1
|
I. Der Kläger und Revisionskläger
(Kläger), ein polnischer Staatsangehöriger, ist der Vater
der 1995 und 2000 geborenen Kinder A und S. Er lebt mit seiner
Familie in Polen.
|
|
|
2
|
Vom 30. Mai bis 6. Juli und vom 16. August
bis 12.10.2007 war der Kläger bei einem deutschen Unternehmen
im Inland nichtselbständig beschäftigt. In seinem
Heimatland Polen war er als Selbständiger
sozialversicherungspflichtig. In der von ihm eingereichten
Einkommensteuererklärung 2007 beantragte er, als
unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt zu werden.
Ausweislich der beigefügten Bescheinigung „EU/EWR“
hatte er im Jahr 2007 in Polen keine steuerpflichtigen
Einkünfte erzielt.
|
|
|
3
|
Er beantragte im März 2008 die
Bewilligung von Kindergeld und gab hierbei unter anderem an, dass
seine Ehefrau für den Zeitraum September 2006 bis August 2007
polnische Familienleistungen bezogen habe. Außerdem legte er
eine Lohnsteuerbescheinigung vor. Danach hatte er während
seines Aufenthalts in Deutschland insgesamt 4.236,69 EUR brutto
verdient.
|
|
|
4
|
Die Beklagte und Revisionsbeklagte
(Familienkasse) lehnte den Antrag ab. Einspruch und Klage blieben
erfolglos. Das Finanzgericht (FG) gab zur Begründung an, dass
ein Kindergeldanspruch aufgrund der Regelungen der Verordnung (EWG)
Nr. 1408/71 des Rates vom 14.6.1971 über die Anwendung der
Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und
Selbständige sowie deren Familienangehörige, die
innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (VO Nr. 1408/71), nur
nach polnischem, nicht aber nach deutschem Recht bestehe. Der
Kläger unterliege wegen seiner selbständigen
Tätigkeit in Polen und seiner nur vorübergehenden
unselbständigen Tätigkeit in Deutschland gemäß
Art. 14a Nr. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 den polnischen
Rechtsvorschriften über Familienleistungen. Die Regelungen der
VO Nr. 1408/71 seien abschließend, so dass das deutsche
Kindergeldrecht auch nicht subsidiär anwendbar sei. Den
§§ 62 ff. des Einkommensteuergesetzes (EStG) sei nicht zu
entnehmen, dass deutsches Kindergeldrecht auch dann anzuwenden sei,
wenn nach dem Wortlaut der VO Nr. 1408/71 die Rechtsvorschriften
eines anderen Mitgliedstaats Anwendung fänden. Ein
Anwendungsbefehl zugunsten des nationalen Rechts wäre aber zu
erwarten, weil die VO Nr. 1408/71 als überstaatliches Recht
den nationalen Rechtsvorschriften vorgehe und deren
Anwendungsbereich begrenze.
|
|
|
5
|
Mit seiner Revision macht der Kläger
geltend, dass Art. 14a Nr. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 nicht
einschlägig sei. Nach dem Grundsatz des Art. 13 Abs. 2 der VO
Nr. 1408/71 sei wegen der in Deutschland ausgeübten
nichtselbständigen Beschäftigung daher deutsches Recht
anzuwenden. Das FG habe damit bereits das Gemeinschaftsrecht
fehlerhaft angewandt. Darüber hinaus habe es dem
Gemeinschaftsrecht zu Unrecht eine rechtsnormverkürzende
Wirkung beigemessen. Selbst bei Anwendbarkeit des polnischen Rechts
seien die deutschen Rechtsvorschriften nicht gesperrt. Die
Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH)
vom 20.5.2008 C-352/06, Bosmann (Slg. 2008, I-3827 = SIS 08 27 55)
werde in der Literatur zutreffend so bewertet, dass
europäisches koordinierendes Sozialrecht niemals
rechtsverkürzend oder gar rechtsvernichtend, sondern stets nur
rechtserweiternd wirke.
|
|
|
6
|
Der Kläger beantragt, das FG-Urteil
aufzuheben und die Familienkasse unter Aufhebung des Bescheids vom
2.5.2008 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 29.5.2008 zu
verpflichten, Kindergeld für die Kinder A und S für die
Monate Mai bis einschließlich Oktober 2007
festzusetzen.
|
|
|
7
|
Die Familienkasse beantragt, die Revision
als unbegründet zurückzuweisen.
