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I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte
(Klägerin) ist eine GmbH & Co. KG, die mit notariellem
Vertrag vom 16.9.1999 errichtet wurde und ein bestimmtes
Grundstück in Berlin entwickeln sollte. Nachdem sich dieses
Projekt nicht durchführen ließ, wurde „der Erwerb,
die Entwicklung, die Vermietung, die Verwaltung und die
Veräußerung von Immobilien jeder Art“ zum Zweck
der Klägerin erklärt; der Gesellschaftsvertrag wurde mit
Vereinbarung vom 13.2.2002 entsprechend neu gefasst. In diesem
Zusammenhang kam es auch zum Wechsel von Gesellschaftern.
Komplementärin war von Anfang an eine nicht an Kapital,
Vermögen und Ergebnis beteiligte GmbH. Neben der C-AG trat am
13.2.2002 die A-Bank der Klägerin als Kommanditistin bei.
Diese wandelte ihre Kapitaleinlage mit Vereinbarung vom 23.12.2002
in ein Mezzanine-Darlehen um und verkaufte gleichzeitig ihren
Gesellschaftsanteil an die C-AG. Mit Beschluss vom 22.12.2004 wurde
die Klägerin aufgelöst; Liquidatorin ist die
C-AG.
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Mit Kaufvertrag vom 26.10.2001 erwarb die
Klägerin das Grundstück X. Sie plante, die aufstehenden
Gebäude zu modernisieren und das Objekt anschließend zu
verkaufen.
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Nachdem sich Ende 2003 das Scheitern des
Plans abgezeichnet hatte, schloss die Klägerin am 17.2.2004
einen Aufhebungsvertrag, durch den der Grundstückskauf mit
sofortiger Wirkung rückabgewickelt wurde. Danach verfügte
sie nicht mehr über Aktivvermögen. Um die Insolvenz zu
vermeiden, bat die Klägerin mit Schreiben vom 20.2.2004 die
A-Bank als Gläubigerin um einen Forderungsverzicht. Am
2.7.2004 verzichtete die A-Bank (mit Besserungsabrede) auf
sämtliche Forderungen gegen die Klägerin. Außerdem
verzichteten weitere Gläubiger, darunter die C-AG, auf ihre
Forderungen. Die Klägerin buchte die Verbindlichkeiten im
Erhebungszeitraum 2004 gewinnerhöhend aus. Hierdurch ergab
sich für 2004 ein Jahresüberschuss von 1.862.924
EUR.
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Der Beklagte und Revisionskläger (das
Finanzamt - FA - ) stellte zum 31.12.2003 einen
vortragsfähigen Gewerbeverlust in Höhe von 2.656.561 EUR
fest. Für das Streitjahr 2004 ging das FA von einem Gewinn aus
Gewerbebetrieb in Höhe von 1.862.924 EUR aus. Davon zog es
einen Gewerbeverlust in Höhe von 1.517.754 EUR ab. Diesen
Betrag ermittelte das FA nach § 10a Sätze 1 und 2 des
Gewerbesteuergesetzes (GewStG) in der ab 1.1.2004 geltenden Fassung
des Gesetzes zur Änderung des Gewerbesteuergesetzes und
anderer Gesetze vom 23.12.2003 (BGBl I 2003, 2922, BStBl I 2004,
20) in der Weise, dass es den festgestellten vortragsfähigen
Gewerbeverlust bis zur Höhe von 1 Mio. EUR in voller Höhe
sowie von dem übersteigenden Betrag (862.924 EUR) 60 % (=
517.754 EUR) berücksichtigte. Danach verblieb ein gerundeter
Gewerbeertrag von 345.100 EUR, woraus sich ein
Gewerbesteuermessbetrag von 14.830 EUR und eine festgesetzte
Gewerbesteuer für 2004 in Höhe von 60.803 EUR ergaben.
Außerdem stellte das FA den vortragsfähigen
Gewerbeverlust zum 31.12.2004 mit 1.138.807 EUR fest.
