1
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I. Streitig ist im Rahmen eines Verfahrens
wegen Aussetzung der Vollziehung (AdV) die
Rechtmäßigkeit einer Steuerfestsetzung, bei der im
Streitjahr 2007 ein Verlustvortrag, der im Folgejahr von einem
weiteren Einfluss auf die Bemessungsgrundlage endgültig
ausgeschlossen wurde, nur zu einem Teil bei der Ermittlung des zu
versteuernden Einkommens einkommensmindernd zum Ansatz kam (sog.
Mindestbesteuerung).
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2
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Die Antragstellerin und Beschwerdegegnerin
(Antragstellerin), eine GmbH, ist Gesamtrechtsnachfolgerin der
H-GmbH, für die zum 31.12.2006 ein Verlustvortrag in Höhe
von 35.303.643 EUR festgestellt worden war. Der Gesamtbetrag der
Einkünfte der H-GmbH für das Streitjahr betrug 4.361.627
EUR. Der Antragsgegner und Beschwerdeführer (das Finanzamt -
FA - ) setzte insoweit nach Maßgabe des § 8 Abs. 1 des
Körperschaftsteuergesetzes (KStG 2002) i.V.m. § 10d Abs.
2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG 2002) i.d.F. des
Gesetzes zur Umsetzung der Protokollerklärung der
Bundesregierung zur Vermittlungsempfehlung zum
Steuervergünstigungsabbaugesetz vom 22.12.2003 (BGBl I 2003,
2840, BStBl I 2004, 14) - EStG 2002 n.F. - eine
Körperschaftsteuer in Höhe von 331.273 EUR fest. In 2008
kam es zu einem Gesellschafterwechsel bei der H-GmbH und einer
Verschmelzung; in der Folge entfiel gemäß § 8c KStG
2002 i.d.F. des Unternehmensteuerreformgesetzes 2008 vom 14.8.2007
(BGBl I 2007, 1912, BStBl I 2007, 630) - KStG 2002 n.F. - bzw.
gemäß § 12 Abs. 3 i.V.m. § 4 Abs. 2 Satz 2 des
Umwandlungssteuergesetzes (UmwStG 2006) der verbleibende
Verlustabzug zum 31.12.2008 vollständig.
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Das Finanzgericht (FG) hat die Vollziehung
des Steuerbescheids des Streitjahres wegen ernstlicher Zweifel an
der Rechtmäßigkeit der Festsetzung ausgesetzt (FG
Nürnberg, Beschluss vom 17.3.2010 1 V 1379/2009).
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Das FA beantragt mit der vom FG
zugelassenen Beschwerde, den Beschluss des FG aufzuheben und den
Antrag auf AdV des Körperschaftsteuerbescheides 2007
abzulehnen.
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Die Antragstellerin beantragt, die
Beschwerde zurückzuweisen.
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II. Die Beschwerde ist nicht begründet.
Die Rechtmäßigkeit der Steuerfestsetzung des
Streitjahres ist - wie auch das FG entschieden hat - insoweit
ernstlich zweifelhaft, als bei der Einkommensermittlung nach
Maßgabe der sog. Mindestbesteuerung ein Verlustabzug nur
eingeschränkt zugelassen wurde.
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1. Nach § 69 Abs. 3 Satz 1 der
Finanzgerichtsordnung (FGO) kann das Gericht der Hauptsache die
Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes ganz oder
teilweise aussetzen. Die Aussetzung soll - u.a. und soweit hier
einschlägig - erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der
Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes bestehen (§ 69
Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 FGO). Ernstliche Zweifel i.S.
von § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO sind u.a. dann zu bejahen, wenn bei
summarischer Prüfung des angefochtenen Steuerbescheides neben
für seine Rechtmäßigkeit sprechende Umstände
gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder
Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen bewirken (vgl.
Beschluss des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 10.2.1967 III B 9/66,
BFHE 87, 447, BStBl III 1967, 182 = SIS 67 01 06, seitdem
ständige Rechtsprechung). Dies gilt auch für ernstliche
Zweifel an der verfassungsrechtlichen Gültigkeit einer dem
angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm (vgl. z.B.