|
|
|
8
|
Der Kläger habe in keinem
Versicherungspflichtverhältnis zur Bundesagentur für
Arbeit gestanden, sondern der polnischen Sozialversicherung
unterlegen. Da bereits die Versicherung in einem Zweig der sozialen
Sicherheit zur Eröffnung des persönlichen
Anwendungsbereichs der VO Nr. 1408/71 führe, müsse auch
die Frage, in welchem Mitgliedstaat die Beschäftigung
ausgeübt werde, am Versichertenstatus festgemacht werden. Das
Versicherungsland habe daher als Beschäftigungsland i.S. der
Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 zu gelten. Es bleibe daher bei der
Zuweisung des hier zu beurteilenden Sachverhalts unter die
polnischen Rechtsvorschriften.
|
|
|
9
|
Die Beteiligten haben auf die
Durchführung einer mündlichen Verhandlung
verzichtet.
|
|
|
10
|
II. Die Revision ist begründet. Sie
führt zur Aufhebung des FG-Urteils und zur
Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1
Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO - ). Das FG ist
rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, dass die deutschen
Kindergeldvorschriften (§§ 62 ff. EStG) deshalb nicht
anwendbar seien, weil der Streitfall gemäß Art. 13 Abs.
1 i.V.m. Art. 14a Nr. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 -
ausschließlich - den polnischen Rechtsvorschriften unterlegen
habe.
|
|
|
11
|
1. Die Familienkasse Sachsen der Bundesagentur
für Arbeit ist aufgrund eines Organisationsaktes (Beschluss
des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit Nr. 21/2013 vom
18.4.2013 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des
Finanzverwaltungsgesetzes, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur
für Arbeit, Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff., Nr. 2.2 der Anlage 2)
im Wege des gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung
der Agentur für Arbeit Wesel (Familienkasse) eingetreten (s.
dazu Beschluss des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 3.3.2011 V B 17/10,
BFH/NV 2011, 1105 = SIS 11 18 86, unter II.A.).
|
|
|
12
|
2. Nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG
hat u.a. Anspruch auf Kindergeld, wer ohne Wohnsitz oder
gewöhnlichen Aufenthalt im Inland nach § 1 Abs. 3 EStG
als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird.
|
|
|
13
|
Die sich aus dieser Norm ergebende
Anspruchsberechtigung entfällt nicht dadurch, dass eine Person
gemäß Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 nicht den deutschen
Rechtsvorschriften, sondern nur (vgl. Art. 13 Abs. 1 Satz 1
der VO Nr. 1408/71) den Vorschriften eines anderen Mitgliedstaats
der Europäischen Union unterliegt. An der gegenteiligen
Auffassung, die der vorinstanzlichen Entscheidung zugrunde liegt
und die auch der BFH bisher in ständiger Rechtsprechung
vertreten hat (z.B. BFH-Urteile vom 13.8.2002 VIII R 61/00, BFHE
200, 205, BStBl II 2002, 869 = SIS 03 01 45, und VIII R 97/01, BFHE
200, 211, BStBl II 2002, 869 = SIS 03 01 46; Senatsurteil vom
24.3.2006 III R 41/05, BFHE 212, 551, BStBl II 2008, 369 = SIS 06 26 73), kann der Senat mit Blick auf die EuGH-Urteile in den
Rechtssachen Bosmann in Slg. 2008, I-3827 sowie vom 12.6.2012
C-611/10, C-612/10, Hudzinski und Wawrzyniak (Zeitschrift für
europäisches Sozial- und Arbeitsrecht - ZESAR - 2012, 475)
nicht mehr festhalten. Das vom BFH durch Auslegung des Art. 13 Abs.
1 der VO Nr. 1408/71 gewonnene „unionsrechtliche
Verbot“ der Gewährung deutschen Kindergeldes
zugunsten von Personen, die nur den Rechtsvorschriften eines
anderen Mitgliedstaats unterliegen, beruht nach Auffassung des EuGH
auf einem fehlerhaften Verständnis der verordnungsrechtlichen
Vorschriften zur Bestimmung des anwendbaren Rechts.
|
|
|
14
|
Da somit eine europarechtlich begründete
Sperrwirkung des Art. 13 Abs. 1 Satz 1 der VO Nr. 1408/71 gerade
nicht besteht, richtet sich die Anspruchsberechtigung auch bei
Personen und bei Leistungen, die dem persönlichen und
sachlichen Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 unterliegen, allein
nach den Bestimmungen des deutschen Rechts.
