der
Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes
(GmS-OGB) mit Beschluss vom 19.10.1971 GmS-OGB 3/70 (BFHE 105, 101,
BStBl II 1972, 603 = SIS 72 03 54) auf die ihm vorgelegte Frage
geantwortet, die nach § 131 Abs. 1 Satz 1 RAO zu treffende
Entscheidung der Finanzbehörde, ob die Einziehung der Steuer
nach Lage des einzelnen Falls unbillig ist, sei eine
Ermessensentscheidung und von den Gerichten nach den für die
Überprüfung von Ermessensentscheidungen geltenden
Grundsätzen zu prüfen. Allerdings rage der Begriff
„unbillig“ in den Ermessensbereich hinein und
bestimme damit zugleich Inhalt und Grenzen der
Ermessensausübung.
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100
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bb) Die Auffassung des GmS-OGB wird in der
Kommentarliteratur zur AO fast einhellig abgelehnt. Frotscher (in
Schwarz, a.a.O., § 163 Rz 35) bezeichnet sie als
fragwürdig, weil der unbestimmte Rechtsbegriff
„Unbilligkeit“ der Rechtsauslegung zugängig
sei. V. Groll sieht die „Unbilligkeit“ als
Tatbestandsvoraussetzung und in § 163 und § 227 AO
jeweils eine Koppelungsvorschrift mit einem unbestimmten
Rechtsbegriff auf der Tatbestands- sowie einer
Ermessensermächtigung auf der Rechtsfolgenseite (in HHSp,
§ 227 AO Rz 110, 115). Dem entspricht die Kommentierung von
Krabbe (in Koch/Scholtz, AO, 5. Aufl., § 227 Rz 8).
Ähnlich formuliert es auch Oellerich (in Beermann/Gosch, AO,
§ 163 Rz 185). Ebenso meint Loose, der unbestimmte
Rechtsbegriff „Unbilligkeit“ sei
Tatbestandsvoraussetzung; auf der Tatbestandsseite könne aber
kein Verwaltungsermessen eingeräumt werden (Tipke/Kruse,
a.a.O., § 227 Rz 22 bis 24). Rüsken teilt die Kritik und
meint im Anschluss an Loose, die Auslegung und Anwendung des
Begriffs „Billigkeit“ seien nicht dem Ermessen
der Finanzbehörde überlassen, sondern Rechtsanwendung
(Klein/Rüsken, a.a.O., § 163 Rz 20). In gleicher Weise
meint v. Wedelstädt, der Begriff „unbillig“
sei ein unbestimmter Rechtsbegriff, der als
Rechtsfolgevoraussetzung Rechtsentscheidung sei und vom Gericht
ohne die Einschränkung des § 102 FGO überprüft
werden könne (in: Kühn/v. Wedelstädt, 21. Aufl., AO,
§ 163 Rz 6). Allein Cöster und Fritsch (beide in Koenig,
Abgabenordnung, 3. Aufl., § 163 Rz 16 bzw. § 227 Rz 11)
geben die vom GmS-OGB vertretene Auffassung unkommentiert
wieder.
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101
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cc) Die vorstehend beschriebenen
unterschiedlichen Auffassungen führen allerdings nicht zu
voneinander abweichenden Ergebnissen. Geht man mit der Formulierung
des GmS-OGB davon aus, dass „der Begriff
‘unbillig’ in den Ermessensbereich hineinragt und damit
zugleich Inhalt und Grenzen der pflichtgemäßen
Ermessensausübung bestimmt“, kann es sich nur um
einen Rechtsbegriff handeln, welcher der Definition bedarf, und
zwar in derselben Weise, wie es bei einem Tatbestandsmerkmal
erforderlich ist. Daher kommt auch der GmS-OGB mit seiner
Entscheidung in BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603 = SIS 72 03 54 zu
dem Schluss, es mache „vom Ergebnis her keinen bedeutsamen
Unterschied“, ob man von einem Tatbestandsmerkmal und
einer Rechtsentscheidung ausgehe oder von einer
Ermessensentscheidung, die auf ihre Vereinbarkeit mit den
Grundsätzen der Billigkeit geprüft werde.
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102
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dd) Dem entspricht die ständige
Rechtsprechung des BFH, der seinen Entscheidungen zu §§
163 und 227 AO stets den Beschluss des GmS-OGB in BFHE 105, 101,
BStBl II 1972, 603 = SIS 72 03 54 zugrunde legt und dementsprechend
davon ausgeht, dass die Entscheidung über eine
Billigkeitsmaßnahme sowohl im Festsetzungs- als auch im
Erhebungsverfahren eine Ermessensentscheidung der Finanzverwaltung
ist, bei der Inhalt und Grenzen des Ermessens durch den Begriff der
Unbilligkeit bestimmt werden (vgl. aus jüngerer Zeit:
BFH-Urteil vom 22.10.2014 II R 4/14, BFHE 247, 170, BStBl II 2015,
237 = SIS 14 32 12), und im Anschluss daran - wie im Schrifttum
zutreffend vermerkt wird (vgl. v. Groll in HHSp, § 227 AO Rz
117; Klein/Rüsken, a.a.O., § 163 Rz 20) - vollen Umfangs
prüft, ob die Besteuerung im jeweiligen Streitfall unbillig
ist. Bescheidungsurteile des BFH sind deshalb auf wenige
Ausnahmefälle, in denen noch sachlicher Klärungsbedarf
gesehen wurde, beschränkt geblieben (BFH-Urteile vom 6.2.1980
II R 7/76, BFHE 130, 186, BStBl II 1980, 363 = SIS 80 02 00; vom
11.7.1996 V R 18/95, BFHE 180, 524, BStBl II 1997, 259 = SIS 96 22 76, und vom 9.7.2003 V R 57/02, BFHE 203, 8, BStBl II 2003, 901 =
SIS 03 45 46).
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103
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Bestätigt der BFH die
Behördenentscheidung und verneint er die Unbilligkeit der
Besteuerung, weist er die Revision des Klägers zurück
oder ändert auf die Revision der Finanzbehörde die
Vorentscheidung (vgl. aus jüngerer Zeit: BFH-Urteile vom
17.4.2013 II R 13/11, BFH/NV 2013, 1383 = SIS 13 21 83; vom
25.9.2013 VII R 7/12, BFH/NV 2014, 7 = SIS 13 32 78; vom 17.12.2013
VII R 8/12, BFHE 244, 184 = SIS 14 08 44; vom 4.6.2014 I R 21/13,
BFHE 246, 130, BStBl II 2015, 293 = SIS 14 25 05; vom 21.1.2015 X R
40/12, BFHE 248, 485, BStBl II 2016, 117 = SIS 15 05 86;
BFH-Beschluss in BFH/NV 2011, 2005 = SIS 11 36 30).