BFH-Beschluss vom 6.3.2003 XI B 76/02, BFHE 202, 147, BStBl II
2003, 523 = SIS 03 23 68, unter II.1. der Gründe, m.w.N.). An
die Zweifel hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des
angefochtenen Verwaltungsakts sind, wenn die Verfassungswidrigkeit
von Normen geltend gemacht wird, keine strengeren Anforderungen zu
stellen als im Fall der Geltendmachung fehlerhafter Rechtsanwendung
(BFH-Beschluss vom 10.2.1984 III B 40/83, BFHE 140, 396, BStBl II
1984, 454 = SIS 84 04 01).
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2. Es bestehen nach dieser Maßgabe bei
einer wortlautgetreuen Anwendung des § 10d Abs. 2 EStG 2002
n.F. (i.V.m. § 8 Abs. 1 KStG 2002) ernstliche Zweifel an der
Rechtmäßigkeit des angefochtenen Steuerbescheides.
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a) Mit dem Gesetz zur Umsetzung der
Protokollerklärung der Bundesregierung zur
Vermittlungsempfehlung zum Steuervergünstigungsabbaugesetz
ließ der Gesetzgeber den innerperiodischen Verlustausgleich
im Rahmen von § 2 Abs. 3 EStG 2002 n.F. wieder
uneingeschränkt zu, während die Beschränkung des
überperiodischen Verlustabzugs nach § 10d Abs. 2 EStG
2002 n.F. beibehalten und verschärft wurde: Verluste, die
weder im Veranlagungszeitraum ihrer Entstehung noch im Wege des
Verlustrücktrags ausgeglichen werden konnten, sind ab
Veranlagungszeitraum 2004 im Rahmen des Verlustvortrags nur noch
begrenzt verrechnungsfähig. Gemäß § 10d Abs. 2
Satz 1 EStG 2002 n.F. können sie nur noch bis zu einem
Gesamtbetrag der Einkünfte von 1 Mio. EUR unbeschränkt
abgezogen werden. Darüber hinausgehende negative
Einkünfte aus früheren Veranlagungszeiträumen sind
nur noch in Höhe von 60 % des 1 Mio. EUR übersteigenden
Gesamtbetrags der Einkünfte ausgleichsfähig. Im Ergebnis
werden 40 % des positiven Gesamtbetrags der laufenden
Einkünfte eines Veranlagungszeitraums unabhängig von
etwaigen Verlusten in früheren Perioden der Besteuerung
unterworfen, soweit sie die Schwelle von 1 Mio. EUR
überschreiten. Diese Neuerungen im Bereich der Einkommensteuer
sind auch bei der Veranlagung der Antragstellerin im Streitjahr zu
beachten (§ 8 Abs. 1 KStG 2002), was unter den Beteiligten im
Grundsatz nicht streitig ist.
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b) Die Begründung zum Regierungsentwurf
des § 10d Abs. 2 EStG 2002 n.F. (BTDrucks 15/1518, S. 13)
führt an, dass „der Grund für die
Beschränkung ... in dem gewaltigen Verlustvortragspotenzial
der Unternehmen zu sehen (sei), das diese vor sich herschieben. Um
das Steueraufkommen für die öffentlichen Haushalte
kalkulierbarer zu machen, ist es geboten, den Verlustvortrag zu
strecken. Nur so ist auf Dauer eine Verstetigung der
Staatseinnahmen gewährleistet.“ Darüber hinaus
wird darauf hingewiesen, dass durch die sog. Mindestbesteuerung
„keine Verluste endgültig verloren“ gehen
würden. Damit ist dem Regierungsentwurf eine
ausschließlich fiskalischen Interessen geschuldete
Begründung beigestellt worden (so auch die systematisierende
Zuordnung durch Dorenkamp, Systemgerechte Neuordnung der
Verlustverrechnung - Haushaltsverträglicher Ausstieg aus der
Mindestbesteuerung, in Institut „Finanzen und
Steuern“ - FiSt -, Schrift Nr. 461, 2010, S. 27 ff.).
