1
|
I. Die Kläger und Revisionskläger
(Kläger) sind Eheleute, die zusammen zur Einkommensteuer
veranlagt werden. In ihren Einkommensteuererklärungen für
die Jahre 1992 bis 1999 machten sie jeweils Schulgeldzahlungen als
Sonderausgaben geltend, die dadurch entstanden waren, dass ihr Sohn
eine Privatschule in Großbritannien besucht hatte. Der
Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA - ) ließ
die Aufwendungen nicht zum Abzug zu. Die nach erfolglosem Einspruch
gegen den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 1992 erhobene
Klage wies das Finanzgericht (FG) durch Urteil vom 17.3.1995 3 K
1046/94 (EFG 1995, 747) mit der Begründung ab,
Schulgeldzahlungen an Schulen im Ausland seien nicht nach § 10
Abs. 1 Nr. 9 des Einkommensteuergesetzes in der in den Streitjahren
geltenden Fassung (EStG a.F.) abziehbar. Die hiergegen gerichtete
Revision wies der erkennende Senat mit Urteil vom 11.6.1997 X R
74/95 (BFHE 183, 436, BStBl II 1997, 617 = SIS 97 22 89)
zurück. Die von den Klägern hinsichtlich der
Veranlagungszeiträume 1994 bis 1997 erhobene Klage wies das FG
mit Urteil vom 5.7.2000 1 K 2074/99 ebenfalls ab. Die Beschwerde
wegen Nichtzulassung der Revision wurde vom Bundesfinanzhof (BFH)
durch Beschluss vom 11.3.2002 XI B 125/00 (BFH/NV 2002, 1037 = SIS 02 86 46) als unzulässig verworfen. Die
Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1993, 1998 und 1999
wurden ohne Erschöpfung des Rechtswegs
bestandskräftig.
|
|
|
2
|
Nachdem der Gerichtshof der
Europäischen Union (EuGH) in seinen Urteilen vom 11.9.2007
C-76/05 - Schwarz/Gootjes-Schwarz - (Slg. 2007, I-6849 = SIS 07 34 68) und C-318/05 - Kommission/ Deutschland - (Slg. 2007, I-6957 =
SIS 07 34 66) entschieden hatte, sowohl die in Art. 56 des
Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union -
AEUV - (bis 2008 Art. 49 EG) gewährleistete
Dienstleistungsfreiheit als auch die allgemeine Freizügigkeit
gemäß Art. 21 AEUV (bis 2008 Art. 18 EG) würden
durch die Beschränkung des Sonderausgabenabzugs für
Schulgeldzahlungen an inländische Privatschulen
beeinträchtigt, beantragten die Kläger im Oktober 2007,
die Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1992 bis 1999
dahingehend zu ändern, dass die von ihnen geleisteten
Schulgeldzahlungen nunmehr gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 9
EStG a.F. steuerlich berücksichtigt würden. Das FA lehnte
diesen Antrag ab. Einspruch und Klage blieben ohne Erfolg (FG
Rheinland-Pfalz, Urteil vom 20.1.2010 1 K 1285/08, DStRE 2011, 767
= SIS 10 30 67). Die Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision
wies der erkennende Senat durch Beschluss vom 9.6.2010 X B 41/10
(BFH/NV 2010, 1783 = SIS 10 27 13) als unbegründet
zurück.
|
|
|
3
|
Im Juli 2010 beantragten die Kläger
daraufhin gemäß § 227 der Abgabenordnung (AO) den
Erlass der Einkommensteuerbeträge, soweit diese wegen
Nichtanerkennung der Schulgeldzahlungen als Sonderausgaben in den
Jahren 1992 bis 1999 festgesetzt worden waren. Sie trugen zur
Begründung vor, es sei zwar grundsätzlich mit dem Sinn
und Zweck der Bestandskraft von Steuerbescheiden nicht zu
vereinbaren, eine bestandskräftig festgesetzte Steuer nur
deshalb zu erlassen, weil die Festsetzung im Widerspruch zu einer
später entwickelten oder geänderten Rechtsprechung stehe.
Die Rechtsprechung des EuGH zur Abänderung
bestandskräftiger Entscheidungen rechtfertige jedoch eine
Ausnahme. Die Dienstleistungsfreiheit sei für die
Mitgliedstaaten unmittelbar geltendes Recht. Werde sie verletzt,
sei der betroffene Bürger darauf angewiesen, dass die
nationalen Gerichte dem EuGH die Rechtsfragen vorlegten.
Unterbleibe dies, obwohl eine Vorlagepflicht bestehe, habe die
Bestandskraft dem allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben zu
weichen. Der Vorrang des Unionsrechts verlange in diesem Fall eine
Korrektur des nationalen Rechts.
|
|
|
4
|
Das FA lehnte den Antrag ab und wies den
Einspruch der Kläger zurück. In dem sich
anschließenden Klageverfahren trugen die Kläger weiter
vor, in einem Billigkeitsverfahren, das die Bestandskraft der
Steuerbescheide unberührt lasse, müsse dem EuGH-Urteil
vom 13.1.2004 C-453/00 - Kühne & Heitz - (Slg. 2004, I-837
= SIS 04 10 32) in der Weise Geltung verschafft werden, dass eine
Vorlage an den EuGH erfolge. Dessen Rechtsprechung beruhe auf dem
Rechtsgedanken von Treu und Glauben. Wenn Rechtsuchende alle
rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft hätten, um
unionswidrige und damit rechtswidrige Entscheidungen von
Behörden zu verhindern, sei es unbillig, den nach nationalem
Recht möglichen Erlass der Steuerschuld mit der
Begründung zu verweigern, die Bestandskraft des
Steuerbescheids stehe einer Abänderung entgegen. Die
Möglichkeit der nachträglichen Korrektur der nach
nationalem Recht bestandskräftigen Bescheide sei die
notwendige Folge und der angemessene Ausgleich dafür, dass der
Rechtsuchende nicht selbst den EuGH anrufen könne, sondern
insoweit von den nationalen Gerichten abhängig sei.
|
|
|
5
|
Das FG hat die Klage mit dem in EFG 2013,
578 = SIS 13 09 02 veröffentlichten Urteil abgewiesen.
|
|
|
6
|
Zur Begründung ihrer - auf die
Streitjahre 1992 und 1994 bis 1997 beschränkten - Revision
machen die Kläger in Ergänzung ihres bisherigen
Vorbringens geltend, das FG habe keine am Gemeinschaftsrecht
orientierte Auslegung des § 227 AO vorgenommen. Es habe nicht
dargelegt, wie sich das Effektivitätsprinzip des Unionsrechts
bei bestehender Bestandskraft eines Steuerbescheids auf die
Billigkeitsentscheidung nach § 227 AO auswirke, wenn sich nach
Erschöpfung des Rechtswegs herausstelle, dass der
bestandskräftige Steuerbescheid das Gemeinschaftsrecht
verletze und deswegen rechtswidrig sei. Das FG habe die
Problematik, die sich aus dem EuGH-Urteil Kühne & Heitz in
Slg. 2004, I-837 ergebe, dadurch umgangen, dass es auf sein
früheres Urteil vom 20.1.2010 in DStRE 2011, 767 verwiesen
habe. In dieser Entscheidung sei aber nicht berücksichtigt
worden, dass im Streitfall der Steuerbescheid angefochten und der
Rechtsweg vollständig - ebenso wie im Sachverhalt der
Rechtssache Kühne & Heitz in Slg. 2004, I-837 -
ausgeschöpft worden sei. Das sei die Besonderheit des
konkreten Falles, die ihn von dem EuGH-Urteil vom 19.9.2006
C-392/04 und C-422/04 - i-21 Germany und Arcor - (Slg. 2006, I-8559
= SIS 06 47 54) sowie den BFH-Entscheidungen vom 29.5.2008 V R
45/06 (BFH/NV 2008, 1889 = SIS 08 38 41) und vom 15.6.2009 I B
230/08 (BFH/NV 2009, 1779 = SIS 09 32 34) unterscheide. Hinge die
Anwendung des § 227 AO im Streitfall davon ab, dass die
Steuerfestsetzung eindeutig und offenbar unrichtig sei - was nicht
der Fall sei, wenn sie auf der BFH-Rechtsprechung beruhe -, sei
dies mit der Kühne & Heitz-Rechtsprechung des EuGH
unvereinbar, da sie in Fällen der vorliegenden Art praktisch
leerlaufe, in denen der Steuerpflichtige alles unternommen habe, um
die dem Gemeinschaftsrecht widersprechenden Steuerbescheide zu
korrigieren.
|
|
|
7
|
Die Kläger sind der Auffassung, §
227 AO müsse aufgrund des gemeinschaftsrechtlichen
Effektivitätsprinzips als Änderungsmöglichkeit im
Sinne der ersten Voraussetzung der EuGH-Rechtsprechung in
Kühne & Heitz angesehen werden. Der gesetzliche Tatbestand
des Billigkeitsverfahrens nach § 227 AO enthalte keine
Einschränkung und finde seinem Wortlaut nach auf jeden
rechtswidrigen Steuerbescheid Anwendung.
|
|
|
8
|
Im Rahmen der Billigkeit müssten
ergänzend die Grundsätze des allgemeinen
Verwaltungsrechts zur Anwendung kommen, um den nach der
EuGH-Rechtsprechung gebotenen Rechtsschutz zu gewährleisten.