|
|
|
15
|
Es bedarf nach Auffassung des Senats auch
keines zusätzlichen nationalen Anwendungsbefehls. Ungeachtet
der schwierigen Frage, wie ein solcher Anwendungsbefehl zu
formulieren wäre, basiert diese Forderung auf der
Rechtsauffassung, dass Art. 13 Abs. 1 Satz 1 der VO Nr. 1408/71
eine Sperrwirkung (Verbot) für die Anwendung der
Rechtsvorschriften des nicht zuständigen Mitgliedstaats
begründet. Sollen die an sich nicht anwendbaren Vorschriften
des unzuständigen Mitgliedstaats dennoch angewendet werden, so
bedarf es einer ausdrücklichen Willensäußerung des
Gesetzgebers dieses Staates. Dieser in der Rechtsprechung der FG
vertretenen Auffassung (vgl. z.B. Urteile des FG Düsseldorf
vom 17.2.2009 10 K 501/08 Kg, EFG 2009, 761 = SIS 09 14 22; vom
24.9.2010 16 K 3718/08 Kg, juris) wurde spätestens durch das
EuGH-Urteil Hudzinski und Wawrzyniak in ZESAR 2012, 475 die
Grundlage entzogen. Denn die angenommene europarechtliche
Sperrwirkung besteht gerade nicht. Richtet sich die
Kindergeldberechtigung einer Person demnach allein nach den
nationalen Vorschriften des an sich unzuständigen
Mitgliedstaats, dann ist für das geltende deutsche Recht
festzustellen, dass diesem keine Einschränkung zu entnehmen
ist, dass Kindergeld im Falle grenzüberschreitender
Sachverhalte nur unter dem Vorbehalt der Zuständigkeit
Deutschlands i.S. der Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 zu
gewähren ist. Selbst wenn ein solcher - stillschweigender -
Vorbehalt dem Willen des Gesetzgebers entsprochen haben sollte, so
fehlt es jedenfalls an der tatbestandlichen Ausformulierung dieser
Absicht. Aus der Gesetzgebungsgeschichte geht hervor, dass der
Gesetzgeber die mit dem Jahressteuergesetz 1996 vollzogene
Neukonzeption des Kindergeldrechts durchaus mit der VO Nr. 1408/71
abgestimmt hat. So hat er den sozialrechtlichen Kindergeldanspruch
insbesondere für solche Wanderarbeitnehmer vorgesehen, die
nach der VO Nr. 1408/71 den deutschen Bestimmungen über
soziale Sicherheit unterliegen (vgl. BTDrucks 13/1558, S. 163) und
(nur) deshalb in einem Versicherungspflichtverhältnis zur
Bundesagentur für Arbeit (vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 1 des
Bundeskindergeldgesetzes - BKGG - ) stehen (können). Das
Abstellen auf ein bestehendes Versicherungspflichtverhältnis
in der deutschen Sozialversicherung, das wiederum von der
Anwendbarkeit des deutschen Sozialrechts gemäß Art. 13
ff. der VO Nr. 1408/71 abhängt, stellt gewissermaßen den
deutschen Anwendungsbefehl für den sozialrechtlichen
Kindergeldanspruch dar. Ein vergleichbarer Vorbehalt bzw. - positiv
gewendet - Anwendungsbefehl hinsichtlich der Anwendbarkeit der
deutschen Bestimmungen gemäß der VO Nr. 1408/71 fehlt
dagegen im Anwendungsbereich des steuerrechtlichen Kindergeldes.