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c) Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat
sich bereits mehrfach - wenn auch noch nicht zu § 10d Abs. 2
EStG 2002 n.F. - zu Einschränkungen des Verlustvortrags
geäußert. Danach ist ein uneingeschränkter
Verlustvortrag verfassungsrechtlich nicht garantiert. Die
Beschränkung des Verlustvortrags auf bestimmte Einkunftsarten
und damit der Ausschluss anderer Einkunftsarten von jeglichem
Verlustvortrag war ebenso wenig verfassungsrechtlich zu beanstanden
(BVerfG-Beschluss vom 8.3.1978 1 BvR 117/78, HFR 1978, 293) wie die
Beschränkung des Verlustvortrags auf bestimmte, durch
Betriebsvermögensvergleich ermittelte Betriebsverluste
(BVerfG-Beschluss in HFR 1978, 293; vgl. auch BVerfG-Beschluss vom
30.10.1980 1 BvR 785/80, HFR 1981, 181). Nach der Rechtsprechung
des BVerfG bestanden ferner unter Berücksichtigung des
verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Besteuerung nach der
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit keine
verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine Beschränkung des
Verlustabzugs auf einen einjährigen Verlustrücktrag und
einen fünfjährigen Verlustvortrag (BVerfG-Beschluss vom
22.7.1991 1 BvR 313/88, HFR 1992, 423). Allerdings hat das BVerfG
im Beschluss vom 30.9.1998 2 BvR 1818/91 (BVerfGE 99, 88 = SIS 98 23 05) den völligen Ausschluss der Verlustverrechnung bei
laufenden Einkünften aus der Vermietung beweglicher
Gegenstände (§ 22 Nr. 3 Satz 3 EStG 1983) für
verfassungswidrig erklärt.
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d) Nach der Rechtsprechung des BFH (vgl. dazu
die Nachweise im Senatsurteil vom 1.7.2009 I R 76/08, BFHE 225, 566
= SIS 09 28 67 und - zu der ebenfalls eine Mindestbesteuerung
vorsehenden Regelung des § 10a des Gewerbesteuergesetzes
[GewStG 2002] - in dem BFH-Beschluss vom 27.1.2006 VIII B 179/05,
BFH/NV 2006, 1150 = SIS 06 21 73) bestehen im Hinblick auf Art. 3
Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) grundsätzlich insoweit keine
Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit einer
Verlustausgleichsbeschränkung, als der Verlustausgleich nicht
versagt, sondern lediglich zeitlich gestreckt wird. Eine
Verlagerung des Verlustausgleichs auf spätere
Veranlagungszeiträume ist im Hinblick darauf nicht zu
beanstanden, dass das Grundrecht seine Wirkung grundsätzlich
veranlagungszeitraumübergreifend entfaltet. Es genügt,
wenn die Verluste überhaupt, sei es auch in einem anderen
Veranlagungszeitraum, steuerlich berücksichtigt werden.
Insbesondere erstarkt die bei ihrer Entstehung gegebene bloße
Möglichkeit, die Verluste später ausgleichen zu
können, nicht zu einer grundrechtlich geschützten
Vermögensposition (Art. 14 Abs. 1 GG - dies relativierend
Beschluss des Großen Senats des BFH vom 17.12.2007 GrS 2/04,
BFHE 220, 129, BStBl II 2008, 608 = SIS 08 13 73, zu D.II.2.).
Immerhin hat der BFH in seinem Beschluss vom 29.4.2005 XI B 127/04
(BFHE 209, 379, BStBl II 2005, 609 = SIS 05 25 19), in dem eine
Beschränkung des Verlustvortrags, wenn der Vortrag zeitlich
über mehrere Veranlagungszeiträume gestreckt wird,
grundsätzlich gebilligt wurde, ausgeführt, dass damit
nicht zugleich über die Konstellation entschieden sei, dass
„negative Einkünfte aus tatsächlichen oder
rechtlichen Gründen“ in einem solchen System
„nicht mehr vorgetragen werden können“.