Zwar sei der Tatbestand des § 51 Abs. 1 Nr. 1 des
Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) bei einer Änderung der
höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich nicht
erfüllt. Es sei aber zumindest vertretbar, die
Verwaltungsbehörde für befugt zu halten, bei einer
Verletzung der Vorlagepflicht des letztinstanzlichen nationalen
Gerichts einen gemeinschaftswidrigen Verwaltungsakt
abzuändern, da die besondere Bedeutung der EuGH-Rechtsprechung
es nahelege, diese einer Änderung des materiellen Rechts
gleichzustellen, damit die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts
nicht beeinträchtigt werde. Die Auswirkungen des
unionsrechtlich zu beachtenden Effektivitätsprinzips zeige
sich insbesondere bei der Auslegung des § 48 VwVfG, der im
Rahmen einer Ermessensentscheidung eine Aufhebung rechtswidriger
Verwaltungsakte ermögliche. Das Ermessen der Behörde, den
Bescheid aufzuheben, reduziere sich auf Null, weil in der
vorliegenden besonderen Konstellation, in der den Belangen der
Rechtssicherheit durch das Ausschöpfen des Rechtswegs und die
Einhaltung angemessener Fristen ausreichend Rechnung getragen
worden sei, das Prinzip der Effektivität des
Gemeinschaftsrechts überwiege.
|
|
|
9
|
Das deutsche Recht erlaube die
Rücknahme einer rechtskräftig gerichtlich
bestätigten Verwaltungsentscheidung, ohne dabei die
Rechtskraft des Urteils selbst zu berühren.
|
|
|
10
|
Der Senat habe zudem mit seinem Urteil in
BFHE 183, 436, BStBl II 1997, 617 = SIS 97 22 89 offenkundig und
qualifiziert gegen das Unionsrecht und seine Vorlagepflicht aus
Art. 234 Abs. 3 EG (jetzt Art. 267 Abs. 3 AEUV) verstoßen. Er
habe - trotz eindeutiger Hinweise aus dem Schrifttum (vgl. z.B.
Meilicke, Deutsche Steuerzeitung - DStZ - 1996, 97) - schon
für das Streitjahr 1992 verkannt, dass nicht die Organisation
der Privatschulen in Deutschland, sondern die passive
Dienstleistungsfreiheit sowie die Freizügigkeit der
Schüler gemäß Art. 8a EG (jetzt Art. 21 AEUV)
entscheidend sei. Somit müssten auch aus diesem Grunde die zu
Unrecht erhobenen Steuern erlassen werden.
|
|
|
11
|
Soweit die Steuerbescheide 1994 bis 1997
betroffen seien, gelte Entsprechendes. Es könne für die
Erschöpfung des Rechtswegs gemäß Art. 267 Abs. 3
AEUV keinen Unterschied machen, dass die Voraussetzungen für
die Zulassung der Revision nicht vorgelegen hätten und es
deshalb nicht zu einem Revisionsverfahren gekommen sei.
|
|
|
12
|
Die Kläger beantragen,
|
|
1. das angefochtene Urteil des FG
Rheinland-Pfalz abzuändern und das FA zu verpflichten, unter
Aufhebung des Bescheids vom 23.7.2010 und seiner
Einspruchsentscheidung vom 10.12.2010 für die Steuerjahre 1992
und 1994 bis 1997 Steuerbeträge in Höhe von 4.500,88 EUR
wegen Nichtberücksichtigung von Schulgeldzahlungen als
Sonderausgaben zu erlassen sowie den Erlassbetrag ab
Rechtshängigkeit mit eineinhalb Prozent für jeden Monat
zu verzinsen;
|
|
|
13
|
hilfsweise,
|
|
die Sache in dem angefochtenen Umfang zur
erneuten Verhandlung und Entscheidung an das erstinstanzliche
Gericht zurückzuverweisen und die Kläger unter
Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu
bescheiden;
|
|
|
14
|
2. dem EuGH zur Vorabentscheidung folgende
Fragen vorzulegen:
|
|
|
15
|
a) Ist eine Vorschrift des nationalen
Rechts geeignet, die erste Voraussetzung des EuGH-Urteils
Kühne & Heitz in Slg. 2004, I-837 zu erfüllen, wenn
die nationale Vorschrift der Behörde ein Ermessen
einräumt und die Rechtsprechung diese Vorschrift nur anwendet,
wenn die Verletzung des Unionsrechts offenkundig und eindeutig
war?
|
|
|
16
|
b) Ist die dritte Voraussetzung des
EuGH-Urteils Kühne & Heitz in Slg. 2004, I-837 dahin zu
verstehen, dass die Verletzung der Vorlagepflicht vorwerfbar
(schuldhaft) oder objektiv offenkundig und eindeutig war?
|
|
|
17
|
c) Verletzt ein letztinstanzliches Gericht
bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts die Vorlagepflicht nach
Art. 267 Abs. 3 AEUV und beruht darauf der bestandskräftige
und gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßende Steuerbescheid,
ist dann aufgrund des EuGH-Urteils Kühne & Heitz in Slg.
2004, I-837 die Steuerbehörde in einem Billigkeitsverfahren
(§ 227 AO), das der Behörde ein Ermessen einräumt,
verpflichtet, die Steuerschuld zurück zu erstatten, die bei
richtiger Auslegung des Gemeinschaftsrechts nicht geschuldet
gewesen wäre?
|
|
|
18
|
d) Ist eine nationale Regelung mit der
Kühne & Heitz-Rechtsprechung (Effektivitätsprinzip)
vereinbar, wenn die Steuerfestsetzung, die gegen das
Gemeinschaftsrecht verstieß, ohne behördliche
Überprüfung endgültig und nicht abänderbar
wird?
|
|
|
19
|
e) Sind die Urteile des EuGH Kühne
& Heitz in Slg. 2004, I-837 sowie vom 12.2.2008 C-2/06 -
Kempter - (Slg. 2008, I-411 = SIS 08 14 91) dahin auszulegen, dass
die Verletzung der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV eine
grobe Verkennung durch das letztinstanzliche Gericht verlangt oder
sind es die gleichen Voraussetzungen, die der Gerichtshof im Urteil
vom 6.10.1982 283/81 - C.I.L.F.I.T. - (Slg. 1982, I-3415)
aufgestellt hat?
|
|
|
20
|
f) Verstößt es gegen den
Grundsatz der Effektivität, wenn ein nationales
Verfahrensrecht die Möglichkeiten einer nachträglichen
Korrektur bestandskräftiger und rechtskräftiger
unionsrechtswidriger Bescheide auf die Fälle beschränkt,
in denen die Rechtswidrigkeit im Zeitpunkt des Erlasses des
Bescheids offenkundig war?
|
|
|
21
|
Das FA beantragt,
|
|
die Revision zurückzuweisen.
|
|
|
22
|
II. Die Revision ist als unbegründet
zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung -
FGO - ). Das FG hat zutreffend erkannt, dass das FA den
Erlassantrag der Kläger ermessensfehlerfrei abgelehnt hat. Es
ist nicht unbillig i.S. des § 227 AO, den Klägern die
Einkommensteuer nicht zu erstatten, die darauf beruht, dass ihnen
der Sonderausgabenabzug des an die britische Privatschule gezahlten
Schulgelds verwehrt wurde, obwohl dies vom Unionsrecht gefordert
gewesen wäre.
|
|
|
23
|
1. Nach § 227 AO können die
Finanzbehörden Ansprüche aus dem
Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren
Einziehung nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre; unter
den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete
Beträge erstattet oder angerechnet werden. Die Unbilligkeit
kann in der Sache liegen oder ihren Grund in der wirtschaftlichen
Lage des Steuerpflichtigen haben. In der wirtschaftlichen Situation
des Steuerpflichtigen liegende (persönliche)
Billigkeitsgründe sind weder geltend gemacht noch erkennbar,
so dass allein sachliche Unbilligkeit in Betracht kommen kann.