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Gegen die Bescheide über den
Gewerbesteuermessbetrag 2004 und die gesonderte Feststellung des
vortragsfähigen Gewerbeverlustes zum 31.12.2004 legte die
Klägerin Einspruch ein und rügte einen Verstoß
gegen das verfassungsrechtliche Übermaßverbot.
Gleichzeitig beantragte sie sinngemäß, die Gewerbesteuer
für 2004 gemäß § 163 der Abgabenordnung (AO)
auf 0 EUR festzusetzen bzw. nach § 227 AO zu erlassen.
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Das FA lehnte eine
Billigkeitsmaßnahme ab. Dagegen legte die Klägerin
Einspruch ein.
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Das FA wies den Einspruch als
unbegründet zurück. Die Festsetzung des
Gewerbesteuermessbetrags und der Gewerbesteuer stehe im Einklang
mit der Regelung des § 10a GewStG. Eine Billigkeitsfestsetzung
nach § 163 AO komme nicht in Betracht. Nach dem Urteil des
Bundesfinanzhofs (BFH) vom 31.3.2004 X R 25/03 (BFH/NV 2004, 1212 =
SIS 04 32 38), das die Nichtberücksichtigung von Verlusten
nach § 10d des Einkommensteuergesetzes (EStG) betreffe, sei
die Erhebung einer Steuer unbillig, wenn sie im Einzelfall nach dem
Zweck des zugrunde liegenden Gesetzes nicht zu rechtfertigen sei
und dessen Wertungen zuwiderlaufe. Der Gesetzgeber habe die mit der
Beschränkung des Verlustabzugs verbundenen Härten
ersichtlich in Kauf genommen, so dass eine
Billigkeitsmaßnahme die generelle Geltungsanordnung des
Steuergesetzes unterlaufen würde. Die Grundsätze des
BFH-Urteils in BFH/NV 2004, 1212 = SIS 04 32 38 ließen sich
auf die Neuregelung des § 10a GewStG zum 1.1.2004 und die
damit verbundene Einführung der Mindestbesteuerung
übertragen.
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Mit der daraufhin erhobenen Klage begehrte
die Klägerin, den Gewerbesteuermessbetrag bzw. die
Gewerbesteuer aus sachlichen Billigkeitsgründen nach §
163 AO auf 0 EUR festzusetzen oder die Gewerbesteuer nach §
227 AO zu erlassen. Das Finanzgericht (FG) hob die
Einspruchsentscheidung auf und verpflichtete das FA, den Antrag der
Klägerin auf Billigkeitsfestsetzung nach § 163 Satz 1 AO
bzw. Billigkeitserlass nach § 227 AO bezüglich des
Gewerbesteuermessbetrags 2004 und der Gewerbesteuer 2004 neu zu
bescheiden. Das FA habe bei seiner Ermessensentscheidung nicht
hinreichend berücksichtigt, dass im Streitfall bereits am Ende
des Erhebungszeitraums 2004 und damit auch bei der Wirksamkeit des
Gewerbesteuermess- und Gewerbesteuerbescheids 2004 erkennbar
gewesen sei, dass der Verlustausgleich von gerundet 345.100 EUR aus
tatsächlichen Gründen ausgeschlossen sein werde. Die
Beteiligten seien übereinstimmend davon ausgegangen, dass die
Klägerin ihre Tätigkeit nicht mehr aufnehmen werde und
eine Entstehung von künftigen Gewinnen ausgeschlossen sei. Das
Urteil ist in EFG 2010, 1576 = SIS 10 28 38
veröffentlicht.
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Dagegen richtet sich die Revision des FA.