Dieses hat der Gesetzgeber ohne weitere einschränkende
Voraussetzungen (nur) vom Wohnsitz oder gewöhnlichen
Aufenthalt im Inland, also der unbeschränkten
Einkommensteuerpflicht (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG) und - für
bestimmte grenzüberschreitende Sachverhalte - von der fiktiven
unbeschränkten Einkommensteuerpflicht gemäß §
1 Abs. 3 EStG (§ 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG) abhängig
gemacht. Eine Differenzierung der sich aus § 62 Abs. 1 Nr. 2
EStG ergebenden Anspruchsberechtigung nach der Anwendbarkeit der
deutschen Bestimmungen findet sich dort nicht. Nur wenn die
Regelung in Buchst. b des § 62 Abs. 1 Nr. 2 EStG in dieser
Form nicht existierte, würde der Kindergeldanspruch einer
Person, die auf Antrag als unbeschränkt
einkommensteuerpflichtig gemäß § 1 Abs. 3 EStG
behandelt wird, von der Anwendbarkeit der deutschen
Rechtsvorschriften gemäß Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71
abhängen. Denn in einem solchen Fall würde die
steuerliche Freistellung des Kinderexistenzminimums allein durch
den auch im Falle des § 1 Abs. 3 EStG bestehenden Anspruch auf
einen Kinderfreibetrag (vgl. Schmidt/Loschelder, EStG, 32. Aufl.,
§ 32 Rz 2) bewirkt werden. Kindergeld als Sozialleistung
könnte von der als unbeschränkt steuerpflichtig
behandelten Person aber nur dann beansprucht werden, wenn sie nach
Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 den deutschen Bestimmungen über
soziale Sicherheit unterliegen würde. Denn nur bei
Anwendbarkeit des deutschen Sozialrechts kann überhaupt ein
Versicherungspflichtverhältnis zur Bundesagentur für
Arbeit i.S. des § 1 Abs. 1 Nr. 1 BKGG begründet werden.
Dies zeigt, dass nach geltender Rechtslage der nach § 62 Abs.
1 Nr. 2 Buchst. b EStG begründete Anspruch eines
Saisonarbeitnehmers, der gemäß Art. 13 ff. der VO Nr.
1408/71 den deutschen Bestimmungen über soziale Sicherheit
nicht unterliegt, nicht ausgeschlossen werden kann. Die
Versagung des Kindergeldes kann nicht mit dem Hinweis auf den
fehlenden positiven Anwendungsbefehl des Gesetzgebers
begründet werden, sondern kann allenfalls durch Änderung
bzw. Streichung des Buchst. b in § 62 Abs. 1 Nr. 2 EStG
erreicht werden. Somit obliegt die Entscheidung, den
Kindergeldanspruch solcher als unbeschränkt
einkommensteuerpflichtig behandelter Personen, die gemäß
Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 den deutschen Bestimmungen über
soziale Sicherheit nicht unterliegen, durch Änderung
oder Aufhebung des § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG zu
versagen, allein dem Gesetzgeber.
|
|
|
16
|
3. Gemessen an diesen Maßstäben
kann die Entscheidung der Vorinstanz keinen Bestand haben.
|
|
|
17
|
a) Nach den nicht angegriffenen und damit
bindenden Feststellungen des FG war der Kläger in Polen
selbständig tätig und nur vorübergehend in
Deutschland als Arbeitnehmer beschäftigt. Das FG hat danach
gemäß Art. 13 Abs. 1 i.V.m. Art. 14a Nr. 1 Buchst. a der
VO Nr. 1408/71 zutreffend das polnische Recht als anwendbar
bestimmt (zum anwendbaren Recht bei einem Saisonarbeitnehmer vgl.
BFH-Beschluss vom 21.10.2010 III R 35/10, BFHE 231, 194 = SIS 10 42 35; EuGH-Urteil Hudzinski und Wawrzyniak in ZESAR 2012, 475).
|
|
|
18
|
b) Entgegen der Auffassung der Vorinstanz
entfalten die Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 aber keine
Sperrwirkung hinsichtlich der Anwendung der deutschen
Rechtsvorschriften. Die grundsätzliche Anspruchsberechtigung
des Klägers folgt damit aus § 62 Abs. 1 EStG. Eines
zusätzlichen Anwendungsbefehls bedarf es nicht.
|
|
|
19
|
4. Die Sache ist nicht spruchreif.
|
|
|
20
|
Das FG hat - von seinem Standpunkt aus
folgerichtig - keine Tatsachen zur Anspruchsberechtigung des
Klägers nach deutschem Recht festgestellt. Diese
Feststellungen, insbesondere zum Vorliegen der fiktiven
unbeschränkten Steuerpflicht (§ 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b
EStG), wird das FG im zweiten Rechtsgang nachzuholen haben.