|
|
|
24
|
Sachliche Unbilligkeit liegt vor, wenn nach
dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers
angenommen werden kann, dass er die im Billigkeitswege zu
entscheidende Frage - hätte er sie geregelt - im Sinne der
beabsichtigten Billigkeitsmaßnahme entschieden hätte
oder wenn angenommen werden kann, dass die Einziehung der Steuer
den Wertungen des Gesetzgebers widerspricht (ständige
Rechtsprechung des BFH, vgl. jüngst Senatsurteil vom
19.10.2010 X R 9/09, BFH/NV 2011, 561 = SIS 11 06 56, unter II.1.a,
m.w.N.). Dies wiederum kann seinen Grund entweder in
Gerechtigkeitsgesichtspunkten oder in einem Widerspruch zu dem der
gesetzlichen Regelung zu Grunde liegenden Zweck haben. § 227
AO ermächtigt allerdings nicht zur Korrektur des Gesetzes. Der
Erlass ist daher nur zulässig, wenn die Einziehung der Steuer
zwar dem Gesetz entspricht, aber infolge eines
Gesetzesüberhangs den Wertungen des Gesetzgebers derart
zuwiderläuft, dass sie unbillig erscheint (Senatsurteil in
BFH/NV 2011, 561 = SIS 11 06 56, unter II.1.a, m.w.N.).
|
|
|
25
|
Im vorliegenden Streitfall ist zu prüfen,
ob das FA sein Ermessen zu Recht dahingehend ausgeübt hat,
dass es den Erlass der auf der Nichtberücksichtigung des
Schulgelds als Sonderausgaben beruhenden Steuerschuld abgelehnt
hat. Da die zu Grunde liegenden Steuerbescheide zwar
bestandskräftig und die Gerichtsentscheidungen
rechtskräftig sind, sie aber materiell-rechtlich mit dem
Unionsrecht nicht übereinstimmen, sind sowohl die Wertungen
des deutschen Gesetzgebers (unter 2.) als auch die Anforderungen,
die sich aus dem Unionsrecht ergeben (unter 3.), zu
berücksichtigen.
|
|
|
26
|
2. Die Bindung an die Wertungen des deutschen
Gesetzgebers bedeutet im Hinblick auf den Streitfall zweierlei:
|
|
|
27
|
a) Zunächst sind Reichweite und Grenzen
der Änderungsvorschriften der §§ 172 ff. AO zu
beachten. Ein Erlass darf nicht Änderungsmöglichkeiten
schaffen, die diese Vorschriften nicht vorsehen und nach der
gesetzgeberischen Konzeption nicht vorsehen sollten (so auch
Senatsurteil in BFH/NV 2011, 561 = SIS 11 06 56, unter II.1.b).
|
|
|
28
|
Ein Steuerbescheid kann nur aufgrund der
§§ 172 ff. AO, die eine abschließende Regelung
enthalten, geändert werden (vgl. Senatsbeschluss in BFH/NV
2010, 1783 = SIS 10 27 13). Dies unterscheidet den Steuerbescheid
von einem sonstigen Steuerverwaltungsakt, der - wenn er
rechtswidrig ist - gemäß § 130 AO, selbst nachdem
er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise auch mit Wirkung
für die Vergangenheit zurückgenommen werden kann. Diese
ausdrückliche gesetzliche Differenzierung erlaubt es daher
nicht, im Rahmen des Billigkeitsverfahrens die
Änderungsmöglichkeit nach § 130 AO heranzuziehen
oder gar - wie von den Klägern vorgeschlagen - auf die
Regelungen des VwVfG zurückzugreifen.
|
|
|
29
|
b) Zum anderen und damit zusammenhängend
sind die Grundsätze der Bestandskraft zu beachten. Bei
Einwänden, die, wie hier, die materiell-rechtliche Richtigkeit
der Steuerfestsetzung betreffen, ist ein Erlass aus
Billigkeitsgründen nur möglich, wenn die
Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig falsch ist und dem
Steuerpflichtigen nicht zuzumuten war, sich rechtzeitig gegen die
Fehlerhaftigkeit zu wehren (ständige BFH-Rechtsprechung, vgl.
Urteile vom 30.4.1981 VI R 169/78, BFHE 133, 255, BStBl II 1981,
611 = SIS 81 20 43; vom 11.8.1987 VII R 121/84, BFHE 150, 502,
BStBl II 1988, 512 = SIS 87 22 52; Senatsurteil vom 21.7.1993 X R
104/91, BFH/NV 1994, 597 = SIS 02 01 91; Urteil vom 14.11.2007 II R
3/06, BFH/NV 2008, 574 = SIS 08 14 18, und Senatsurteil in BFH/NV
2011, 561 = SIS 11 06 56; s. auch Stöcker in Beermann/Gosch,
AO § 227 Rz 22).
|
|
|
30
|
Im Streitfall hat das FA unter
Berücksichtigung dieser Rechtsprechung die Ablehnung des
Erlassantrages u.a. damit begründet, im Zeitpunkt seiner
letzten Entscheidung im Festsetzungsverfahren sei die Ablehnung des
Abzugs der Schulgeldzahlungen nicht offensichtlich und eindeutig
falsch gewesen, da sie der damaligen Rechtslage und den
Grundsätzen der damaligen höchstrichterlichen
Rechtsprechung entsprochen habe.
|
|
|
31
|
Diese Argumentation des FA ist
überzeugend, sie entspricht den Grundsätzen der
ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung und wird
auch insoweit von den Klägern nicht in Frage gestellt.
|
|
|
32
|
c) Ziel der Kläger im Rahmen einer
Billigkeitsmaßnahme ist indes nicht nur die faktische
Änderung eines bestandskräftigen Steuerbescheids. Sie
wollen vielmehr auch die tatsächliche
Rückgängigmachung einer ihnen gegenüber ergangenen
letztinstanzlichen Entscheidung erreichen, da der Senat in seinem
Urteil in BFHE 183, 436, BStBl II 1997, 617 = SIS 97 22 89 das
klageabweisende FG-Urteil bestätigt hat, so dass zwischen den
Klägern und dem FA rechtskräftig entschieden ist, dass
die Schulgeldzahlungen im Jahr 1992 nicht als Sonderausgaben
abgezogen werden konnten. Entsprechendes gilt für die
Schulgeldzahlungen der Jahre 1994 bis 1997, deren
Nichtberücksichtigung durch den BFH-Beschluss in BFH/NV 2002,
1037 = SIS 02 86 46 rechtskräftig wurde.
|
|
|
33
|
aa) Die Frage, ob ein Erlass aus
Billigkeitsgründen gemäß § 227 AO auch
möglich ist, wenn ein rechtskräftiges Urteil dem
inhaltlich entgegensteht, wird in der BFH-Rechtsprechung nicht
einheitlich beantwortet.
|
|
|
34
|
Nach Auffassung des VIII. Senats kommt ein
Erlass aus Billigkeitsgründen nicht mehr in Betracht, soweit
über die Rechtmäßigkeit der Steuerfestsetzung
bereits rechtskräftig entschieden worden ist. Ein Erlass
gemäß § 227 Abs. 1 AO bei bestandskräftiger
Steuerfestsetzung setze nicht nur voraus, dass die
Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig falsch sei. Es
müsse vielmehr hinzukommen, dass es für den
Steuerpflichtigen nicht möglich und unzumutbar gewesen sei,
sich gegen die Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zu wehren. Daraus
ergebe sich im Umkehrschluss, dass in den Fällen ein Erlass
aus Billigkeitsgründen nicht in Betracht komme, in denen
über die Rechtmäßigkeit der Steuerfestsetzung
bereits rechtskräftig entschieden worden sei. Insofern seien
die Beteiligten gemäß § 110 Abs. 1 Nr. 1 FGO an die
Rechtskraft des Urteils gebunden (s. BFH-Beschluss vom 11.5.2011
VIII B 156/10, BFH/NV 2011, 1537 = SIS 11 26 41).
|
|
|
35
|
Soweit erkennbar, ist diese generelle
Ablehnung einer Billigkeitsmaßnahme im Falle eines
rechtskräftigen Urteils in der höchstrichterlichen
Rechtsprechung eher die Ausnahme. Die Frage, ob und inwieweit die
Rechtskraft eines Urteils einer Billigkeitsmaßnahme
entgegensteht, wurde von anderen Senaten des BFH - soweit sie
überhaupt als problematisch angesehen wurde -
ausdrücklich offengelassen, weil die Voraussetzungen des
§ 227 AO in den jeweiligen Sachverhalten schon aus anderen
Gründen nicht gegeben waren (vgl. z.B. BFH-Urteile vom
22.9.1976 I R 68/74, BFHE 120, 200, BStBl II 1977, 15 = SIS 77 00 10, und vom 31.10.1990 I R 3/86, BFHE 163, 478, BStBl II 1991, 610
= SIS 91 11 18).
|
|
|
36
|
bb) Selbst wenn eine
Billigkeitsmaßnahme, die sich über die Rechtskraft eines
Urteils hinwegsetzen würde, grundsätzlich nicht
ausgeschlossen sein sollte, dürfte sie nur in seltenen
Ausnahmefällen in Betracht kommen, da bei der Prüfung der
sachlichen Unbilligkeit berücksichtigt werden muss, welch
hohen Stellenwert der Gesetzgeber der Rechtskraft beimisst.
|
|
|
37
|
(1) Nach § 110 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 FGO
binden rechtskräftige Urteile die Beteiligten und ihre
Rechtsnachfolger, soweit über den Streitgegenstand entschieden
worden ist. Die Vorschriften der AO über die Aufhebung und
Änderung von Verwaltungsakten bleiben davon zwar
unberührt, allerdings nur, soweit sich aus der
Rechtskraftwirkung nichts anderes ergibt (§ 110 Abs. 2 FGO).