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104
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Bejaht der BFH dagegen die Unbilligkeit der
Besteuerung, kommt er im zweiten Schritt durchweg dazu, eine
Ermessensreduktion auf Null anzunehmen, oder er problematisiert die
Frage des Ermessens nicht und weist entweder die Revision der
Finanzbehörde zurück oder ändert auf die Revision
des Klägers die Vorentscheidung und verpflichtet die
Finanzbehörde zum Erlass (vgl. aus jüngerer Zeit:
BFH-Urteile vom 21.8.2012 IX R 39/10, BFH/NV 2013, 11 = SIS 12 32 75, und in BFHE 247, 170, BStBl II 2015, 237 = SIS 14 32 12).
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105
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ee) In gleicher Weise geht die Rechtsprechung
des BVerwG zu Billigkeitsmaßnahmen gemäß §
163 Abs. 1 Satz 1 oder § 227 AO von einer
uneingeschränkten Überprüfbarkeit des Merkmals der
„Unbilligkeit“ aus. Mit den BVerwG-Urteilen vom
29.9.1982 8 C 48.82 (BStBl II 1984, 236 = SIS 84 11 16) und vom
9.3.1984 8 C 43.82 (HFR 1985, 481) wurde die Entscheidung der
Behörde, die geltend gemachte sachliche Unbilligkeit der
Einziehung der Lohnsummensteuer sei nicht gegeben, voll
überprüft. Mit seinen Urteilen vom 4.6.1982 8 C 90.81
(HFR 1984, 595), 8 C 126.81 (HFR 1984, 594) und 8 C 106.81 (ZKF
1982, 194) hat das BVerwG die sachliche Unbilligkeit der Einziehung
der Grundsteuer in jenen Fällen verneint, ohne den Begriff des
„Ermessens“ zu erwähnen. Ebenso hat das
BVerwG in einem aktuellen Urteil vom 19.2.2015 9 C 10.14 (BVerwGE
151, 255 = SIS 15 13 92) die in jenem Fall geltend gemachte
sachliche Unbilligkeit der Einziehung der Gewerbesteuer eingehend
geprüft und verneint, ohne ein behördliches Ermessen und
eine daraus folgende nur eingeschränkte gerichtliche
Überprüfbarkeit der Behördenentscheidung zu
erwähnen.
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106
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b) Ist somit nach den vorstehend beschriebenen
Rechtsauffassungen in Literatur und Rechtsprechung das in
§§ 163 und 227 AO verwendete Merkmal
„unbillig“ ein im gerichtlichen Verfahren
überprüfbarer Rechtsbegriff oder mit anderen Worten - wie
auch der vorlegende Senat mit Urteil in BFHE 248, 485, BStBl II
2016, 117 = SIS 15 05 86 ausführt - die „gesetzliche
Voraussetzung“ einer Ermessensentscheidung, kommt ein
dieses Merkmal einschließendes behördliches Ermessen
nicht in Betracht und deshalb auch keine durch eine
ermessenslenkende Verwaltungsvorschrift herbeigeführte
Ermessensreduktion auf Null. Wäre die Bejahung oder Verneinung
der Unbilligkeit der Erhebung und Einziehung der Steuer eine
Ermessensentscheidung, läge der Steuererlass gänzlich im
Ermessen der Finanzbehörden, was - wie ausgeführt - mit
dem in § 85 Satz 1 AO steuerrechtlich begründeten
Legalitätsprinzip und dem Grundsatz der
Gesetzmäßigkeit der Verwaltung nicht vereinbar
wäre.
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107
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c) Soweit daher das BMF mit dem sog.
Sanierungserlass die Auffassung vertritt, unter den dort
beschriebenen Voraussetzungen sei die Erhebung der auf einen
Sanierungsgewinn entfallenden Steuer sachlich unbillig i.S. des
§ 163 Abs. 1 Satz 1 und des § 227 AO, handelt es sich um
eine norminterpretierende (nämlich das Merkmal sachlicher
Unbilligkeit konkretisierende) Verwaltungsvorschrift, welche die
gleichmäßige Auslegung und Anwendung des Rechts sichern
soll. Norminterpretierende Verwaltungsvorschriften haben nach
ständiger BFH-Rechtsprechung keine Bindungswirkung im
gerichtlichen Verfahren. Sie stehen unter dem Vorbehalt einer
abweichenden Auslegung der Norm durch die Rechtsprechung, der
allein es obliegt zu entscheiden, ob die Auslegung der Rechtsnorm
durch die Finanzverwaltung im Einzelfall Bestand hat (vgl. dazu aus
jüngerer Zeit: BFH-Urteil vom 16.9.2015 XI R 27/13, BFH/NV
2016, 25 = SIS 16 00 70, m.w.N.).
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108
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d) Nach alledem lässt sich der
Steuererlass in Fällen, in denen die Unbilligkeit der
Besteuerung i.S. der §§ 163 und 227 AO nicht gegeben ist,
auch nicht mit einer durch Verwaltungsvorschrift geschaffenen
Selbstbindung der Finanzverwaltung und einem darauf gestützten
Anspruch des Steuerpflichtigen auf Gleichbehandlung begründen
(so auch Loose in Tipke/Kruse, a.a.O., § 227 AO Rz 55, 62,
128), denn Art. 3 Abs. 1 GG vermittelt - wie ausgeführt - nach
ständiger Rechtsprechung keinen Anspruch auf Anwendung einer
rechtswidrigen Verwaltungspraxis.
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109
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3. Voraussetzungen sachlicher Unbilligkeit
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Für die Prüfung einer auf den sog.
Sanierungserlass gestützten Billigkeitsmaßnahme kommt es
danach allein darauf an, ob sich unter den dort genannten
Voraussetzungen die sachliche Unbilligkeit der auf einen
Sanierungsgewinn entfallenden Steuer bejahen lässt. Das ist
jedoch nicht der Fall.
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111
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Die Voraussetzungen sachlicher Unbilligkeit
der Besteuerung, um die es sowohl im Streitfall als auch im sog.
Sanierungserlass allein geht, sind durch eine langjährige
höchstrichterliche Rechtsprechung definiert worden, mit der
sich der sog. Sanierungserlass nicht auseinandersetzt.