Für die weitere Prüfung weist der Senat auf Folgendes
hin:
|
|
|
21
|
a) Ausgangspunkt der Prüfung ist die
Frage, ob der Kläger im Streitzeitraum die
Anspruchsvoraussetzungen der §§ 62 ff. EStG erfüllt
hat.
|
|
|
22
|
aa) Für Kinder i.S. des § 63 EStG
hat nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG Anspruch auf
Kindergeld, wer ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im
Inland nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt
einkommensteuerpflichtig behandelt wird. Hierzu hat der erkennende
Senat entschieden, dass eine Kindergeldberechtigung nach § 62
Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG voraussetzt, dass der Anspruchsteller
aufgrund eines entsprechenden Antrags vom zuständigen
Finanzamt (FA) nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt
einkommensteuerpflichtig behandelt wird (Senatsurteil vom 24.5.2012
III R 14/10, BFHE 237, 239, BStBl II 2012, 897 = SIS 12 17 02). Die
Tatsache allein, dass beispielsweise bei einem ausländischen
Saisonarbeitnehmer im Einkommensteuerbescheid von einer
unbeschränkten Steuerpflicht ausgegangen wurde, besagt nicht
notwendigerweise, dass es sich um eine Behandlung nach § 1
Abs. 3 EStG gehandelt hat. Vielmehr kann einem solchen Bescheid
z.B. auch eine - für die Familienkasse und das FG nicht
bindende - unzutreffende Bejahung der Voraussetzungen des § 1
Abs. 1 EStG zugrunde liegen. Soweit sich daher eine Behandlung nach
§ 1 Abs. 3 EStG nicht unmittelbar aus dem Wortlaut oder Inhalt
des Steuerbescheids selbst ergibt, ist zu prüfen, ob der
Anspruchsteller sein Antragswahlrecht gegenüber dem FA
entsprechend ausgeübt hat (insbesondere durch entsprechende
Erklärung im Antragsformular) und welchen
Erklärungsgehalt der Anspruchsteller dem Bescheid nach den ihm
im Laufe des Veranlagungsverfahrens bekannt gewordenen
Umständen beimessen konnte (§ 124 Abs. 1 Satz 2 der
Abgabenordnung). Gegebenenfalls kann insoweit auch eine Beiziehung
der Veranlagungsakten notwendig werden. Wurde dem Anspruchsteller
im Laufe des jeweiligen Veranlagungszeitraums eine Bescheinigung
nach § 39c Abs. 4 EStG in der bis zum Veranlagungszeitraum
2011 geltenden Fassung erteilt, ist gleichwohl zu prüfen, ob
in der in diesem Fall von Amts wegen durchzuführenden
Veranlagung (§ 46 Abs. 2 Nr. 7 Buchst. b EStG in der bis zum
Veranlagungszeitraum 2011 geltenden Fassung) die Behandlung des
Anspruchstellers als nach § 1 Abs. 3 EStG unbeschränkt
Steuerpflichtiger vom FA beibehalten wurde.
|
|
|
23
|
bb) Wurde dem Antrag des Anspruchstellers auf
Behandlung nach § 1 Abs. 3 EStG entsprochen, lässt sich
daraus nicht ableiten, dass deshalb in jedem Fall eine
Kindergeldberechtigung nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG
für das gesamte Kalenderjahr gegeben ist. Insoweit ist
vielmehr zu beachten, dass nach dem BFH-Urteil vom 24.10.2012 V R
43/11 (BFHE 239, 327 = SIS 13 02 62), dem sich der Senat
anschließt, eine solche Kindergeldberechtigung nur in den
Monaten des betreffenden Kalenderjahres besteht, in denen der
Anspruchsteller Einkünfte i.S. des § 49 EStG erzielt
hat.
|
|
|
24
|
cc) Die Gründe der angegriffenen
Entscheidung enthalten keine hinreichenden Feststellungen dazu, ob
der Kläger vom FA nach § 1 Abs. 3 EStG als
unbeschränkt steuerpflichtig behandelt wurde. Das FG hat
lediglich festgestellt, dass der Kläger einen entsprechenden
Antrag gestellt hat. Es wird daher noch zu prüfen sein, ob das
FA den Kläger entsprechend seinem Antrag nach § 1 Abs. 3
EStG behandelt hat und in welchem Teil des Streitzeitraums der
Kläger nach § 49 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 11 EStG
inländische Einkünfte erzielt hat.
|
|
|
25
|
b) Soweit sich danach das Vorliegen der
Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG
ergibt, ist weiter zu prüfen, wie eine Konkurrenz zu etwaigen
von der Ehefrau des Klägers in Polen bezogenen
Familienleistungen aufzulösen ist.