Dieser Vorrang der Rechtskraft gegenüber den
Änderungsvorschriften bedeutet, dass eine Änderung
ausgeschlossen ist, falls sich dadurch ein Widerspruch zur
rechtlichen Beurteilung des Gerichts im rechtskräftigen Urteil
ergeben würde (vgl. BFH-Urteil vom 26.11.1998 IV R 66/97,
BFH/NV 1999, 788 = SIS 98 57 43, unter II.1.b).
|
|
|
38
|
Der hohe Stellenwert, den das deutsche
Verfahrensrecht der Rechtskraft zubilligt, zeigt sich zudem darin,
dass nach § 79 Abs. 2 Satz 1 des
Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) vorbehaltlich der
Vorschrift des § 95 Abs. 2 BVerfGG oder einer besonderen
gesetzlichen Regelung die nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen,
die auf einer gemäß § 78 BVerfGG für nichtig
erklärten Norm beruhen, unberührt bleiben. Der
Gesetzgeber hat sich in verfassungskonformer Weise zwischen den im
Rechtsstaatsprinzip gegründeten gleichrangigen
Verfassungsgrundsätzen der Bestandskraft von Verwaltungsakten
einerseits und der Gerechtigkeit im Einzelfall andererseits zu
Gunsten der Rechtssicherheit entschieden (vgl. z.B. Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 12.12.1957 1 BvR 678/57,
BVerfGE 7, 194, 195).
|
|
|
39
|
(2) Eine Billigkeitsmaßnahme kann daher
nur bei einem Urteil in Betracht kommen, welches so offenbar
unrichtig ist, dass dessen Fehlerhaftigkeit ohne Weiteres erkannt
werden konnte.
|
|
|
40
|
Im Streitfall ist eine derartige
offensichtliche inhaltliche Unrichtigkeit eines letztinstanzlichen
Urteils nicht gegeben. Nicht nur im Zeitpunkt des Senatsurteils in
BFHE 183, 436, BStBl II 1997, 617 = SIS 97 22 89, sondern bis zur
Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens durch die
Europäische Kommission Anfang Januar 2004 wurde die Begrenzung
der Abziehbarkeit von Schulgeldzahlungen auf inländische
Privatschulen von der Rechtsprechung - trotz einiger kritischer
Stimmen im Schrifttum (vgl. z.B. Meilicke, DB 1994, 1011; ders.,
DStZ 1996, 97) - als mit dem Unionsrecht vereinbar angesehen (neben
dem FG Rheinland-Pfalz in den die Kläger betreffenden
Verfahren auch FG Köln, Urteil vom 28.6.2001 7 K 8690/99, EFG
2004, 1044 = SIS 04 25 76, und FG Münster, Urteil vom
26.2.2003 1 K 1545/01 E, EFG 2003, 1084 = SIS 03 30 63). Selbst in
seinem Vorlagebeschluss vom 27.1.2005 10 K 7404/01 (EFG 2005, 709 =
SIS 05 19 98, unter II.3.c) hat das FG Köln noch darauf
hingewiesen, dass § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG a.F. nicht klar und
eindeutig gegen Unionsrecht verstoße.
|
|
|
41
|
Bei einer solchen Lage kann nicht davon
ausgegangen werden, dass die den Klägern gegenüber
ergangenen gerichtlichen Entscheidungen, die der bis dahin
bestehenden Rechtsprechung entsprachen, in einem solchen Maße
fehlerhaft gewesen sein könnten, dass - sich über deren
Rechtskraft hinwegsetzende - Billigkeitsmaßnahmen
gerechtfertigt wären.
|
|
|
42
|
3. Die vom FG bestätigte Auffassung des
FA steht nicht im Widerspruch zu den Anforderungen, die sich aus
dem Unionsrecht ergeben, das von allen Stellen der Mitgliedstaaten
im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten einzuhalten ist
(vgl. z.B. EuGH-Urteil vom 12.6.1990 C-8/88 - Deutschland/Kommis-
sion -, Slg. 1990, I-2321, Rz 13).
|
|
|
43
|
Zwar rügen die Kläger eine
Verletzung des Unionsrechts, indem sie ausführen, der Senat
habe nicht nur einen unionsrechtswidrigen Steuerbescheid
bestätigt, sondern darüber hinaus als letztinstanzliches
Gericht seine Vorlagepflicht an den EuGH offensichtlich verletzt,
so dass im Rahmen einer Billigkeitsentscheidung die Bestands- bzw.
Rechtskraft kein Grund sein dürfe, den Erlass der zu Unrecht
festgesetzten Steuer zu verweigern.
|
|
|
44
|
Indes erfordert weder das Unionsrecht eine
faktische Aufhebung oder Änderung rechtskräftiger
unionsrechtswidriger Urteile (unter a) noch führt ein
möglicher unionsrechtlicher Entschädigungsanspruch dazu,
den Klägern die unionsrechtswidrig erhobenen Steuern zu
erlassen (unter b).
|
|
|
45
|
a) Dem Unionsrecht kann nicht entnommen
werden, dass eine unionsrechtswidrige, aber rechtskräftig
festgesetzte Steuer erstattet werden müsste.
|
|
|
46
|
aa) Der EuGH hat ausdrücklich die
Verpflichtung verneint, eine rechtskräftige gerichtliche
Entscheidung zu überprüfen und aufzuheben, falls sich
herausstellt, dass sie gegen Gemeinschaftsrecht
verstößt. Dabei hat der EuGH die Bedeutung betont, die
dem Grundsatz der Rechtskraft sowohl in der
Gemeinschaftsrechtsordnung als auch in den nationalen
Rechtsordnungen zukommt. Zur Gewährleistung des Rechtsfriedens
und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie einer
geordneten Rechtspflege sollten nach Ausschöpfung des
Rechtswegs oder nach Ablauf der entsprechenden Rechtsmittelfristen
unanfechtbar gewordene Gerichtsentscheidungen nicht mehr in Frage
gestellt werden können. Damit gebiete das Gemeinschaftsrecht
einem nationalen Gericht nicht, von der Anwendung innerstaatlicher
Verfahrensvorschriften, aufgrund derer eine Entscheidung
Rechtskraft erlangt, abzusehen, selbst wenn dadurch ein
Verstoß dieser Entscheidung gegen Gemeinschaftsrecht
abgestellt werden könnte (EuGH-Urteile vom 1.6.1999 C-126/97 -
Eco Swiss -, Slg. 1999, I-3055, Rz 47 f.; vom 30.9.2003 C-224/01 -
Köbler -, Slg. 2003, I-10239 = SIS 03 45 53, Rz 38; vom
16.3.2006 C-234/04 - Kapferer -, Slg. 2006, I-2585 = SIS 06 16 40,
Rz 20 f.; vom 3.9.2009 C-2/08 - Fallimento Olimpiclub -, Slg. 2009,
I-7501 = SIS 09 33 25, Rz 22, und vom 6.10.2009 C-40/08 - Asturcom
Telecomunicaciones -, Slg. 2009, I-9579, Rz 35 ff.).
|
|
|
47
|
bb) Da auf dem Gebiet des Verfahrensrechts
gemeinschaftsrechtliche Vorschriften fehlen, ist es nach dem
Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen
Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, Umfang und Grenzen des
Grundsatzes der Rechtskraft festzulegen (s. z.B. EuGH-Urteile
Kempter in Slg. 2008, I-411, Rz 57; vom 4.10.2012 C-249/11 -
Byankov -, NVwZ 2013, 273, Rz 69, jeweils m.w.N.).
|
|
|
48
|
Dabei haben die Mitgliedstaaten in ihren
Verfahrensvorschriften den Effektivitätsgrundsatz sowie das
Äquivalenzprinzip zu beachten (vgl. z.B. EuGH-Urteile Kapferer
in Slg. 2006, I-2585, Rz 22, und Fallimento Olimpiclub in Slg.
2009, I-7501, Rz 24). Beide Prinzipien leiten sich aus Art. 4 Abs.