Der Umstand, dass die Klägerin die wirtschaftliche
Tätigkeit beendet habe und der Gewerbeverlust endgültig
untergehe, könne zwar im Rahmen der Billigkeitsentscheidung in
Betracht gezogen werden. Aufgrund der Gesetzesfassung des §
10a GewStG sei davon auszugehen, dass es dem Willen des
Gesetzgebers entspreche, dass ein vortragsfähiger
Gewerbeverlust bei Beendigung eines Unternehmens nicht mehr genutzt
werden könne und dass es ggf. im Jahr der Beendigung der
gewerblichen Tätigkeit aufgrund der Mindestbesteuerung zur
Festsetzung eines Gewerbesteuermessbetrags und von Gewerbesteuer
kommen könne. Der Gesetzgeber habe von seiner weitgehenden
Befugnis zur Vereinfachung und Typisierung Gebrauch gemacht und
keine Sonderregelung für den Fall eines endgültigen
Untergangs des bei Anwendung der Mindestbesteuerung verbleibenden
Verlustvortrags vorgesehen. Zwar treffe es zu, dass im vorliegenden
Fall bei Aufgabe des Gewerbebetriebs im Ergebnis ein wirtschaftlich
nicht entstandener Totalgewinn versteuert werden müsse. Der
Gesetzgeber sei jedoch nicht verpflichtet, einseitig zu Gunsten des
Nettoprinzips den Wertungswiderspruch zwischen dem Grundsatz der
Abschnittsbesteuerung und dem Grundsatz des Nettoprinzips zu
lösen (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom
22.7.1991 1 BvR 313/88, HFR 1992, 423). Der Grundsatz der
Rechtssicherheit müsse der Forderung nach Gerechtigkeit im
Einzelfall allenfalls dann weichen, wenn ihm angesichts der
Besonderheiten des vom Gesetzgeber geregelten Sachverhalts jede
Tauglichkeit abzusprechen wäre. Das sei vorliegend nicht der
Fall.
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Das FA beantragt, das angefochtene Urteil
aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt, die Revision
als unbegründet zurückzuweisen.
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Im Streitfall führe die
Mindestbesteuerung endgültig zum Ausschluss des
Verlustausgleichs. Dies habe bereits im Verlustabzugsjahr
festgestanden, denn der Gewinn erhöhende Forderungsverzicht
seitens der Gläubiger sei gerade zu dem Zweck erfolgt, der
Klägerin die geordnete Liquidation zu ermöglichen.
Mindestbesteuerung und Ausschluss des Verlustabzugs stünden
damit im ursächlichen Zusammenhang. Der BFH habe an der
Mindestbesteuerung nach § 10d Abs. 2 Satz 1 EStG
verfassungsrechtliche Zweifel geäußert, wenn die
spätere Verlustverrechnung endgültig ausgeschlossen sei
(BFH-Beschluss vom 26.8.2010 I B 49/10, BFHE 230, 445, BStBl II
2011, 826 = SIS 10 33 11). Solche Bedenken äußere auch
das Hessische FG im Hinblick auf § 10a Satz 2 GewStG, wenn
dessen Anwendung gegen das objektive Nettoprinzip verstoße
(Beschluss vom 26.7.2010 8 V 938/10, EFG 2010, 1811 = SIS 10 29 89). Diese Erwägungen müssten auch im
Billigkeitsverfahren gelten. Vorliegend komme verschärfend
hinzu, dass der steuerbelastete Ertrag nicht auf einem
erwirtschafteten Gewinn, sondern auf einem reinen Buchgewinn
beruhe.
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Das Bundesministerium der Finanzen ist dem
Verfahren beigetreten.
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Es führt aus, § 227 AO stelle
keine Ermächtigung zur Korrektur des Gesetzes dar. Die
Billigkeitsmaßnahme dürfe nicht auf Erwägungen
gestützt werden, die die vorgesehene Besteuerung allgemein
oder für bestimmte Fallgruppen außer Kraft setzen
würde. Ein Erlass wegen sachlicher Unbilligkeit sei nur
insoweit durch die Vorschrift gedeckt, wie angenommen werden
könne, der Gesetzgeber würde die im Billigkeitswege zu
entscheidende Frage - hätte er sie geregelt - im Sinne des
vorgesehenen Erlasses entscheiden (vgl. BFH-Urteil vom 23.3.1998 II
R 41/96, BFHE 185, 270, BStBl II 1998, 396 = SIS 98 15 06).