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112
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a) Eine sachliche Billigkeitsmaßnahme
stellt immer auf den Einzelfall ab und ist atypischen
Ausnahmefällen vorbehalten. Das bedeutet zwar nicht, dass sie
allein für singulär auftretende Fälle vorgesehen
ist; sie kann vielmehr auch in durch besondere
Ausnahmevoraussetzungen gekennzeichneten Fallgruppen gewährt
werden. Die Voraussetzungen einer Billigkeitsmaßnahme sind
aber im Fall einer solchen Gruppenregelung dieselben wie bei einer
Einzelfallentscheidung der Finanzbehörde: Die Erhebung oder
Einziehung muss gemäß § 163 Satz 1 und § 227
AO „nach Lage des einzelnen Falls“ unbillig
sein. Eine Gruppe gleichgelagerter Einzelfälle kann daher mit
dem Ziel einer einheitlichen Behandlung zusammenfassend beurteilt
werden, doch müssen hinsichtlich all dieser Einzelfälle
die Voraussetzungen der sachlichen Unbilligkeit vorliegen
(BFH-Urteile vom 9.7.1970 IV R 34/69, BFHE 99, 448, BStBl II 1970,
696 = SIS 70 03 82, und vom 25.11.1980 VII R 17/78, BFHE 132, 159,
BStBl II 1981, 204 = SIS 81 25 23). Typisierende
Billigkeitsregelungen in Gestalt subsumierbarer Tatbestände
kommen deshalb nicht in Betracht; sie können allein
Bestandteil einer gesetzlichen Regelung sein (Frotscher in Schwarz,
a.a.O., § 163 Rz 32; Klein/Rüsken, a.a.O., § 163 Rz
6 f.).
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113
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Billigkeitsmaßnahmen dienen der
Anpassung des steuerrechtlichen Ergebnisses an die Besonderheiten
des Einzelfalls, um Rechtsfolgen auszugleichen, die das Ziel der
typisierenden gesetzlichen Vorschrift verfehlen und deshalb
ungerecht erscheinen. Sie gleichen Härten im Einzelfall aus,
die der steuerrechtlichen Wertentscheidung des Gesetzgebers nicht
entsprechen und damit zu einem vom Gesetzgeber nicht gewollten
Ergebnis führen (vgl. die Nachweise in Klein/Rüsken,
a.a.O., § 163 Rz 32). Gründe außerhalb des
Steuerrechts wie z.B. wirtschafts-, arbeits-, sozial- oder
kulturpolitische Gründe können einen Billigkeitsentscheid
somit nicht rechtfertigen (BFH-Urteile vom 19.1.1965 VII 22/62 S,
BFHE 81, 572, BStBl III 1965, 206 = SIS 65 01 23, und in BFHE 99,
448, BStBl II 1970, 696 = SIS 70 03 82).
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114
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aa) Soweit der vorlegende Senat sowie Stimmen
im Schrifttum Fälle eines durch Forderungsverzicht
entstandenen Sanierungsgewinns für im vorgenannten Sinn
atypische Einzelfälle halten, weil der Sanierungsgewinn nicht
zu einem Liquiditätszufluss oder einem Zuwachs an
Leistungsfähigkeit führe (Seer, FR 2014, 721, 727;
Buschendorf/Vogel, DB 2016, 676, 679; ebenso Rz 62 des
Vorlagebeschlusses in BFHE 249, 299, BStBl II 2015, 696 = SIS 15 12 88), folgt der Große Senat dieser Ansicht nicht.
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Ein aus betrieblichen Gründen
erklärter Verzicht auf eine betriebliche Darlehensforderung
ist - ungeachtet der Art der Gewinnermittlung und ungeachtet
dessen, ob sie mit der Erhöhung der Liquidität oder der
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verbunden ist - als
Betriebseinnahme zu erfassen (§ 4 Abs. 1 und 3 EStG; ggf.
i.V.m. § 5 Abs. 1 EStG und § 8 Abs. 1 KStG); auch handelt
es sich hierbei nicht um eine atypische, vom Gesetzgeber nicht
gewollte Gewinnerhöhung oder Verlustminderung. Vielmehr zeigt
sich gerade im Fall der Gewinnermittlung durch
Betriebsvermögensvergleich (§ 4 Abs. 1 EStG), dass die
Besteuerung des durch einen solchen Forderungsverzicht entstandenen
Gewinns die notwendige Folge der gesetzlich vorgegebenen
Gewinnermittlungsart ist. Letztere umfasst die Forderungen und
Verbindlichkeiten als Teil des positiven und negativen
Betriebsvermögens mit der Folge, dass der mit dem
Forderungsverzicht des Gläubigers ausgelöste und
betrieblich veranlasste Wegfall der Schuld das Nettovermögen
des Schuldners mehrt und damit seinen Gewinn sowie die hierdurch
ausgedrückte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit
erhöht. Hierbei ist unerheblich, dass der Forderungsverzicht
als solcher die Liquidität des begünstigten Unternehmers
nicht (unmittelbar) erhöht. Demgemäß ist es auch
ausgeschlossen, eine hierauf beruhende Besteuerung als ungewollte
und „überschießende“ Folge einer
typisierenden gesetzlichen Regelung zu qualifizieren.
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116
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Darüber hinaus trifft es nicht zu, dass
der durch den Forderungsverzicht eines Gläubigers entstandene
Gewinn nur bilanzieller Natur und nicht mit einer Steigerung der
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verbunden ist. Vielmehr
ist eine solche Steigerung auf Seiten des Steuerpflichtigen
faktisch bereits mit der ursprünglichen Leistung des
Gläubigers eingetreten, die allerdings wegen des bilanziellen
Ausweises einer Verbindlichkeit zunächst gewinnneutral blieb,
weshalb nunmehr, nachdem der Steuerpflichtige die Leistung wegen
des Forderungsverzichts endgültig behält, die
frühere Steigerung seiner Leistungsfähigkeit in Gestalt
einer Gewinnerhöhung ertragsteuerlich zu berücksichtigen
ist.
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117
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bb) Dies ist auch nicht anders zu beurteilen,
wenn der Forderungsverzicht in Sanierungsabsicht erklärt wird.