3 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) ab,
aufgrund dessen die Union und die Mitgliedstaaten zur loyalen
Zusammenarbeit und gegenseitigen Unterstützung aufgerufen
sind. Die Mitgliedstaaten haben danach alle geeigneten
Maßnahmen zur Erfüllung der Verpflichtungen zu
ergreifen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der
Organe der Union ergeben.
|
|
|
49
|
(1) Der Effektivitätsgrundsatz garantiert
eine gerichtliche Rechtsschutzmöglichkeit in angemessener
Frist. Er betrifft vor allem das Verfahren, weniger die Frage, ob
es in der Sache schwierig ist, eine günstige Rechtsentwicklung
vorherzusehen und durchzusetzen.
|
|
|
50
|
Der EuGH hat die deutschen Einspruchs- und
Klagefristen und damit die nationalen verfahrensrechtlichen
Regelungen zur Durchsetzung des Unionsrechts nicht beanstandet
(EuGH-Urteil i-21 Germany und Arcor in Slg. 2006, I-8559, Rz 59 f.;
ähnlich auch BFH-Urteil vom 16.9.2010 V R 57/09, BFHE 230,
504, BStBl II 2011, 151 = SIS 10 36 65, unter II.5.c cc). Zwar
können die Verfahrensvorschriften im Ergebnis dazu
führen, dass Entscheidungen, die materiell dem Unionsrecht
nicht entsprechen, bestands- und rechtskräftig werden. Dies
ändert aber nichts daran, dass es dem Betroffenen weder
unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert
wird, die ihm durch das Unionsrecht vermittelten Rechte geltend zu
machen (so auch Gundel, Festschrift für V. Götz, 2005,
191, 201).
|
|
|
51
|
Eine andere Ausprägung des
Effektivitätsgrundsatzes ist die mitgliedstaatliche Haftung
für Verstöße gegen Unionsrecht, wenn auf andere
Weise die Durchsetzung des Unionsrechts nicht gesichert werden kann
(vgl. EuGH-Urteil vom 19.11.1991 C-6/90, C-9/90 - Francovich -,
Slg. 1991, I-5357, Rz 35; s. Gundel in Schulze/Zuleeg/Kadelbach,
Europarecht, 2. Aufl., § 3 Rz 197). Auch diese Anforderung
erfüllt das deutsche Recht, da ein unionsrechtlicher
Entschädigungsanspruch vor den ordentlichen Gerichten geltend
gemacht werden kann (s. unten II.3.b).
|
|
|
52
|
(2) Das Äquivalenzprinzip verlangt, bei
der Anwendung sämtlicher für Rechtsbehelfe geltenden
Vorschriften einschließlich der vorgesehenen Fristen nicht
danach zu unterscheiden, ob ein Verstoß gegen
Gemeinschaftsrecht oder gegen nationales Recht gerügt wird.
Sollte ein nach innerstaatlichem Recht rechtswidriger
Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist,
zurückzunehmen sein, sofern seine Aufrechterhaltung
„schlechthin unerträglich“ wäre, muss
eine solche Verpflichtung zur Rücknahme unter den gleichen
Voraussetzungen im Fall eines Verwaltungsakts gelten, der gegen
Gemeinschaftsrecht verstößt (EuGH-Urteil i-21 Germany
und Arcor in Slg. 2006, I-8559, Rz 62 f.).
|
|
|
53
|
Da nach deutschem Verfahrensrecht ein
Verstoß gegen deutsche Rechtsgrundsätze und Normen
ebenfalls nur bei eindeutigen und offensichtlichen, im Streitfall
nicht vorliegenden (vgl. oben II.2.c bb (2)) Fehlern eines
rechtskräftigen, den Steuerbescheid bestätigenden Urteils
zu einem Billigkeitserlass führen könnte, erfüllt
das nationale Verfahrensrecht auch insoweit die unionsrechtlichen
Anforderungen.
|
|
|
54
|
(3) Die auf europäischer Ebene anerkannte
und mit besonderem Gewicht versehene Rechtskraft kann infolgedessen
dazu führen, dass der Einwand der Unionsrechtswidrigkeit nach
dem Eintritt der Rechtskraft nicht mehr möglich ist und damit
ein unionsrechtswidriges Urteil zu Gunsten der Rechtssicherheit
akzeptiert werden muss (so auch Baumann, Die Rechtsprechung des
EuGH zum Vorrang von Gemeinschaftsrecht vor mitgliedstaatlichen
Verwaltungsakten und Gerichtsurteilen, 2010, 160 f.). Insofern
verstößt die Ablehnung des Erlassantrages nicht per se
gegen Unionsrecht.
|
|
|
55
|
b) Eine Durchbrechung der Rechtskraft von
rechtskräftigen Urteilen ist nach der Rechtsprechung des EuGH
wegen des in Art. 4 EUV verankerten Grundsatzes der Zusammenarbeit
indes in den Fällen geboten, in denen
|
|
|
56
|
–
|
die Behörde nach nationalem Recht befugt
ist, diese Entscheidung zurückzunehmen,
|
|
–
|
die Entscheidung infolge eines Urteils eines
in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gerichts
bestandskräftig geworden ist,
|
|
–
|
das Urteil, wie eine nach seinem Erlass
ergangene Entscheidung des EuGH zeigt, auf einer unrichtigen
Auslegung des Gemeinschaftsrechts beruht, die erfolgt ist, ohne
dass der EuGH um Vorabentscheidung ersucht worden ist, obwohl der
Tatbestand des Art. 267 Abs. 3 AEUV erfüllt gewesen ist,
und
|
|
–
|
der Betroffene sich, unmittelbar nachdem er
Kenntnis von der besagten Entscheidung des Gerichtshofs erlangt
hat, an die Verwaltungsbehörde gewandt hat.
|
|
|
57
|
Sind diese Voraussetzungen erfüllt, muss
- so der EuGH - eine Verwaltungsbehörde auf einen
entsprechenden Antrag hin eine bestandskräftige
Verwaltungsentscheidung überprüfen, um einer mittlerweile
vom EuGH vorgenommenen Auslegung der einschlägigen Bestimmung
Rechnung zu tragen (EuGH-Urteil Kühne & Heitz in Slg.
2004, I-837, Rz 28).
|
|
|
58
|
aa) Im Streitfall ist zwischen den Beteiligten
bereits rechtskräftig festgestellt worden, dass eine
Änderung der Steuerfestsetzung nicht möglich ist, da das
deutsche Verfahrensrecht eine über die §§ 172 ff. AO
hinausgehende Änderungsmöglichkeit für
Steuerbescheide nicht kennt (Senatsbeschluss in BFH/NV 2010, 1783 =
SIS 10 27 13, s.a. oben unter II.2.a).
|
|
|
59
|
bb) Das Billigkeitsverfahren gemäß
§ 227 AO stellt keine Änderungsmöglichkeit im Sinne
der EuGH-Rechtsprechung dar.
|
|
|
60
|
(1) Der Erlass aus Billigkeitsgründen ist
gegenüber der Steuerfestsetzung ein selbstständiges
Verfahren (vgl. z.B. Beschluss des BVerfG vom 8.7.1987 1 BvR
623/86, HFR 1988, 177), das von der Rechtsanwendung zu trennen ist.
Sein Zweck ist es, durch Nichtberücksichtigung einer Norm
Gerechtigkeit in einem Einzelfall zu schaffen, in welchem die
konkrete Steuerbelastung, insbesondere mit Rücksicht auf den
Zweck der Besteuerung, nicht mehr zu rechtfertigen ist. § 227
AO ist ebenso wie § 163 AO die Rechtsgrundlage für die
Abweichung von einem allgemeinen Gesetzesbefehl. Eine solche
ausdrückliche Grundlage wird durch den Grundsatz der
Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gefordert (so auch von
Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rz 30; Loose
in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 227
AO Rz 2 ff.). Da die Wertungen des Gesetzgebers bereits bei der
Auslegung des gesetzlichen Steuertatbestands und bei der Frage der
Tatbestandsmäßigkeit der Steuerfestsetzung zu
berücksichtigen sind, kommen als sachliche
Billigkeitsgründe nur solche Umstände in Betracht, die
bei der Steuerfestsetzung durch Auslegung des Steuertatbestandes
nach dem objektivierten Willen des Gesetzgebers nicht
berücksichtigt werden (BFH-Urteil vom 24.3.1981 VIII R 117/78,
BFHE 133, 60, BStBl II 1981, 505 = SIS 81 18 43).
|
|
|
61
|
(2) Das Korrektursystem der §§ 172
ff. AO regelt die Durchsetzung der sich aus dem Unionsrecht
ergebenden Ansprüche abschließend. Es ist ein
sorgfältig austariertes System, das dem Grundsatz der
Rechtssicherheit auf dem Gebiet des Steuerrechts, in dem
Massenverfahren zu bewältigen sind, einen hohen Stellenwert
einräumt. Weiter gehende Korrekturmöglichkeiten für
Steuerbescheide muss das nationale Verfahrensrecht wegen des
Grundsatzes der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten auch nach
den Vorgaben des Unionsrechts nicht vorsehen (vgl. z.B. EuGH-Urteil
i-21 Germany und Arcor in Slg. 2006, I-8559, Rz 57, m.w.N.; so wohl
auch BFH-Urteil in BFHE 230, 504, BStBl II 2011, 151 = SIS 10 36 65, unter II.5.c).