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Der Umstand, dass im Streitfall eine volle
Verrechnung der festgestellten Fehlbeträge unterbleibe, sei
unmittelbare Folge der Änderung des § 10a GewStG. Es sei
nicht Sache der Finanzverwaltung, diese gesetzgeberische Folge
mittels Billigkeitsregelungen zu unterlaufen. Die Besteuerung
widerspreche auch nicht dem Willen des Gesetzgebers. Dieser sei
sich bei der Abfassung des Gesetzes bewusst gewesen, dass es im
Einzelfall zur nicht vollständigen Verrechnung festgestellter
Fehlbeträge kommen könne (BTDrucks 15/481, S. 5, rechte
Spalte, zweiter Absatz). Die Anhebung des Sockelbetrags in der
endgültig Gesetz gewordenen Fassung und die Diskussion um den
Prozentsatz einer möglichen Verlustverrechnung zeigten, dass
dem Gesetzgeber die Wirkung der Einschränkungen bewusst
gewesen sei; eine Regelungslücke liege deshalb nicht
vor.
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Eine Billigkeitsmaßnahme sei nicht
von Verfassungs wegen geboten. Der Gesetzgeber sei nicht
verpflichtet, den Wertungswiderspruch zwischen dem Grundsatz der
Abschnittsbesteuerung und dem Nettoprinzip einseitig zu Gunsten des
Nettoprinzips zu lösen (BVerfG-Beschluss in HFR 1992, 423). In
Fällen, in denen ein Fehlbetrag nicht vollständig
verrechenbar sei, könne ein Verfassungsverstoß nicht
einseitig auf das Gebot des objektiven Nettoprinzips gestützt
werden.
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II. Die Revision des FA ist begründet.
Das angefochtene Urteil wird aufgehoben und die Klage abgewiesen
(§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -
). Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass das FA die
Voraussetzungen der §§ 163 Satz 1, 227 AO
ermessensfehlerhaft verneint habe, weil es nicht hinreichend
berücksichtigt habe, dass die Klägerin ihre
wirtschaftliche Tätigkeit beendet habe und damit der
vortragsfähige Gewerbeverlust endgültig untergehe.
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1. Nach § 163 AO können Steuern
niedriger festgesetzt werden und einzelne Besteuerungsgrundlagen,
die die Steuern erhöhen, können bei der Festsetzung der
Steuern unberücksichtigt bleiben, wenn die Erhebung der Steuer
nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Nach § 227
AO können Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis
ganz oder zum Teil erlassen werden, wenn deren Einziehung nach Lage
des einzelnen Falles unbillig wäre.
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a) Der Zweck der §§ 163, 227 AO
liegt darin, sachlichen und persönlichen Besonderheiten des
Einzelfalles, die der Gesetzgeber in der Besteuerungsnorm nicht
berücksichtigt hat, durch eine nicht den Steuerbescheid selbst
ändernde Korrektur des Steuerbetrags insoweit Rechnung zu
tragen, als sie die steuerliche Belastung als unbillig erscheinen
lassen (BFH-Urteile vom 26.5.1994 IV R 51/93, BFHE 174, 482, BStBl
II 1994, 833 = SIS 94 22 40, unter 1. der Gründe; vom 4.7.1972
VII R 103/69, BFHE 106, 268, BStBl II 1972, 806 = SIS 72 04 66).
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b) Die Erlassentscheidung ist eine
Ermessensentscheidung der Finanzverwaltung (§ 5 AO), die
gemäß § 102 FGO i.V.m. § 121 FGO
grundsätzlich nur eingeschränkter gerichtlicher
Nachprüfung unterliegt (Beschluss des Gemeinsamen Senats der
Obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19.10.1971 GmS-OGB 3/70,
BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603 = SIS 72 03 54). Stellt das
Gericht eine Ermessensüberschreitung oder einen
Ermessensfehler fest, ist es grundsätzlich auf die Aufhebung
der angefochtenen Verwaltungsentscheidung beschränkt. Nur wenn
der Ermessensspielraum im konkreten Fall derart eingeengt ist, dass
nur eine Entscheidung als ermessensgerecht in Betracht kommt (sog.