Der in der Literatur vertretenen Ansicht, der einem wirtschaftlich
notleidenden Unternehmen in Sanierungsabsicht gewährte
Schuldenerlass verhindere lediglich den endgültigen
Zusammenbruch des Unternehmens und führe daher nicht zu einem
Zuwachs an Leistungsfähigkeit (Seer, FR 2014, 721, 727; Krumm,
DB 2015, 2714; Buschendorf/Vogel, DB 2016, 676, 679 ff.;
Gondert/Büttner, Steuerbefreiung von Sanierungsgewinnen, DStR
2008, 1676), ist nicht zu folgen. Vielmehr verfolgt gerade der in
Sanierungsabsicht gewährte Schuldenerlass den Zweck, dem
angeschlagenen Unternehmen durch Steigerung seiner
Leistungsfähigkeit wieder aufzuhelfen, indem z.B.
erwirtschaftete Erträge nicht mehr für den Schuldendienst
verwendet werden müssen, sondern für notwendige
Investitionen verbleiben. Könnte hingegen ein seitens der
Gläubiger gewährter Schuldenerlass nichts an der
mangelnden Leistungsfähigkeit und der prekären
Liquidität des in wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckenden
Unternehmens ändern, fehlte es schon an der Sanierungseignung
des Forderungsverzichts, die der sog. Sanierungserlass (im
Anschluss an die frühere BFH-Rechtsprechung zu § 3 Nr. 66
EStG a.F.) nach wie vor fordert. Unbeschadet der vorstehend unter
aa) aufgeführten Gründe ist daher gerade im Fall eines in
Sanierungsabsicht gewährten und für die Sanierung
geeigneten Schuldenerlasses eine Steigerung der
Leistungsfähigkeit des nunmehr ganz oder teilweise
entschuldeten Unternehmens bereits mit dem Fortfall der
Verbindlichkeit zu bejahen.
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118
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Soweit gleichwohl in Fällen eines in
Sanierungsabsicht erklärten Forderungsverzichts die
steuerliche Begünstigung des auf Seiten des Steuerpflichtigen
entstehenden Gewinns für erforderlich gehalten wird, um die
beabsichtigte (und für erstrebenswert erachtete) Sanierung
eines notleidenden Unternehmens nicht zu hindern und die
Gläubiger nicht vom Verzicht auf ihre Forderungen abzuhalten
(vgl. statt vieler: Krumm, DB 2015, 2714, 2715;
Gondert/Büttner, DStR 2008, 1676; Fritsche, Die Streichung von
§ 3 Nr. 66 EStG ..., DStR 2000, 2171, 2172; vgl. auch Groh, DB
1996, 1890; Kroschel, DStR 1999, 1383; s.a. Rz 72 des
Vorlagebeschlusses in BFHE 249, 299, BStBl II 2015, 696 = SIS 15 12 88), liegen diese wirtschafts-, ggf. auch arbeitsmarktpolitischen
Gründe außerhalb des Steuerrechts und können - wie
ausgeführt - keine Billigkeitsmaßnahme
rechtfertigen.
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119
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Dass die Besteuerung des Sanierungsgewinns
für das betroffene Unternehmen problematisch ist, weil der
durch den Forderungsverzicht gewonnene wirtschaftliche Spielraum
wieder eingeengt wird und die steuerliche Belastung das Unternehmen
„zur Unzeit“ trifft (so Krumm, DB 2015, 2714,
2715), führt ebenfalls nicht zu sachlicher Unbilligkeit, denn
sachliche Gründe für eine Billigkeitsentscheidung sind
unabhängig von den wirtschaftlichen Verhältnissen des
Steuerpflichtigen zu beurteilen (BFH-Urteil vom 30.8.1963 III
112/60 U, BFHE 77, 522, BStBl III 1963, 511 = SIS 63 03 30). Die
Pflicht der Finanzverwaltung, Steueransprüche durchzusetzen,
ist nicht schon deshalb sachlich unbillig, weil sie zu einer
erheblichen wirtschaftlichen Beeinträchtigung des
Steuerschuldners führt (BFH-Urteil vom 26.10.2011 VII R 50/10,
BFH/NV 2012, 552 = SIS 12 06 61).
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cc) Darüber hinaus sieht der sog.
Sanierungserlass, soweit er gleichwohl Billigkeitsmaßnahmen
nach §§ 163 und 227 AO für Sanierungsgewinne
anordnet, keine Einzelfallprüfung vor, sondern enthält
typisierende Regelungen, welche die sachliche Unbilligkeit unter
den dort beschriebenen Voraussetzungen ohne Rücksicht auf die
Höhe des Sanierungsgewinns und der darauf entfallenden Steuer
sowie ungeachtet einer zu befürchtenden Gefährdung der
Unternehmenssanierung als gegeben unterstellen.
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121
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Gerade bei der vom sog. Sanierungserlass unter
Nr. III geforderten vorrangigen Verlustverrechnung kann der nach
Verrechnung verbleibende Sanierungsgewinn so gering sein, dass
seine Besteuerung eine Gefährdung der Unternehmenssanierung
nicht befürchten lässt. Gleichwohl gewährt der sog.
Sanierungserlass in jedem Fall eines verbleibenden
Sanierungsgewinns den Steuererlass. Die auch in Fällen sog.
Gruppenunbilligkeit erforderliche Prüfung der Unbilligkeit im
Einzelfall (vgl. BFH-Urteil in BFHE 99, 448, BStBl II 1970, 696 =
SIS 70 03 82) unterbleibt.
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122
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Eine weitere Typisierung enthält das
BMF-Schreiben in BStBl I 2003, 240 = SIS 03 19 23, unter Nr. II,
soweit die geforderten Voraussetzungen eines Sanierungsgewinns
(Sanierungsbedürftigkeit und -fähigkeit des Unternehmens,
Sanierungseignung des Schuldenerlasses und Sanierungsabsicht der
Gläubiger) als gegeben angesehen werden, wenn ein
Sanierungsplan vorliegt. Diese Typisierung geht auf die (bereits
dargestellte) frühere BFH-Rechtsprechung zu § 3 Nr. 66
EStG a.F. zurück. Im Rahmen der damaligen gesetzlichen
Regelung war sie zulässig; im Rahmen eines Steuererlasses aus
Billigkeitsgründen ist sie es nicht.
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b) Da eine Regelung, die der Gesetzgeber
abstrakt hätte treffen können, nicht Gegenstand von
Billigkeitsmaßnahmen sein kann (BFH-Urteil in BFHE 99, 448,
BStBl II 1970, 696 = SIS 70 03 82), spricht gegen die mit dem sog.
Sanierungserlass angenommene sachliche Unbilligkeit des Weiteren,
dass die Steuerfreiheit eines Sanierungsgewinns über viele
Jahre hinweg - zunächst im KStG, dann im EStG - auf einer
gesetzlichen Regelung beruhte.