|
|
|
62
|
(3) Entgegen der Auffassung der Kläger
ergibt sich aus der EuGH-Rechtsprechung Kühne & Heitz in
Slg. 2004, I-837 kein Anspruch auf Erlass der auf der
Nichtberücksichtigung des Schulgelds beruhenden Steuern aus
Billigkeitsgründen gemäß § 227 AO. Diese
Vorschrift räumt der Behörde - im Gegensatz zu § 48
VwVfG - ein Ermessen, Ansprüche aus dem
Steuerschuldverhältnis zu erlassen, nur beim Vorliegen
weiterer gesetzlicher Voraussetzungen ein, nämlich nur wenn
auf der Tatbestandsseite eine Unbilligkeit im Einzelfall gegeben
ist. Diese Voraussetzung ist im Streitfall indes, wie bereits oben
dargestellt, nicht erfüllt.
|
|
|
63
|
(4) Mit dieser Auslegung des § 227 AO
stimmt der erkennende Senat mit der bisherigen Finanzrechtsprechung
überein. Sowohl andere Senate des BFH als auch verschiedene FG
haben in § 227 AO keine Änderungsvorschrift im Sinne der
oben aufgeführten EuGH-Rechtsprechung gesehen und
dementsprechend den Erlass einer Steuerforderung abgelehnt, weil
das innerstaatliche Recht keine Vorschrift zur Korrektur
bestandskräftig gewordener Steuerbescheide wegen späterer
Änderungen der Rechtsprechung kenne (s. BFH-Entscheidungen in
BFH/NV 2008, 1889 = SIS 08 38 41, unter II.3.a; in BFHE 230, 504,
BStBl II 2011, 151 = SIS 10 36 65, unter II.5.c aa; wohl auch vom
1.4.2011 XI B 75/10, BFH/NV 2011, 1372 = SIS 11 23 58, und vom
14.2.2011 XI B 32/10, BFH/NV 2011, 746 = SIS 11 12 23; ebenso FG
Köln, Urteil vom 18.3.2009 7 K 2808/07, EFG 2009, 1168 = SIS 09 18 13, unter 1.c; FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29.6.2010 5
K 2292/06 B, EFG 2012, 206 = SIS 11 25 04).
|
|
|
64
|
cc) Es besteht kein von einer nationalen
Änderungsnorm losgelöster, genereller unionsrechtlicher
Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens bzw. Änderung des
Steuerbescheids nach Feststellung eines Verstoßes gegen das
Unionsrecht. Dadurch würde die auch vom EuGH anerkannte
Bestands- und Rechtskraft in Frage gestellt werden (ebenso Gundel,
Festschrift für V. Götz, 205).
|
|
|
65
|
Um einer Verletzung der Vorlagepflicht
gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV Rechnung zu tragen, ist es
unionsrechtlich nicht geboten, den darauf beruhenden
unionsrechtswidrigen Steuerbescheid bzw. seine Wirkungen aufzuheben
(so auch Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten
der Europäischen Union, 2013, 318). Es reicht vielmehr aus,
wenn der Betroffene einen unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch
geltend machen kann, auch wenn auf diese Weise einfache
Verstöße gegen die Vorlagepflicht unkorrigiert bleiben
(so auch im Ergebnis Gundel, Festschrift für V. Götz,
205; Krönke, a.a.O., 316; Baumann, a.a.O., 166 f.).
|
|
|
66
|
c) Die Ablehnung des Erlassantrages der
Kläger ist auch nicht im Hinblick auf einen möglichen
Entschädigungsanspruch wegen eines qualifizierten
Verstoßes gegen das Unionsrecht ermessenswidrig.
|
|
|
67
|
aa) In mehreren Urteilen prüft der V.
Senat im Rahmen eines Steuererlasses gemäß § 227
AO, inwieweit ein unionsrechtlicher Entschädigungsanspruch
gegeben sein könnte (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 13.1.2005 V R
35/03, BFHE 208, 398, BStBl II 2005, 460 = SIS 05 17 27, unter
II.2.a cc; vom 21.4.2005 V R 16/04, BFHE 210, 159, BStBl II 2006,
96 = SIS 05 30 99, unter II.3.; in BFH/NV 2008, 1889 = SIS 08 38 41, unter II.4., und in BFHE 230, 504, BStBl II 2011, 151 = SIS 10 36 65, unter II.6.). Er geht dabei offensichtlich davon aus, dass
bei Vorliegen der Voraussetzungen eines unionsrechtlichen
Entschädigungsanspruches eine sachliche Unbilligkeit der
Steuererhebung anzunehmen sei. Soweit ersichtlich, hat diese
Prüfung bislang jedoch noch in keinem Fall dazu geführt,
einen Steuererlass aus Billigkeitsgründen auszusprechen.
|
|
|
68
|
bb) Es kann dahingestellt bleiben, ob das
Bestehen eines unionsrechtlichen Erstattungsanspruchs einen
Billigkeitserlass gemäß § 227 AO rechtfertigen
könnte, da im Streitfall die Voraussetzungen eines solchen
Erstattungsanspruchs nicht erfüllt sind.
|
|
|
69
|
(1) Nach der Rechtsprechung des EuGH (s. z.B.
EuGH-Urteil Köbler in Slg. 2003, I-10239, Rz 51 bis 55) muss
ein Mitgliedstaat Schäden ersetzen, die einem Einzelnen durch
Verstöße gegen das Unionsrecht entstanden sind, wenn
drei Voraussetzungen erfüllt sind: Die verletzte Rechtsnorm
bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, der Verstoß ist
hinreichend qualifiziert, und zwischen dem Verstoß gegen die
dem Staat obliegende Verpflichtung und dem den geschädigten
Personen entstandenen Schaden besteht ein unmittelbarer
Kausalzusammenhang.
|
|
|
70
|
Das gilt auch für die Haftung des Staates
für Schäden, die durch eine unionsrechtswidrige
Entscheidung eines nationalen letztinstanzlichen Gerichts
verursacht wurden. Was des Näheren die zweite dieser
Voraussetzungen und ihre Anwendung bei der Prüfung einer
Haftung des Staates für eine Entscheidung eines nationalen
letztinstanzlichen Gerichts angeht, so sind - nach Auffassung des
EuGH - die Besonderheiten der richterlichen Funktion sowie die
berechtigten Belange der Rechtssicherheit zu berücksichtigen.
Der Staat haftet für eine unionsrechtswidrige Entscheidung nur
in dem Ausnahmefall, in dem das Gericht offenkundig gegen das
geltende Recht verstoßen hat. Bei der Entscheidung
darüber, ob diese Voraussetzung erfüllt ist, muss das mit
einer Schadensersatzklage befasste nationale Gericht alle
Gesichtspunkte des Einzelfalls berücksichtigen. Zu diesen
Gesichtspunkten gehören u.a. das Maß an Klarheit und
Präzision der verletzten Vorschrift, die Vorsätzlichkeit
des Verstoßes, die Entschuldbarkeit des Rechtsirrtums, ggf.
die Stellungnahme eines Gemeinschaftsorgans sowie die Verletzung
der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV durch das in Rede
stehende Gericht. Ein Verstoß gegen das Unionsrecht ist
jedenfalls dann hinreichend qualifiziert, wenn die fragliche
Entscheidung die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs
offenkundig verkennt (zu dem Vorstehenden s. EuGH-Urteile
Köbler in Slg. 2003, I-10239, Rz 51 ff.; vom 13.6.2006
C-173/03 - Traghetti del Mediterraneo -, Slg. 2006, I-5177 = SIS 06 29 73, Rz 43).
|
|
|
71
|
(2) Unter Berücksichtigung dieser
Grundsätze hat der Senat in seinem Urteil in BFHE 183, 436,
BStBl II 1997, 617 = SIS 97 22 89 die einschlägige
Rechtsprechung des EuGH nicht offenkundig verkannt.
|
|
|
72
|
Vergleicht man die Gründe, die den Senat
im Jahr 1997 dazu bewogen haben, in der Versagung des
Sonderausgabenabzugs für an eine britische Privatschule
gezahltes Schulgeld keine unionswidrige Diskriminierung zu sehen,
mit den Urteilsgründen des EuGH in der Rechtssache
Schwarz/Gootjes-Schwarz in Slg. 2007, I-6849, wird erkennbar, dass
der Anwendungsbereich sowohl der Dienstleistungsfreiheit
gemäß Art. 56 AEUV als auch der allgemeinen
Freizügigkeit gemäß Art. 21 AEUV im Hinblick auf
die fehlende Berücksichtigung des Schulgelds für
Privatschulen anderer Mitgliedstaaten unterschiedlich beurteilt
wurde. Hierin liegt indes kein offenkundiges Verkennen der
EuGH-Rechtsprechung.
|
|
|
73
|
(a) § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG a.F.