|
|
|
26
|
aa) Ist der persönliche Anwendungsbereich
der VO Nr. 1408/71 eröffnet (s. zu dieser Frage im Einzelnen
Senatsurteil vom 4.8.2011 III R 55/08, BFHE 234, 316 = SIS 11 37 20, unter II.2.c), muss geprüft werden, ob Deutschland nach
den Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 der zuständige oder der
unzuständige Mitgliedstaat ist (s. zu dieser Frage im
Einzelnen Senatsurteile in BFHE 234, 316 = SIS 11 37 20, unter
II.3.; vom 15.3.2012 III R 52/08, BFHE 237, 412 = SIS 12 19 64,
unter II.3., und vom 5.7.2012 III R 76/10, BFHE 238, 87 = SIS 12 22 10, unter II.3.).
|
|
|
27
|
bb) Ist Deutschland der zuständige
Mitgliedstaat, kommen hinsichtlich konkurrierender Ansprüche
der Kindsmutter in Polen grundsätzlich die
Antikumulierungsvorschriften des Art. 10 der Verordnung (EWG) Nr.
574/72 des Rates vom 21.3.1972 über die Durchführung der
Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 über die Anwendung der Systeme
der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige
sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft
zu- und abwandern (VO Nr. 574/72) zur Anwendung. Zwar kann dessen
Anwendbarkeit aufgrund der für Deutschland geltenden
Einschränkungen des Anhangs I Teil I Buchst. D in der im
Streitjahr geltenden Fassung der VO Nr. 1408/71 ausgeschlossen sein
(s. hierzu Senatsurteil in BFHE 234, 316 = SIS 11 37 20, unter
II.3.b). Jedoch hat der Senat unter Bezugnahme auf das Urteil des
EuGH in der Rechtssache vom 14.10.2010 C-16/09 = SIS 10 33 42,
Schwemmer (ZESAR 2011, 235 Rdnr. 38) bereits darauf hingewiesen,
dass auch in einem Fall, in dem der nach deutschem Recht
Kindergeldberechtigte die Voraussetzungen des Anhangs I Teil I
Buchst. D der VO Nr. 1408/71 nicht erfüllt, die
europarechtlichen Antikumulierungsvorschriften wie des Art. 76 der
VO Nr. 1408/71 und des Art. 10 der VO Nr. 574/72 gleichwohl zur
Anwendung kommen können (Senatsurteil in BFHE 238, 87 = SIS 12 22 10, unter II.4.a). Dies kann sich vor allem daraus ergeben, dass
die Kinder des Anspruchstellers als Familienangehörige des
anderen Elternteils in den persönlichen Anwendungsbereich der
VO Nr. 1408/71 fallen und parallele Ansprüche auf
Familienleistungen für denselben Zeitraum bestehen.
|
|
|
28
|
cc) Ist Deutschland nach den Bestimmungen der
Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 der nicht zuständige
Mitgliedstaat, was die Vorinstanz im Streitfall rechtsfehlerfrei
angenommen hat, und ist Deutschland auch nicht der
Wohnmitgliedstaat des betreffenden Kindes (vgl. EuGH-Urteil
Hudzinski und Wawrzyniak in ZESAR 2012, 475 Rdnrn. 74 bis 76), dann
ist die Konkurrenz zu Ansprüchen im anderen Mitgliedstaat
Polen nach nationalem Recht zu lösen.
|
|
|
29
|
Die nationalen Vorschriften sehen in § 65
Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG zwar vor, dass Kindergeld nicht für
ein Kind gezahlt wird, für das Leistungen für Kinder, die
im Ausland gewährt werden und dem Kindergeld oder einer der
unter § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG genannten Leistungen
vergleichbar sind, zu zahlen ist oder bei entsprechender
Antragstellung zu zahlen wäre. Die Auslegung dieser Vorschrift
hat jedoch unter Beachtung der Anforderungen des Primärrechts
der Union auf dem Gebiet der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu
erfolgen (EuGH-Urteil Hudzinski und Wawrzyniak in ZESAR 2012, 475).
Danach darf in einem Fall, in dem in einem anderen Mitgliedstaat
dem Kindergeld vergleichbare Leistungen gewährt werden, der
Anspruch auf Kindergeld nach dem EStG gemäß § 65
Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG nur in entsprechender Höhe
gekürzt, jedoch nicht völlig ausgeschlossen werden, wenn
anderenfalls das Freizügigkeitsrecht des Wanderarbeitnehmers
beeinträchtigt wäre.
|