Darüber hinaus hat der XI. Senat des BFH in seinem
Vorlagebeschluss an das BVerfG vom 6.9.2006 XI R 26/04 (BFHE 214,
430, BStBl II 2007, 167 = SIS 06 44 12) hervorgehoben, dass die
sog. Mindeststeuer durchaus den Schutzbereich des Art. 3 Abs. 1 GG
berühre; auch wenn in mehreren summarischen Verfahren nach
§ 69 Abs. 2 und 3 FGO wegen der die Veranlagungszeiträume
übergreifenden Wirkung des Art. 3 Abs. 1 GG die Norm als
verfassungsgemäß angesehen worden sei, sei nicht zu
verkennen, dass die Begrenzung des vertikalen Verlustausgleichs (im
dortigen Streitfall durch § 2 Abs. 3 EStG 2002) trotz der
Streckung der Verlustverrechnung nicht nur bei einer kleinen Zahl
von Steuerpflichtigen mit gleicher wirtschaftlicher
Leistungsfähigkeit zu nennenswerten Belastungsunterschieden
führen könne. Auch bestehe naturgemäß keine
Gewissheit, die Verluste in Zukunft verrechnen zu können.
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e) In der Literatur wird die sog.
Mindestbesteuerung teilweise für verfassungskonform gehalten
(z.B. Lambrecht in Kirchhof, EStG, 9. Aufl., § 10d Rz 4;
Schlenker in Blümich, EStG/KStG/ GewStG, § 10d EStG Rz 6;
Schneider/Krammer in Littmann/Bitz/ Pust, Das Einkommensteuerrecht,
§ 10d Rz 6; Müller-Gatermann, Die Wirtschaftsprüfung
- WPg - 2004, 467, 468): Die im Einzelfall eintretende
Einschränkung des objektiven Nettoprinzips habe der
Gesetzgeber ohne Verstoß gegen das allgemeine
Willkürverbot in vertretbarer Weise ausgestaltet, da sich
Beschränkungen des Verlustvortrags in
betragsmäßiger oder zeitlicher Hinsicht jedenfalls im
Grundsatz als verfassungskonform erwiesen hätten. Dem wird von
anderer Seite entgegengehalten, die durch die
„Deckelung“ des Abzugsbetrages bewirkte
zeitliche Streckung des Verlustvortrages sei schon „als
solche“ verfassungswidrig (s. z.B. Röder, Das System
der Verlustverrechnung im deutschen Steuerrecht, 2010, S. 263 ff.,
355 ff.; Mönikes, Die Verlustverrechnungsbeschränkungen
des Einkommensteuergesetzes im Lichte der Verfassung, 2006, S. 223
ff.; Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., § 9 Rz 66;
Lang/ Englisch, Steuer und Wirtschaft - StuW - 2005, 3, 21 ff.;
Lindauer, BB 2004, 2720, 2723 f.; Raupach in Lehner [Hrsg.],
Verluste im nationalen und Internationalen Steuerrecht, 2004, S.
53, 60 f.; Eckhoff in von Groll [Hrsg.], Verluste im Steuerrecht,
Veröffentlichungen der Deutschen Steuerjuristischen
Gesellschaft - DStJG - Bd. 28 [2005], S. 11, 34; Kaminski in Korn,
EStG, § 10d Rz 84.28). Andere Literaturstimmen nehmen einen
Verfassungsverstoß der sog. Mindestbesteuerung nur in den
Fällen an, in denen ein Verlust nicht nur zeitlich gestreckt,
sondern von einer Wirkung auf die Ermittlung des Einkommens
endgültig ausgeschlossen wird
(„Definitiveffekte“, s. z.B. Hallerbach in
Herrmann/Heuer/ Raupach, EStG/KStG, § 10d EStG Rz 13; Wendt,
DStJG, Band 28, S. 41, 74 ff.; Fischer, FR 2007, 281, 283 ff.; wohl
auch Herzig/Wagner, WPg 2004, 53, 63 f.; Kempf/Vogel in
Lüdicke/Kempf/Brink [Hrsg.], Verluste im Steuerrecht, 2010, S.
81), wobei insoweit auch eine verfassungskonforme Reduktion des
Wortlauts des § 10d Abs. 2 Satz 1 EStG 2002 n.F. für
möglich gehalten wird (z.B. Wendt, DStJG, Band 28, S. 41, 78;
Fischer, FR 2007, 281, 285 f.). Solche Effekte können im
Unternehmensbereich insbesondere auftreten bei der Liquidation
körperschaftsteuerpflichtiger Unternehmen, soweit es sich um
zeitlich begrenzt bestehende Projektgesellschaften handelt, aber
auch etwa bei bestimmten Unternehmensgegenständen (z.B. bei
langfristiger Fertigung) und in Sanierungsfällen (s.