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Vor allem aber kam mit der Aufhebung des
§ 3 Nr. 66 EStG a.F. der Wille des Gesetzgebers klar und
deutlich zum Ausdruck, Sanierungsgewinne künftig nicht mehr
steuerlich zu privilegieren. Ein Sanierungsgewinn ist danach
steuerlich genauso zu behandeln wie jeder andere durch
Vermögensvergleich ermittelte Gewinn. Damit sind
Billigkeitsmaßnahmen in Einzelfällen nicht von
vornherein ausgeschlossen (wie die Vorinstanz mit Urteil in EFG
2013, 1898 = SIS 13 29 30 und das FG München mit Urteil in EFG
2008, 615 = SIS 08 12 84 möglicherweise meinen), sondern
kommen in Fällen sachlicher Unbilligkeit durchaus in Betracht.
Dementsprechend heißt es in der Gesetzesbegründung zur
Aufhebung von § 3 Nr. 66 EStG a.F. abschließend (vgl.
BTDrucks 13/7480, 192): „Einzelnen persönlichen oder
sachlichen Härtefällen kann im Stundungs- oder Erlasswege
begegnet werden.“
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Gleichwohl lässt sich nicht annehmen,
gerade diejenigen Voraussetzungen, die bisher nach
langjähriger höchstrichterlicher Rechtsprechung zur
Steuerfreiheit des Sanierungsgewinns führten
(Sanierungsbedürftigkeit des Unternehmens, Forderungsverzicht
der Gläubiger in Sanierungsabsicht sowie Sanierungseignung des
Forderungsverzichts) und die dem Gesetzgeber bei Aufhebung des
§ 3 Nr. 66 EStG a.F. bekannt waren, könnten nach
Aufhebung dieser Vorschrift die sachliche Unbilligkeit der
Besteuerung eines Sanierungsgewinns begründen. So hat auch der
vorlegende Senat mit Urteil in BFHE 229, 502, BStBl II 2010, 916 =
SIS 10 22 93 sowie mit Beschluss vom 8.6.2011 X B 209/10 (BFH/NV
2011, 1828 = SIS 11 32 89) zu Recht entschieden,
Billigkeitsmaßnahmen könnten nicht nach den Kriterien
einer Vorschrift beurteilt werden, die der Gesetzgeber bewusst
aufgehoben habe.
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c) Auch die nunmehr zusätzlich neben die
früheren Voraussetzungen der Steuerfreiheit nach § 3 Nr.
66 EStG a.F. tretenden Bedingungen, die der sog. Sanierungserlass
stellt, können den Steuererlass aus Billigkeitsgründen
nicht rechtfertigen.
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aa) Soweit auf die vom sog. Sanierungserlass
unter III. geforderte vorrangige und vollständige Verrechnung
des Sanierungsgewinns mit Verlustvorträgen und negativen
Einkünften verwiesen und vertreten wird, jedenfalls die
Besteuerung eines solchen, nicht mehr durch Verlustverrechnung
reduzierbaren Sanierungsgewinns sei als sachlich unbillig
anzusehen, weil der zur Zeit der Aufhebung des § 3 Nr. 66 EStG
a.F. unbegrenzt mögliche Verlustvortrag mittlerweile durch
§ 10d Abs. 2 EStG in Gestalt einer sog. Mindestbesteuerung
wieder beschränkt worden sei (Krumm, DB 2015, 2714, 2716;
Seer, FR 2014, 721, 727; Vorlagebeschluss in BFHE 249, 299, BStBl
II 2015, 696 = SIS 15 12 88, Rz 65), folgt der Große Senat
dieser Auffassung aus mehreren Gründen nicht.
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(1) Die Annahme, die Besteuerung eines nach
vollständiger Verlustverrechnung verbleibenden
Sanierungsgewinns laufe den Wertungen des Gesetzgebers zuwider,
weil nach der Begründung des Entwurfs eines
Steuerreformgesetzes 1999 der CDU/CSU- und FDP-Fraktion (BTDrucks
13/7480, 192) mit der Aufhebung des § 3 Nr. 66 EStG a.F.
allein eine sog. „Doppelbegünstigung“
(Steuerbegünstigung des Sanierungsgewinns bei zugleich
unbegrenzt möglichem Verlustvortrag) habe vermieden werden
sollen (vgl. z.B. Krumm, DB 2015, 2714, 2716; Gondert/Büttner,
DStR 2008, 1676; Braun/Geist, Zur Steuerfreiheit von
Sanierungsgewinnen, BB 2009, 2508; Vorlagebeschluss in BFHE 249,
299, BStBl II 2015, 696 = SIS 15 12 88, Rz 60, 61, 65), trifft
nicht zu. Vielmehr waren nach der Begründung des vorgenannten
Gesetzentwurfs mehrere Motive für die Aufhebung des § 3
Nr. 66 EStG a.F. ausschlaggebend, wobei an erster Stelle
hervorgehoben wurde, dass die Bemessungsgrundlage zu verbreitern
und Steuervergünstigungen abzuschaffen seien und dass die
Steuerfreiheit des Sanierungsgewinns nach den Grundprinzipien des
Einkommensteuerrechts systemwidrig sei, da der durch den Erlass der
Verbindlichkeiten entstehende Gewinn entgegen den allgemeinen
ertragsteuerlichen Regeln nicht besteuert werde. Anschließend
wurde in der Begründung zwar auf den seinerzeit unbegrenzt
möglichen Verlustvortrag verwiesen, daneben aber auch das
Motiv der Steuervereinfachung genannt (vgl. BTDrucks 13/7480, 192).
Dass darüber hinaus die Generierung eines höheren
Steueraufkommens ein weiteres zentrales Motiv für die
Streichung der Steuervergünstigung war, zeigt die damalige
Schätzung der finanziellen Auswirkungen, in der die durch die
Aufhebung des § 3 Nr. 66 EStG a.F. veranschlagten
Mehreinnahmen für das Jahr 2001 mit 42 Mio. DM ausgewiesen
wurden (BTDrucks 13/7480, 165; s.a. Bericht des Finanzausschusses
vom 24.6.1997, BTDrucks 13/8023, 43). Der Vorschlag, § 3 Nr.
66 EStG a.F. aufzuheben, wurde schließlich vorgezogen und zur
Gegenfinanzierung der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer in das
Gesetz zur Fortsetzung der Unternehmenssteuerreform vom 29.10.1997
aufgenommen.
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Es ist nicht zulässig, aus diesem
Bündel gesetzgeberischer Motive für die Aufhebung des
§ 3 Nr. 66 EStG a.F. allein die Vermeidung einer sog.