Ermessensreduzierung auf Null), ist es befugt, seine Entscheidung
an die Stelle der Ermessensentscheidung der Verwaltungsbehörde
zu setzen und eine Verpflichtung zum Erlass auszusprechen
(BFH-Urteile vom 6.9.2011 VIII R 55/10, BFH/NV 2012, 269 = SIS 12 00 79, unter II.1. der Gründe, m.w.N.; vom 26.10.1994 X R
104/92, BFHE 176, 3, BStBl II 1995, 297 = SIS 95 08 57, unter II.2.
der Gründe, m.w.N.).
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c) Sachlich unbillig ist die Festsetzung einer
Steuer, wenn sie zwar äußerlich dem Gesetz entspricht,
aber den Wertungen des Gesetzgebers im konkreten Fall derart
zuwiderläuft, dass die Erhebung der Steuer als unbillig
erscheint. So verhält es sich, wenn nach dem erklärten
oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers angenommen werden
kann, dass der Gesetzgeber die im Billigkeitswege zu entscheidende
Frage - wenn er sie als regelungsbedürftig erkannt hätte
- im Sinne der beabsichtigten Billigkeitsmaßnahme entschieden
hätte (ständige BFH-Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Urteil
in BFHE 174, 482, BStBl II 1994, 833 = SIS 94 22 40, unter 2. der
Gründe, m.w.N.; BFH-Beschluss vom 12.9.2007 X B 18/03, BFH/NV
2008, 102 = SIS 08 05 14, unter II.5.b der Gründe, m.w.N.).
Eine für den Steuerpflichtigen ungünstige Rechtsfolge,
die der Gesetzgeber bewusst angeordnet oder in Kauf genommen hat,
rechtfertigt dagegen keine Billigkeitsmaßnahme (BFH-Urteile
vom 7.10.2010 V R 17/09, BFH/NV 2011, 865 = SIS 11 13 05, unter
II.2. der Gründe; vom 4.2.2010 II R 25/08, BFHE 228, 130,
BStBl II 2010, 663 = SIS 10 09 17, jeweils m.w.N.). Bei der
Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit von
generalisierenden und typisierenden Normen des Steuerrechts
fällt allerdings die Möglichkeit des Steuererlasses zur
Milderung unbilliger Härten besonders ins Gewicht
(BVerfG-Beschluss vom 5.4.1978 1 BvR 117/73, BVerfGE 48, 102 = SIS 78 02 49; BFH-Urteile vom 6.2.1976 III R 24/71, BFHE 118, 151; in
BFHE 185, 270, BStBl II 1998, 396 = SIS 98 15 06; vom 27.5.2004 IV
R 55/02, BFH/NV 2004, 1555 = SIS 04 39 03). Deshalb ist im Rahmen
einer Billigkeitsentscheidung zu berücksichtigen, ob die vom
Gesetzgeber gewählte Typisierung gerade deshalb für
zulässig erachtet wird, weil im Zusammenhang mit der Anwendung
des typisierenden Gesetzes auftretende Härten durch
Billigkeitsmaßnahmen beseitigt werden können. Das ist
etwa dann der Fall, wenn der Gesetzgeber Zahl und Intensität
der von der typisierenden Regelung nachteilig betroffenen
Fälle mit zumutbarem Aufwand nicht ermitteln kann. Die
Billigkeitsmaßnahme erweist sich in diesem Zusammenhang als
eine flankierende Maßnahme zur Typisierung (vgl. BFH-Urteil
vom 20.9.2012 IV R 36/10, zur amtlichen Veröffentlichung
vorgesehen).