führte nach Auffassung des Senats deshalb zu keiner
unzulässigen Diskriminierung, weil er meinte, Schulgelder
für die Teilnahme am Unterricht eines nationalen staatlichen
Bildungssystems stellten aufgrund der ständigen Rechtsprechung
des EuGH kein Entgelt i.S. des Art. 57 AEUV dar. Der Senat
führte dazu aus, obwohl die bisherigen EuGH-Entscheidungen nur
zu staatlichen Schulen ergangen seien, beanspruchten diese
Grundsätze auch für den Unterricht einer (privaten)
Schule Geltung, die im Wesentlichen aus öffentlichen Mitteln
finanziert werde. Werde hingegen eine Schule im Wesentlichen aus
privaten Mitteln finanziert, sei ihr Unterrichtsangebot als
Dienstleistung i.S. des Art. 56 AEUV anzusehen. Insoweit stimmen
der EuGH und der Senat überein.
|
|
|
74
|
Im Unterschied zu dem zehn Jahre später
ergangenen EuGH-Urteil Schwarz/Gootjes-Schwarz in Slg. 2007, I-6849
folgerte der Senat jedoch aus den bis dahin bekannten Vorgaben des
EuGH, auch die inländischen privaten Ersatz- und
Ergänzungsschulen seien aufgrund ihrer Einbindung in das
nationale Bildungssystem mit ihrer Unterrichtstätigkeit in der
Regel nicht erwerbswirtschaftlich tätig, zumal sie
überwiegend aus dem Staatshaushalt finanziert würden.
Demgegenüber spielt es nach Auffassung des EuGH in der
Rechtssache Schwarz/Gootjes-Schwarz in Slg. 2007, I-6849 für
die Frage der Anwendbarkeit von Art. 56 AEUV keine Rolle, ob die
Schulen im Mitgliedstaat des Leistungsempfängers eine
Dienstleistung i.S. des Art. 57 AEUV erbringen. Es komme vielmehr
allein darauf an, dass die in einem anderen Mitgliedstaat
ansässige Privatschule als Erbringerin entgeltlicher
Leistungen angesehen werden könne (EuGH-Urteil
Schwarz/Gootjes-Schwarz in Slg. 2007, I-6849, Rz 44).
|
|
|
75
|
Diese unterschiedliche Sichtweise beruht auf
einem Perspektivenwechsel in der Rechtsprechung des EuGH durch sein
Urteil vom 16.5.2006 C-372/04 - Watts - (Slg. 2006, I-4325, unter
Rz 90), der für den Senat im Jahr 1997 weder erkennbar noch
antizipierbar war (zu den Bedenken gegen diese Rechtsprechung s.a.
die Schlussanträge der Generalanwältin Stix-Hackl vom
21.9.2006 C-76/05 - Schwarz/Gootjes-Schwarz -, Slg. 2007, I-6849).
Ein offenkundiges Verkennen der EuGH-Rechtsprechung kann daher
insoweit nicht angenommen werden.
|
|
|
76
|
(b) Für die Frage des Anwendungsbereichs
der Dienstleistungsfreiheit sah es der Senat zudem als unerheblich
an, dass einige inländische Privatschulen nur geringere
Zuschüsse erhalten und daher ein höheres Schulgeld
erhoben hatten, da derartige Sonderfälle an der
grundsätzlichen Beurteilung nichts änderten. Hierzu
berief sich der Senat u.a. auf den Schlussantrag des Generalanwalts
Slynn vom 15.3.1988 in der Rechtssache 263/86 - Humbel und Edel -
(Slg. 1988, I-5365). In diesem Verfahren hat der EuGH entschieden,
ein Unterricht an einer Fachschule, der innerhalb des nationalen
Bildungswesens zum Sekundarunterricht gehörte, sei nicht als
Dienstleistung i.S. des Art. 56 AEUV zu qualifizieren (Urteil in
Slg. 1988, I-5365, Rz 14 ff.).
|
|
|
77
|
Die Auffassung des Senats ist zwar im Ergebnis
vom EuGH im Jahr 2007 nicht geteilt worden. Liest man aber die vom
Senat in Bezug genommene Passage des Generalanwalts Slynn in dem
Verfahren Humbel und Edel, konnte sich daraus durchaus der Eindruck
ergeben, dass sich an der Beurteilung von Schulleistungen als
Dienstleistungen der Sozialpolitik - und damit an der Einordnung
als nicht entgeltliche Dienstleistungen - auch dann nichts
ändere, wenn ausnahmsweise von einer Privatschule
kostendeckendes Schulgeld erhoben werde. Die vom Senat daraus
gezogene Schlussfolgerung, damit seien auch Privatschulen gemeint,
lag nicht fern und kann kein offenkundiges Verkennen der
EuGH-Rechtsprechung begründen.
|
|
|
78
|
(c) Aus denselben Gründen geht der
Einwand der Kläger fehl, im Ausgangsrechtsstreit sei vom BFH
verkannt worden, dass die passive Dienstleistungsfreiheit der
Kläger verletzt worden sei. Der Senat hat in seinem Urteil in
BFHE 183, 436, BStBl II 1997, 617 = SIS 97 22 89, unter III.1.
ausdrücklich unter Bezugnahme auf die einschlägige
EuGH-Rechtsprechung dargelegt, der Empfänger einer
Dienstleistung dürfe - auch steuerrechtlich - nicht deshalb
benachteiligt werden, weil er eine Dienstleistung in einem anderen
Mitgliedstaat in Anspruch nehme. Der Senat hat aber - wie gerade
dargestellt - seine Beurteilung, ob überhaupt der
Anwendungsbereich der durch den EG geschützten
Dienstleistungsfreiheit betroffen ist, auf die Verhältnisse
des Ansässigkeitsstaats des Dienstleistungsempfängers
gestützt und nicht auf die des Staates, in dem der
Dienstleistungserbringer ansässig ist.
|
|
|
79
|
(d) Der BFH hat auch nicht dadurch die
EuGH-Rechtsprechung offenkundig verkannt, dass er die mögliche
Verletzung der allgemeinen Freizügigkeit nicht geprüft
hat, obwohl er den Anwendungsbereich der spezielleren
Dienstleistungsfreiheit verneint hat.
|
|
|
80
|
Der Vertrag über die Europäische
Union vom 7.2.1992 (BGBl II 1992, 1253), durch den die
Unionsbürgerschaft in den EG-Vertrag aufgenommen wurde, ist
erst am 1.11.1993 in Kraft getreten (BGBl II 1993, 1947), war im
Streitjahr 1992 also noch nicht anzuwenden. Zudem wurde in dessen
Dritten Teil in Titel VIII ein Kapitel 3 eingefügt, das sich
mit der allgemeinen und beruflichen Bildung befasst. Bis zu dieser
Erweiterung des Geltungsbereichs des Vertrages fielen nur
Regelungen, die den Zugang zur Berufsausbildung betrafen, in dessen
Anwendungsbereich, nicht jedoch Regelungen in Bezug auf allgemein
bildende Schulen (vgl. dazu auch die Schlussanträge der
Generalanwältin Stix-Hackl vom 21.9.2006 C-76/05, Slg. 2007,
I-6849, Rz 91).
|
|
|
81
|
Bezüglich der Streitjahre 1994 bis 1997
hat der BFH mit seiner Entscheidung, eine Revision der Kläger
nicht zuzulassen, das Unionsrecht ebenfalls nicht verkannt. In der
Begründung ihrer Nichtzulassungsbeschwerde hatten die
Kläger nicht einmal ansatzweise eine mögliche Verletzung
des damaligen Gemeinschaftsrechts als Grund für die Zulassung
der Revision geltend gemacht. Vielmehr hatten sie sich
ausschließlich auf die Rüge der Verletzung nationalen
Verfassungsrechts beschränkt. Gegenstand der Prüfung des
BFH im Rahmen des Beschwerdeverfahrens gemäß
§§ 115, 116 FGO sind jedoch grundsätzlich nur die
ausdrücklich und ordnungsgemäß gerügten
Zulassungsgründe (s. BFH-Beschluss vom 27.11.2001 XI B 123/01,
BFH/NV 2002, 542 = SIS 02 58 88; Seer in Tipke/Kruse, a.a.O.,
§ 116 FGO Rz 30; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7.
Aufl., § 116 Rz 55).
|
|
|
82
|
(e) Eine offenkundige Verkennung der
EuGH-Rechtsprechung kann sich auch nicht daraus ergeben, dass der
BFH seine Vorlagepflicht gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV
offenkundig verletzt hätte.
|
|
|
83
|
Wie sich im Bereich der Staatshaftung wegen
Verletzung von Unionsrecht durch die Judikative die Verletzung des
materiellen Rechts und die Verletzung der Vorlagepflicht zueinander
verhalten, ist zwar bislang nicht vollkommen geklärt, bedarf
im Streitfall aber keiner weiteren Klärung. Es ist
zunächst davon auszugehen, dass im Ausgangspunkt der
Primärverstoß gegen die im jeweiligen Ausgangsstreit
umstrittene unionsrechtliche Regelung entscheidend ist (vgl.