„Doppelbegünstigung“ herauszulösen und
als Begründung für eine angebliche sachliche Unbilligkeit
der Besteuerung für solche Fälle zu verwenden, in denen
Sanierungsgewinne trotz Verrechnung mit Verlusten verbleiben. Damit
blieben zum einen die übrigen Motive des Gesetzgebers und
infolgedessen zum anderen die ständige Rechtsprechung des BFH
sowie des BVerwG unbeachtet, der zufolge eine steuerliche
Belastung, die der Wertentscheidung des Gesetzgebers entspricht,
weil er sie auch in Anbetracht der Umstände des betreffenden
Einzelfalls in Kauf genommen hat, grundsätzlich hinzunehmen
ist und nicht durch eine Billigkeitsmaßnahme beseitigt werden
kann (BFH-Urteile vom 5.10.1966 II 111/64, BFHE 88, 382, BStBl III
1967, 415 = SIS 67 02 74; vom 26.4.1979 V R 67/74, BFHE 127, 556,
BStBl II 1979, 539 = SIS 79 02 69; vom 4.2.2010 II R 25/08, BFHE
228, 130, BStBl II 2010, 663 = SIS 10 09 17, und vom 20.9.2012 IV R
29/10, BFHE 238, 518, BStBl II 2013, 505 = SIS 12 32 50, jeweils
m.w.N.; BVerwG-Urteile in HFR 1984, 595, und in HFR 1985, 481).
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(2) Darüber hinaus gibt es im Hinblick
auf die Zeitpunkte weder der Aufhebung des § 3 Nr. 66 EStG
a.F. noch der Aufnahme einer Mindestbesteuerung in § 10d EStG
Anhaltspunkte für die Annahme, der Gesetzgeber habe seinerzeit
die Möglichkeit auch nach Verlustverrechnung gleichwohl
verbleibender Sanierungsgewinne übersehen. Schon unter der
Geltung sowohl des § 11 Nr. 4 KStG a.F. als auch des § 3
Nr. 66 EStG a.F. gab es nämlich bis zum Beschluss des
Großen Senats in BFHE 93, 75, BStBl II 1968, 666 = SIS 68 04 55 eine langjährige BFH-Rechtsprechung, der zufolge nur nach
Verlustverrechnung verbleibende Sanierungsgewinne steuerlich
begünstigt waren. Diese Rechtsprechung kann nicht
übersehen worden sein.
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Jedenfalls hätte mit der Neufassung des
§ 10d EStG das Problem trotz Verlustverrechnung verbleibender
Sanierungsgewinne wieder in den Blick rücken müssen, denn
spätestens zu jenem Zeitpunkt war klar, dass sich die bei
Aufhebung des § 3 Nr. 66 EStG a.F. gegebene Möglichkeit
eines uneingeschränkten Verlustvortrags geändert hatte
und es vermehrt zu nicht verrechenbaren Sanierungsgewinnen kommen
könnte. Gleichwohl wurden keine Sonderreglungen für
Sanierungsgewinne geschaffen.
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(3) Ob hierin zu Recht ein Versäumnis
oder ein widersprüchliches Verhalten des Gesetzgebers gesehen
wird (vgl. insoweit die Stellungnahme des beigetretenen BMF; ebenso
Seer, FR 2010, 306, 308; Braun/Geist, BB 2009, 2508), bedarf keiner
Entscheidung. Jedenfalls war und ist es vor dem Hintergrund einer
nunmehr wieder beschränkten Verlustverrechnung allein Sache
des Gesetzgebers, die aufgehobene Privilegierung von
Sanierungsgewinnen neu zu überdenken. Es liegt hingegen nicht
in der Kompetenz der Finanzverwaltung, vermeintlich
unschlüssige Gesetzesänderungen durch
Billigkeitsmaßnahmen zu korrigieren.
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133
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(4) Darüber hinaus wird ein den
Billigkeitsvorschriften der §§ 163, 227 AO fremdes Motiv
deutlich, soweit der sog. Sanierungserlass die vorrangige
umfassende Verlustverrechnung sowie bei später auftretenden
Verlusten den Verlustrücktrag zwingend vorsieht und für
den Fall eines hiervon abweichenden Verhaltens des
Steuerpflichtigen die Rücknahme seines Erlassantrags fingiert
(Nr. III Abs. 2 des BMF-Schreibens in BStBl I 2003, 240 = SIS 03 19 23), denn die sachliche Unbilligkeit der Besteuerung folgt - wie
ausgeführt - aus dem den Sinn und Zweck einer
steuerrechtlichen Vorschrift verfehlenden Ergebnis in einem
atypischen Einzelfall und kann nicht - wie es der sog.
Sanierungserlass vorsieht - von bestimmten dem Steuerpflichtigen
abverlangten Handlungen und der Wahrnehmung anderer
Möglichkeiten des Steuersparens abhängig sein.
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Dies gilt umso mehr, als der sog.
Sanierungserlass diese Maßnahmen zum Teil ohne Rücksicht
auf entgegenstehende gesetzliche Verrechnungsbeschränkungen
verlangt, was von Stimmen in der Literatur als „schlicht
rechtswidrig“ bezeichnet wird (Janssen, Erlass von
Steuern auf Sanierungsgewinne, DStR 2003, 1055; kritisch auch
Siebert/Lickert, Handels- und steuerrechtliche Behandlung eines
Forderungsverzichts mit Besserungsschein und eines
Rangrücktritts bei der GmbH, online-Dokument, S. 19). Daran
zeigt sich, dass es beim sog. Sanierungserlass nicht um die
Abwendung steuerlicher Unbilligkeit i.S. der §§ 163, 227
AO geht, sondern ein anderes Ziel verfolgt wird, nämlich die
steuerliche Subventionierung der Sanierung notleidender
Unternehmen. Eine solche Subvention kann von bestimmten Bedingungen
wie der vorrangigen totalen Verlustverrechnung abhängig
gemacht werden. Billigkeitsmaßnahmen mit solchen Bedingungen
zu verknüpfen, kommt hingegen nicht in Betracht.