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d) Die Billigkeitsprüfung muss sich je
nach Fallgestaltung nicht nur auf allgemeine Rechtsgrundsätze
und verfassungsmäßige Wertungen erstrecken; sie verlangt
vielmehr eine Gesamtbeurteilung aller Normen, die für die
Verwirklichung des in Frage stehenden Steueranspruchs im konkreten
Fall maßgeblich sind (BFH-Urteil in BFHE 176, 3, BStBl II
1995, 297 = SIS 95 08 57, unter II.4. der Gründe, m.w.N.). In
eine solche Würdigung müssen nicht nur die Vorschriften
einbezogen werden, aus denen der Anspruch dem Grunde und der
Höhe nach hergeleitet wird, sondern auch die Regelungen, die
im zu entscheidenden Fall für die Konkretisierung des
materiellen Rechts und seine verfahrensrechtliche Durchsetzung
sorgen. Nur auf diese Weise lassen sich Wertungswidersprüche
aufdecken und im Billigkeitswege beseitigen, die bei isolierter
Betrachtungsweise als typischer Nebeneffekt der Anwendung einzelner
steuerrechtlicher Normen hinnehmbar erscheinen, insgesamt aber in
ihrem Zusammenwirken in einem atypischen Einzelfall eine Rechtslage
herbeiführen, welche die Durchsetzung des Steueranspruchs als
sachlich unbillig erscheinen lässt (BFH-Urteil in BFHE 176, 3,
BStBl II 1995, 297 = SIS 95 08 57, unter II.4. der
Gründe).
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e) Grundsätzlich kann im Rahmen der
Prüfung, ob eine sachliche Unbilligkeit vorliegt, die
Richtigkeit eines unanfechtbar gewordenen Steuerbescheids nicht
mehr untersucht werden. Eine Ausnahme hat die Rechtsprechung
für die Einwendungen zugelassen, die sich im konkreten
Steuerrechtsverhältnis aus den Grundsätzen von Treu und
Glauben ergeben (BFH-Urteile vom 31.10.1990 I R 3/86, BFHE 163,
478, BStBl II 1991, 610 = SIS 91 11 18, unter II.B.3. der
Gründe; vom 10.6.1975 VIII R 50/72, BFHE 116, 103, BStBl II
1975, 789 = SIS 75 04 58). Die Verdrängung gesetzten Rechts
durch den Grundsatz von Treu und Glauben kann jedoch nur in
Betracht kommen, wenn das Vertrauen des Steuerpflichtigen in ein
bestimmtes Verhalten der Verwaltung nach allgemeinem
Rechtsgefühl in einem so hohen Maß schutzwürdig
ist, dass demgegenüber die Grundsätze der
Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zurücktreten
(BFH-Urteile in BFHE 163, 478, BStBl II 1991, 610 = SIS 91 11 18,
unter II.B.3.a der Gründe; vom 5.2.1980 VII R 101/77, BFHE
130, 90, unter 2. der Gründe).
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2. Ausgehend von diesen Grundsätzen war
dem FA nicht aufzugeben, eine erneute Prüfung der
Billigkeitsgründe vorzunehmen. Selbst wenn das FA die
Bedeutung der endgültigen Nichtverwertbarkeit der Verluste und
der dadurch eintretenden Verletzung des objektiven Nettoprinzips
nicht ausreichend bei seinen Ermessenserwägungen
berücksichtigt haben sollte, wie das FG meint, konnte doch
keine andere Entscheidung als die vom FA getroffene ergehen, da
eine Unbilligkeit im Streitfall nicht vorlag.
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a) Der Antrag der Klägerin auf Erlass
einer Billigkeitsmaßnahme ist allerdings nicht bereits
deshalb zurückzuweisen, weil sie davon abgesehen hat, Klage
auch gegen die Festsetzungsverwaltungsakte zu erheben. Sie durfte
sich darauf beschränken, nur die Entscheidung des FA über
die beantragten Billigkeitsmaßnahmen mit der Klage
anzugreifen.
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Zwar kann sich ein Steuerpflichtiger
grundsätzlich nicht auf die sachliche Unbilligkeit einer
Steuerfestsetzung berufen, wenn er zuvor nicht alle Rechtsmittel
gegen die Steuerfestsetzung ausgeschöpft hat. Nach
ständiger Rechtsprechung des BFH können
bestandskräftig festgesetzte Steuern im Billigkeitsverfahren
u.a. nur dann sachlich überprüft werden, wenn es dem
Steuerpflichtigen nicht möglich oder nicht zumutbar war, sich
gegen die Fehlerhaftigkeit der Festsetzung rechtzeitig zu wehren
(vgl. z.B. BFH-Urteile vom 30.4.1981 VI R 169/78, BFHE 133, 255 =
SIS 81 20 43, BStB1 II 1981, 611; vom 11.8.1987 VII R 121/84, BFHE
150, 502 = SIS 87 22 52, BStB1 II 1988, 512; vom 29.5.2008 V R
45/06, BFH/NV 2008, 1889 = SIS 08 38 41).