Lang/Englisch, StuW 2005, 3, 21 ff.; s.a. Dorenkamp, FiSt Nr. 461,
S. 33 f.; Orth, FR 2005, 515, 530; Herzig/Wagner, Wpg 2004, 53, 58
ff.; Lindauer, BB 2004, 2720, 2722 f.).
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3. Der erkennende Senat hat in seinem Urteil
vom 11.2.1998 I R 81/97 (BFHE 185, 393, BStBl II 1998, 485 = SIS 98 16 36) hervorgehoben, dass die Abzugsfähigkeit von Verlusten
nicht in ihrem Kernbereich betroffen und gänzlich
ausgeschlossen sein dürfe (s.a. Senatsurteil vom 5.6.2002 I R
115/00, BFH/NV 2002, 1549 = SIS 03 02 22). Diesem Maßstab
wird § 10d Abs. 2 EStG 2002 n.F. - bei der im Verfahren auf
Gewährung von AdV gebotenen summarischen Prüfung der
Sach- und Rechtslage - dann nicht gerecht, wenn ein sog.
Definitiveffekt eintritt.
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15
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a) Die Grundkonzeption der zeitlichen
Streckung des Verlustvortrages dürfte auch angesichts des
Zins- bzw. Liquiditätsnachteils den verfassungsrechtlichen
Anforderungen noch entsprechen. Insoweit entnimmt der Senat der
neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine
Unterscheidung zwischen temporären und endgültigen
Steuereffekten (s. den BVerfG-Beschluss vom 12.5.2009 2 BvL 1/00,
BVerfGE 123, 111 = SIS 09 21 10; s.a. das BFH-Urteil vom 25.2.2010
IV R 37/07, BFHE 229, 122, BStBl II 2010, 784 = SIS 10 15 76). Wenn
sich danach der maßgebliche Zeitpunkt der
einkommensteuerrechtlichen Berücksichtigung eines
gewinnmindernden Aufwands, also das Wann, nicht das Ob der
Besteuerung, nicht mit Hilfe des Maßstabs wirtschaftlicher
Leistungsfähigkeit oder des objektiven Nettoprinzips bestimmen
lässt, dürfte eine „Verluststreckung“
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sein. Dabei wird es auch
innerhalb der gesetzgeberischen Typisierungsbefugnis (z.B.
BVerfG-Beschluss vom 17.11.2009 1 BvR 2192/05 = SIS 10 02 74, BGBl
I 2010, 326) liegen, dass die zeitliche Streckung des
Verlustvortrags das Risiko für den einkommenswirksamen Abzug
des Verlustes erhöht, da „naturgemäß keine
Gewissheit besteht, die Verluste in Zukunft verrechnen zu
können“ (Senatsurteil in BFHE 225, 566 = SIS 09 28 67; BFH-Beschluss in BFHE 214, 430, BStBl II 2007, 167 = SIS 06 44 12). Diesem Ergebnis dürfte auch die Existenz verschiedener
gesetzlicher Regelungen („abstrakt“) nicht
entgegenstehen, die als Rechtsfolge eine
„Vernichtung“ von Verlustvorträgen in
bestimmten Fallsituationen vorsehen (z.B. im Zuge einer
Anteilsübertragung: § 8c KStG 2002 n.F.); eher
dürfte (umgekehrt) die Existenz der sog. Mindestbesteuerung
dazu geeignet sein, den belastenden Effekt jener Regelungen
aufzuzeigen (z.B. Hey, BB 2007, 1303, 1306). Dies gilt
sinnentsprechend z.B. auch für die Situation der Beendigung
der persönlichen Steuerpflicht angesichts der fehlenden
Möglichkeit der „Verlustvererbung“
(BFH-Beschluss in BFHE 220, 129, BStBl II 2008, 608 = SIS 08 13 73).