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bb) Auch soweit der sog. Sanierungserlass
unter Nr. I.1. nur unternehmensbezogene, nicht aber
unternehmerbezogene Billigkeitsmaßnahmen vorsieht,
unterscheidet er sich zwar von der früheren Rechtslage unter
der Geltung des § 3 Nr. 66 EStG a.F. Jedoch lässt sich
auch hieraus kein die sachliche Unbilligkeit der Besteuerung
rechtfertigender Grund herleiten. Vielmehr spricht gerade diese
Voraussetzung gegen die im sog. Sanierungserlass liegende
Billigkeitsregelung, denn es kann unter Annahme sachlicher
Unbilligkeit der Erhebung oder Einziehung einer Steuer keinen
Unterschied machen, wem die sich daraus ergebende
Billigkeitsmaßnahme zugutekommt. Erweist sich die Besteuerung
im Einzelfall als sachlich unbillig, sind die Voraussetzungen
für einen Billigkeitserlass unabhängig davon gegeben, ob
das Unternehmen oder der Unternehmer von diesem profitiert.
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Gerade diese Beschränkung des
Billigkeitserlasses auf das betroffene Unternehmen, indem der sog.
Sanierungserlass (von einem Ausnahmefall abgesehen) verlangt, dass
das Unternehmen fortgeführt wird (Nr. I.2. des BMF-Schreibens
in BStBl I 2003, 240 = SIS 03 19 23), zeigt wiederum deutlich, dass
es nicht um steuerliche Unbilligkeit geht, sondern um das
wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Ziel, die Sanierung eines
wirtschaftlich notleidenden Unternehmens nicht zu erschweren und
Arbeitsplätze zu erhalten (so auch Bareis/Kaiser, DB 2004,
1841; Hoffmann-Theinert/Häublein, a.a.O.). Ob es aber mit
Blick auf wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Ziele geboten
ist, sich seitens des Fiskus daran zu beteiligen, Unternehmen vor
dem finanziellen Zusammenbruch zu bewahren und wieder
ertragfähig zu machen, ist keine Entscheidung, welche die
Finanzverwaltung ohne gesetzliche Grundlage im Wege eines Erlasses
treffen kann. Diese politische Entscheidung obliegt dem
Gesetzgeber.
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cc) Sind nach alledem die neben die Erzielung
eines Sanierungsgewinns tretenden Bedingungen, die der sog.
Sanierungserlass für einen Billigkeitserlass zusätzlich
fordert, nicht geeignet, die sachliche Unbilligkeit der Besteuerung
zu begründen, verbleibt die Feststellung, dass die
Finanzverwaltung mit dem sog. Sanierungserlass, der sowohl in
inhaltlicher als auch zeitlicher Hinsicht ausdrücklich an die
Aufhebung des § 3 Nr. 66 EStG a.F. anknüpft (Nr. IV des
BMF-Schreibens in BStBl I 2003, 240 = SIS 03 19 23), die vom
Gesetzgeber aufgehobene Steuerbefreiung für Sanierungsgewinne
jedenfalls im Ergebnis durch Verwaltungsvorschrift wieder
eingeführt hat. Darin liegt ein Verstoß gegen den
Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (vgl. dazu:
BVerfG-Beschluss in BVerfGE 40, 237).
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d) Daran ändert auch die im sog.
Sanierungserlass unter Nr. III Abs. 1 vertretene Ansicht des BMF
nichts, die Besteuerung von Sanierungsgewinnen nach Aufhebung des
§ 3 Nr. 66 EStG a.F. sei sachlich unbillig, weil sie mit den
Zielen der InsO in Konflikt stehe (so auch statt vieler: Kahlert,
FR 2014, 731, 733; ebenso Rz 71 des Vorlagebeschlusses in BFHE 249,
299, BStBl II 2015, 696 = SIS 15 12 88).
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aa) Das mit der InsO verfolgte Ziel,
insolvente Unternehmen zu erhalten und die außergerichtliche
Sanierung zu fördern, zwingt nicht zu der Folgerung, der
Fiskus habe sich mit Steuersubventionen an Sanierungen zu
beteiligen. Im Übrigen waren dem Gesetzgeber im Zeitpunkt der
Aufhebung des § 3 Nr. 66 EStG a.F. im Jahr 1997 die
Vorschriften der InsO und ihre Ziele bekannt, denn die InsO ist
zwar erst am 1.1.1999 in Kraft getreten (Art. 110 Abs. 1 des
Einführungsgesetzes zur Insolvenzordnung vom 5.10.1994, BGBl I
1994, 2911), war jedoch bereits 1994 verabschiedet und im BGBl I
1994, 2866 verkündet worden. Wenn aber der Gesetzgeber die
Steuerbefreiung von Sanierungsgewinnen gemäß § 3
Nr. 66 EStG a.F. in Kenntnis des neuen Insolvenzrechts beseitigte,
ist anzunehmen, dass er dessen Regelungen für ausreichend
hielt, die Sanierung insolventer Unternehmen zu fördern.
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140
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bb) Darüber hinaus kann auch bei Annahme
eines gesetzgeberischen Zielkonflikts, wie er im sog.
Sanierungserlass beschrieben ist, nicht angenommen werden, er
könne durch Billigkeitsmaßnahmen der Finanzverwaltung
gelöst werden. Lassen sich gesetzgeberische Ziele nicht
miteinander vereinbaren, kommen regelmäßig mehrere
Möglichkeiten der Konfliktlösung in Betracht. Die
Entscheidung, welcher Weg der Konfliktlösung zu beschreiten
und welchem Ziel der Vorrang einzuräumen ist, ist allein vom
Gesetzgeber zu treffen und kann nicht Gegenstand einer
Verwaltungsvorschrift sein. Wenn in diesem Zusammenhang im
Schrifttum zustimmend vermerkt wird, das BMF habe mit dem sog.
Sanierungserlass den Zielkonflikt zugunsten der InsO gelöst
(vgl. Kahlert, FR 2014, 731, 733), fehlt die Auseinandersetzung mit
der Frage, ob diese Art der Konfliktlösung in der Kompetenz
der Finanzverwaltung liegt.
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e) Liegen somit in Fällen durch
Schuldenerlass erzielter Sanierungsgewinne, wie sie der sog.
Sanierungserlass beschreibt, die Voraussetzungen sachlicher
Unbilligkeit i.S. der §§ 163, 227 AO nicht vor,
lässt sich der nach dem BMF-Schreiben in BStBl I 2003, 240 =
SIS 03 19 23 vorgesehene Steuererlass aus Billigkeitsgründen
auch nicht mit dem Vorbringen des dem Streitfall beigetretenen BMF
rechtfertigen, solche Billigkeitsmaßnahmen entsprächen
dem mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers, weil in
verschiedenen Begründungen zu Gesetzentwürfen
Billigkeitsmaßnahmen im Allgemeinen oder der sog.