Kokott/Henze/Sobotta, Juristenzeitung - JZ - 2006, 633, 637).
Welche Auswirkungen dann ein Verstoß gegen die Vorlagepflicht
haben könnte, ist bislang vom EuGH insoweit entschieden
worden, dass die Voraussetzungen eines unionsrechtlichen
Staatshaftungsanspruchs dann nicht vorliegen, wenn weder bei der
Auslegung des Primärrechts noch bei der Vorlagepflicht
offenkundig die EuGH-Rechtsprechung missachtet wurde (s.
EuGH-Urteil Köbler in Slg. 2003, I-10239; ebenso
Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633, 637).
|
|
|
84
|
Ein solcher Fall ist vorliegend gegeben. Ein
offenkundiger Verstoß gegen Art. 56 und Art 21 AEUV ist - wie
gerade dargestellt - nicht erkennbar. Ebenso wenig hat der Senat
seine Vorlagepflicht offenkundig verletzt. Er hat seine
Entscheidung, das Verfahren in BFHE 183, 436, BStBl II 1997, 617 =
SIS 97 22 89 nicht dem EuGH vorzulegen, darauf gestützt, dass
eine gesicherte Rechtsprechung des EuGH auch dann vorliege, wenn
die streitigen Fragen nicht vollkommen mit den vom EuGH bereits
entschiedenen Fragen identisch seien und insoweit das EuGH-Urteil
C.I.L.F.I.T. in Slg. 1982, I-3415 angewendet. Der Senat hat die
Voraussetzungen dieses EuGH-Urteils bejaht, weil er die
EuGH-Rechtsprechung, nach der Schulgelder für die Teilnahme am
Unterricht staatlicher Bildungssysteme kein Entgelt für eine
Dienstleistung sind und dies auch für den Unterricht einer im
Wesentlichen aus öffentlichen Mitteln finanzierten Schule
gilt, dahingehend ausgelegt hat, dass damit auch die Frage
beantwortet werden könne, unter welchen Umständen der
Unterricht an einer privaten Schule als Dienstleistung anzusehen
sei. Dass der EuGH zehn Jahre später eine andere Auffassung
vertreten hat, bedeutet nicht, dass der Senat die im Zeitpunkt
seiner Entscheidung bekannte EuGH-Rechtsprechung zur Vorlagepflicht
offenkundig verkannt hat.
|
|
|
85
|
4. Da der Billigkeitserlass eine
Ermessensentscheidung der Behörde ist (Beschluss des
Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom
19.10.1971 GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603 = SIS 72 03 54), unterliegt er gemäß § 102 FGO lediglich
einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle. Zu prüfen
ist daher bei einer Erlassablehnung nur, ob die Finanzbehörde
bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens
überschritten oder von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der
Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat.
Unter Berücksichtigung der vorstehenden Begründung unter
2. und 3. ist ein Ermessensfehler des FA nicht erkennbar.
|
|
|
86
|
5. Der Senat ist - im Gegensatz zur Auffassung
und den Anträgen der Kläger - nicht verpflichtet, eine
Vorabentscheidung des EuGH gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV
herbeizuführen.
|
|
|
87
|
a) Die entscheidungsrelevante Rechtsfrage des
Streitfalls ist, ob das FA bei der Ablehnung des
Billigkeitsantrages der Kläger sein Ermessen gemäß
§ 227 AO ordnungsgemäß ausgeübt hat, d.h. ob
es bei seiner Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens
überschritten oder von seinem Ermessen in einer dem Zweck der
Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht
hat.
|
|
|
88
|
Die Überprüfung dieser
behördlichen Ermessensentscheidung, in der die
rechtskräftige Versagung des Sonderausgabenabzugs nicht als so
offenkundig unionsrechtswidrig und der EuGH-Rechtsprechung
widersprechend angesehen wird, dass sie unbillig wäre, obliegt
dem nationalen Gericht. Es ist - auch nach der EuGH-Rechtsprechung
(s. EuGH-Urteil i-21 und Arcor in Slg. 2006, I-8559, Rz 71) - seine
Aufgabe zu beurteilen, ob eine mit dem Gemeinschaftsrecht
unvereinbare Entscheidung offensichtlich rechtswidrig im Sinne des
betreffenden nationalen Rechts ist.
|
|
|
89
|
b) Die von den Klägern formulierten
Vorlagefragen sind entweder nicht entscheidungserheblich oder sie
können durch die Rechtsprechung des EuGH beantwortet
werden.
|
|
|
90
|
aa) Der ersten, zweiten sowie fünften
Vorlagefrage fehlt die Entscheidungserheblichkeit.
|
|
|
91
|
§ 227 AO beschränkt sich - anders
als § 48 VwVfG - nicht darauf, der Behörde ein Ermessen
einzuräumen, sondern enthält zusätzlich als
gesetzliche Voraussetzung die Unbilligkeit der Einziehung der
Steuer. Damit stellt sich die erste Vorlagefrage im Streitfall gar
nicht.
|
|
|
92
|
Da bereits die erste Voraussetzung der
Kühne & Heitz-Rechtsprechung vorliegend nicht erfüllt
wurde, bedarf es auch keiner Erläuterungen, wie deren dritte
Voraussetzung zu verstehen wäre.
|
|
|
93
|
Den beiden von den Klägern in der
fünften Vorlagefrage genannten EuGH-Urteilen liegen
Sachverhalte zugrunde, in denen nach nationalem Verfahrensrecht
eine Änderung eines unionsrechtswidrigen Verwaltungsaktes
möglich war. Eine solche Änderungsmöglichkeit sieht
jedoch die AO für Steuerbescheide nicht vor (vgl. dazu oben
unter II.2.a).
|
|
|
94
|
bb) Die dritte Vorlagefrage der Kläger
kann unter Berücksichtigung und Auslegung der
langjährigen Rechtsprechung des EuGH zur Verfahrensautonomie
der Mitgliedstaaten sowie zur Rechts- und Bestandskraft
behördlicher und gerichtlicher Entscheidungen und deren
Begrenzung durch das Effektivitäts- und Äquivalenzprinzip
beantwortet werden; insofern wird auf die Ausführungen unter
II.3. verwiesen.
|
|
|
95
|
cc) Die Vereinbarkeit einer nationalen
Regelung, nach der die gegen das Unionsrecht verstoßende
Steuerfestsetzung ohne behördliche Überprüfung
endgültig und nicht abänderbar ist, mit dem
Effektivitätsprinzip hat der EuGH bereits bejaht, so dass auch
die vierte Frage nicht zur Vorlage führen kann. In der
Rechtssache Kapferer in Slg. 2006, I-2585 hatte das vorlegende
Gericht ausdrücklich gefragt, ob der in Art. 10 EG (jetzt Art.
4 Abs. 3 EUV) verankerte Grundsatz der Zusammenarbeit, der das
Effektivitätsprinzip umfasst, dahingehend auszulegen sei, dass
auch ein nationales Gericht nach den in der Rechtssache Kühne
& Heitz dargelegten Voraussetzungen verpflichtet sei, eine
rechtskräftige gerichtliche Entscheidung zu
überprüfen und aufzuheben, wenn diese gegen das
Unionsrecht verstoße. Die Antwort des EuGH lautete, das
Unionsrecht gebiete es einem nationalen Gericht nicht, von der
Anwendung innerstaatlicher Vorschriften, aufgrund deren eine
Entscheidung Rechtskraft erlange, abzusehen, selbst wenn dadurch
ein Verstoß gegen das Unionsrecht abgestellt werden
könne. Die Mitgliedstaaten hätten jedoch dafür zu
sorgen, dass die Grundsätze der Gleichwertigkeit und der
Effektivität gewährleistet blieben. Dieser Beurteilung
stehe auch das Urteil Kühne & Heitz nicht entgegen (Urteil
Kapferer in Slg. 2006, I-2585, Rz 21 und 23).
|
|
|
96
|
dd) Es dürfte unstreitig sein, dass zur
effektiven Rechtsschutzgewährung durch das nationale Recht
auch gehört, es dem Betroffenen zu ermöglichen, einen
unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch geltend zu machen. Dessen
unionsrechtliche Anforderungen, insbesondere die Notwendigkeit
eines „offenkundigen“ Verstoßes gegen
Unionsrecht bei einer richterlichen Entscheidung, wurden vom EuGH
vor allem in seinem Urteil Köbler in Slg. 2003, I-10239, Rz 51
ff. herausgearbeitet, so dass der Senat auch die sechste Frage dem
EuGH nicht vorlegen musste.
|
|
|
97
|
6. Die Kostenentscheidung beruht auf §
135 Abs. 2 FGO.
|
|
|