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b) Diese Grenze zum Kernbereich der
Gewährleistung eines Verlustausgleichs könnte aber
überschritten sein, wenn auf der Grundlage eines inneren
Sachzusammenhangs bzw. einer Ursachenidentität der sog.
Mindestbesteuerung („konkret“) die Wirkung
zukommt, den Verlustabzug gänzlich auszuschließen.
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In diesem Zusammenhang hat das FG München
in seinem (AdV-)Beschluss vom 31.7.2008 8 V 1588/08 (EFG 2008, 1736
= SIS 08 37 37) bei der Anwendung des § 10a GewStG 2002 auf
eine „Übermaßbesteuerung“ und einen
Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG erkannt, soweit durch einen
Gesellschafterwechsel bei einer Personengesellschaft zwar
einerseits ein außerordentlicher Gewerbeertrag i.S. des
§ 7 Satz 2 Nr. 2 GewStG 2002 besteuert, andererseits der zum
31. Dezember des Vorjahres festgestellte vortragsfähige
Gewerbeverlust nur eingeschränkt zum Ausgleich zugelassen
wurde; der Steuerpflichtige werde auf die Möglichkeit des
späteren Verlustausgleichs verwiesen, obgleich feststehe, dass
dieser infolge der Veräußerung des Mitunternehmeranteils
nicht mehr in Betracht komme. Die Finanzverwaltung zieht aus diesem
Beschluss keine weitergehenden Folgerungen (s. Schreiben des
Bundesministeriums der Finanzen - BMF - vom 5.1.2009, DB 2009,
877). Auch sie verzichtet in Sanierungsfällen aber -
allerdings antragsgebunden und aus Billigkeits-, nicht aus
Rechtsgründen (ebenso FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom
15.6.2010 6 K 6216/06 B, nicht veröffentlicht) - bis zur
Höhe des (durch den Erlass von Schulden veranlassten)
Sanierungsgewinns auf die Beschränkung der Verlustverrechnung
durch die sog. Mindestbesteuerung (BMF-Schreiben vom 27.3.2003,
BStBl I 2003, 240 = SIS 03 19 23 Tz. 8; zur Rechtsverbindlichkeit
dieses Schreibens bei unternehmensbezogenen Sanierungen s.
BFH-Urteil vom 14.7.2010 X R 34/08, BFHE 229, 502 = SIS 10 22 93).
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18
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c) Es ist nicht von vornherein
auszuschließen, dass dieser Fallgruppe (s. zu b)
gleichzustellen ist, wenn eine Verlustverrechnung aufgrund der
Eigenheiten der Einkunftserzielung (z.B. zeitlich begrenzt
tätige Objektgesellschaften) oder eines anderen
„tatsächlichen oder rechtlichen Grundes“
(s. insoweit BFH-Beschluss in BFHE 209, 379, BStBl II 2005, 609 =
SIS 05 25 19) zum endgültigen Ausschluss der
Verlustnutzungsmöglichkeit führt.
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aa) Für die zuletzt genannte Situation
ist dabei die Prüfung nicht isoliert auf § 10d Abs. 2
EStG 2002 n.F. zu beziehen, vielmehr kann diese Wirkung auch auf
einer im konkreten Streitfall verwirklichten Verbindung mit anderen
Rechtsvorschriften beruhen. In diesem Zusammenhang wird man es
jedenfalls nach summarischer Prüfung nicht als
entscheidungserheblich ansehen müssen, dass eine solche
Rechtsfolge auf dem eigenständigen Willen des
Steuerpflichtigen beruht (im Streitfall: Umstrukturierung; so aber
offenbar FG München, Urteil vom 4.8.2010 1 K 608/07, nicht
veröffentlicht); man wird allerdings Regelungen
auszuschließen haben, die der Missbrauchsvermeidung dienen.
Letzteres ist bei der im Streitfall einschlägigen Regelung des
§ 8c Abs. 1 KStG 2002 n.F. (jedenfalls vor der für
schädliche Beteiligungserwerbe nach dem 31.12.2009 vollzogenen
Einfügung der Sätze 6 und 7 durch das
Wachstumsbeschleunigungsgesetz vom 22.12.2009, BGBl I 2009, 3950,
BStBl I 2010, 2) allerdings (und abweichend von der
Vorgängerregelung des § 8 Abs. 4 KStG 2002 a.F., vgl.