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Dieser Grundsatz gilt jedoch nicht, wenn der
Steuerpflichtige sich darauf beruft, von einer von ihm
grundsätzlich als verfassungskonform angesehenen typisierenden
Norm unverhältnismäßig nachteilig betroffen zu
sein. Hält der Steuerpflichtige die Typisierungsbefugnis des
Gesetzgebers in Bezug auf die in Frage stehende Norm für
gegeben, sieht er die Besteuerung aber in seinem Einzelfall als
unbillig an, weil er von der Typisierung
unverhältnismäßig nachteilig betroffen wird, ist
ihm die Anfechtung der Steuerfestsetzung nicht zuzumuten. Er kann
sich vielmehr darauf beschränken, lediglich eine
Billigkeitsmaßnahme zu beantragen.
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b) Im Streitfall kann offenbleiben, in welchen
Fällen allgemein die Festsetzung eines
Gewerbesteuermessbetrags trotz vortragsfähiger Verluste
mindestens in Höhe des Gewerbeertrags zu einer auch durch die
allgemeine Typisierungsbefugnis nicht mehr gedeckten
unverhältnismäßigen Belastung eines einzelnen
Steuerpflichtigen durch § 10a Sätze 1 und 2 GewStG
führen kann und inwieweit die fehlende Möglichkeit zur
künftigen Verrechnung gestreckter vortragsfähiger
Verluste wegen der Einstellung der werbenden Tätigkeit auf
Besonderheiten des Gewerbesteuerrechts beruht, die eine
unverhältnismäßige Belastung des Steuerpflichtigen
ausgeschlossen erscheinen lassen. Die Festsetzungen eines
Gewerbesteuermessbetrags und der Gewerbesteuer gegenüber der
Klägerin sind nämlich bereits deshalb nicht unbillig,
weil die Klägerin durch ihr eigenes Verhalten dazu beigetragen
hat, dass ein Gewerbeertrag entstanden ist, der nach § 10a
Sätze 1 und 2 GewStG nicht vollständig mit
vortragsfähigen Verlusten verrechnet werden konnte.
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Der positive Gewerbeertrag im streitigen
Erhebungszeitraum beruht ausschließlich darauf, dass
Gläubiger der Klägerin auf ihre Forderungen
gegenüber der Klägerin verzichtet haben. Der Verzicht
wurde auf Betreiben der Klägerin erklärt, obwohl die
Forderungen angesichts der Mittellosigkeit der Klägerin
ohnehin schon wertlos geworden waren. Wäre der Verzicht nicht
erklärt worden, hätte die Klägerin künftig
keinen Gewinn mehr erzielt. Auch der Ausfall von gegen die
Klägerin gerichteten Forderungen in einem Insolvenzverfahren
hätte keine Gewinnauswirkung gehabt. Weder für den
streitigen Erhebungszeitraum noch für spätere
Erhebungszeiträume wären danach
Gewerbesteuermessbeträge festzusetzen gewesen.
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Anhaltspunkte dafür, dass es ohne
Initiative der Klägerin zu dem Forderungsverzicht hätte
kommen können, sind nicht ersichtlich. Die Klägerin hat
deshalb selbst die Ursache für das Eintreten der
Mindestbesteuerung gesetzt, obwohl sie die Besteuerungsfolgen
kennen musste. Unter diesem Aspekt kann die Besteuerung nicht als
unbillig angesehen werden.
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3. Die Ablehnung einer
Billigkeitsmaßnahme durch das FA ist danach im Streitfall
nicht zu beanstanden. Das FG ist von anderen Maßstäben
ausgegangen. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und die
Klage abzuweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO).
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