Sanierungserlass im Besonderen erwähnt würden (vgl.
insoweit auch: Frotscher in Schwarz, a.a.O., § 163 Rz 132;
HHR/Musil, § 4 EStG Rz 134; Kanzler, FR 2008, 1116, 1117;
Geist, Die Besteuerung von Sanierungsgewinnen, BB 2008, 2658;
Gondert/Büttner, DStR 2008, 1676;
Hoffmann-Theinert/Häublein, a.a.O.; Buschendorf/Vogel, DB
2016, 676, 679 ff.; s.a. Rz 66 des Vorlagebeschlusses in BFHE 249,
299, BStBl II 2015, 696 = SIS 15 12 88).
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142
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Diesen Auffassungen, die sich auf den Entwurf
eines Unternehmensteuerreformgesetzes der Fraktionen der CDU/CSU
und SPD vom 27.3.2007 (BTDrucks 16/4841, 76), auf die Empfehlungen
der Ausschüsse zum Bürgerentlastungsgesetz
Krankenversicherung vom 23.3.2009 (BRDrucks 168/1/09, 33) und die
diesbezügliche Stellungnahme des Bundesrates vom 22.4.2009
(BTDrucks 16/12674, 10) stützen, in denen
Billigkeitsmaßnahmen bzw. die Möglichkeit der
Steuerbefreiung von Sanierungsgewinnen gemäß dem sog.
Sanierungserlass des BMF erwähnt werden, folgt der Große
Senat nicht.
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143
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Zum einen sind derartige Äußerungen
in deutlich späteren Begründungen zu Gesetzentwürfen
von Parlamentsfraktionen oder in Stellungnahmen von
Ausschüssen nicht geeignet, auf einen mutmaßlichen
Willen des historischen Gesetzgebers zu schließen. Zum
anderen ist der verfassungsrechtliche Aspekt des insbesondere im
Steuerrecht geltenden Legalitätsprinzips zu beachten:
Bedürfen Steuervergünstigungen für Sanierungsgewinne
einer gesetzlichen Regelung, weil das Tatbestandsmerkmal sachlicher
Unbilligkeit der §§ 163, 227 AO, auf das sich der sog.
Sanierungserlass stützt, nicht vorliegt, ist es ohne
Bedeutung, ob sich in bestimmten Gesetzesmaterialien Hinweise
finden, dass der Gesetzgeber den sog. Sanierungserlass
stillschweigend oder konkludent billigt. Die notwendige, aber
fehlende rechtliche Grundlage für eine steuerrechtliche
Begünstigung von Sanierungsgewinnen kann nicht durch die
Erwägung ersetzt werden, dass der Gesetzgeber in Anbetracht
einer vorhandenen Problemlösung durch Verwaltungsvorschrift
keinen Anlass sieht, tätig zu werden.
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144
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4. Zusammenfassung und Ergebnis
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145
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Das von der Finanzverwaltung und von Teilen
der Rechtsprechung sowie des Schrifttums als richtig erkannte Ziel,
Sanierungsgewinne generell, jedenfalls aber nachdem sie mit
Verlusten verrechnet worden sind, nicht zu besteuern, lässt
sich mit einem Billigkeitserlass nach § 163 Satz 1 oder §
227 AO nicht erreichen. Die nach der BFH-Rechtsprechung für
das Merkmal sachlicher Unbilligkeit maßgebenden Kriterien
rechtfertigen keine Billigkeitsmaßnahmen für die im sog.
Sanierungserlass beschriebenen Fälle. Auf besondere,
außerhalb des sog. Sanierungserlasses liegende Gründe
des Einzelfalls, insbesondere auf persönliche
Billigkeitsgründe gestützte Billigkeitsmaßnahmen
bleiben allerdings unberührt.
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146
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Der sog. Sanierungserlass gewährt in
wirtschaftlichen Schwierigkeiten befindlichen Unternehmen eine
steuerliche Begünstigung, die durch den Umstand veranlasst
wird, dass die Gläubiger mit ihrem Forderungsverzicht zu
erkennen gegeben haben, dass sie die Unternehmenssanierung für
erforderlich und die ergriffenen Maßnahmen für
erfolgversprechend halten. Das Bedürfnis für eine solche
Begünstigung wird aus dem wirtschafts- und
arbeitsmarktpolitischen Interesse am Erfolg der eingeleiteten
Unternehmenssanierung hergeleitet. Ob sich der Fiskus in Anbetracht
eines solchen Interesses an der Sanierung von Unternehmen beteiligt
und in welcher Weise er dies tut, d.h. welche der verschiedenen in
Betracht kommenden steuerlichen Erleichterungen für
Sanierungsgewinne gewährt werden (vgl. zu unterschiedlichen
gesetzlichen Lösungen in anderen Ländern: Maus, ZIP 2002,
589), ist eine allein dem Gesetzgeber obliegende politische
Entscheidung.
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147
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Indem das BMF durch sein Schreiben vom
27.3.2003 (BStBl I 2003, 240 = SIS 03 19 23) mit im Rahmen von
Billigkeitsmaßnahmen nicht zulässigen typisierenden
Regelungen die vom Gesetzgeber aufgehobene Steuerbegünstigung
von Sanierungsgewinnen unter (leicht) modifizierten Bedingungen
wieder einführt, um (u.a.) einen angeblichen Zielkonflikt mit
der InsO zu bereinigen, wird es in gesetzesvertretender Weise
tätig. Mit der Schaffung typisierender Regelungen für
einen Steuererlass außerhalb der nach §§ 163 und
227 AO im Einzelfall möglichen Billigkeitsmaßnahmen
nimmt das BMF eine strukturelle Gesetzeskorrektur vor und
verstößt damit gegen das sowohl verfassungsrechtlich
(Art. 20 Abs. 3 GG) als auch einfachrechtlich (§ 85 Satz 1 AO)
normierte Legalitätsprinzip.
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148
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D. Beantwortung der vorgelegten
Rechtsfrage
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149
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Mit dem unter den Voraussetzungen des
BMF-Schreibens vom 27.3.2003 IV A 6 - S 2140 - 8/03 (BStBl I 2003,
240 = SIS 03 19 23; ergänzt durch das BMF-Schreiben vom
22.12.2009 IV C 6-S 2140/07/10001-01, BStBl I 2010, 18 = SIS 10 00 07; sog. Sanierungserlass) vorgesehenen Billigkeitserlass der auf
einen Sanierungsgewinn entfallenden Steuer verstößt das
BMF gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der
Verwaltung.
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150
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Damit bedarf es keiner Stellungnahme des
Großen Senats zu sich im Zusammenhang mit dem sog.
Sanierungserlass stellenden beihilferechtlichen Fragen.
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