Senatsurteil vom 27.8.2008 I R 78/01, BFHE 222, 568 = SIS 09 00 44)
nicht ohne weiteres anzunehmen.
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bb) Insoweit geht es in der Sache um die
Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung des §
10d Abs. 2 Satz 1 EStG 2002 n.F. im Streitjahr (z.B. Wendt, DStJG,
Band 28, S. 41, 78; Fischer, FR 2007, 281, 285 f.; ablehnend z.B.
Röder, a.a.O., S. 357; Lang/Englisch, StuW 2005, 3, 14;
Hallerbach in Herrmann/Heuer/Raupach, a.a.O., § 10d EStG Rz
13), die aufgrund der im Folgejahr eintretenden Rechtsfolge der
„Verlustvernichtung“ erforderlich wird.
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21
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Dieser möglichen Auslegung steht das
gesetzgeberische Konzept der „Verluststreckung“
nicht entgegen. Denn es ist nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber
bei der Ausgestaltung der sog. Mindestbesteuerung deren
überschießende Wirkung in einer Vielzahl von
Fallsituationen (z.B. bei einer nachfolgenden
Anteilsübertragung) bewusst in Kauf genommen hat (zweifelnd
Wüllenkemper, EFG 2008, 1738, 1739). Die Rechtfertigung eines
solchen Eingriffs dürfte allein unter dem Gesichtspunkt einer
„Verstetigung der Steuereinnahmen“ - als
Ausprägung des allgemeinen Fiskalzwecks jeder Steuer
(Röder, a.a.O., S. 274) - nicht ausreichend sein (s. zum
„Ziel der Einnahmenvermehrung“ BVerfG-Beschluss
vom 6.7.2010 2 BvL 13/09, DStR 2010, 1563 = SIS 10 19 16; s.a.
Röder, a.a.O., S. 269 ff., 273 ff., 278 f., 356;
Lang/Englisch, StuW 2005, 3, 10 f.; Mönikes, a.a.O., S. 226
ff.; Fischer, FR 2007, 281, 285). Auch ein Verstoß gegen das
Prinzip der Abschnittsbesteuerung dürfte in dieser Restriktion
des Regelungswortlauts entgegen der Ansicht des FA nicht liegen, da
- was die Existenz des Verlustvor- und -rücktrags (§ 10d
EStG 2002 n.F.) anzeigt - die ertragsteuerliche
Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen insoweit durchaus
abschnittsübergreifend ermittelt wird. Verfahrensrechtlich
ließe sich dieses Auslegungsergebnis durch die Beifügung
eines Vorläufigkeitsvermerks i.S. des § 165 Abs. 1 Satz 1
der Abgabenordnung (AO) in den Fällen einer Besteuerung auf
der Grundlage der sog. Mindestbesteuerung absichern. Denkbar
wäre es auch, in der verlustabzugsschädlichen
Veräußerung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft
ein auf den Veranlagungszeitraum des Eingreifens der
Mindestbesteuerung rückwirkendes Ereignis i.S. des § 175
Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO zu sehen (so Kempf/Vogel in
Lüdicke/Kempf/Brink, a.a.O., S. 81).
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22
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4. Das FG hat daher im angefochtenen Beschluss
zu Recht wegen ernstlicher Zweifel an der Rechtmäßigkeit
der Steuerfestsetzung eine AdV für das Streitjahr angeordnet.
Dies gilt ungeachtet der Möglichkeit, den belastenden Eingriff
im konkreten Fall auf das Jahr des endgültigen Ausschlusses
des Verlustvortrags (das Folgejahr) zu beziehen und damit
ausschließlich der - nach einer häufig in der Literatur
vertretenen Ansicht (stellvertretend Roser in Gosch, KStG, 2.
Aufl., § 8c Rz 26, m.w.N.) durchaus ebenfalls mit
verfassungsrechtlichen Zweifeln behafteten - Rechtswirkung des
§ 8c KStG 2002 n.F. zuzuordnen.
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