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I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte
(Klägerin) ist die Mutter der am 17.10.1993 geborenen Tochter
V und der am 19.12.1996 geborenen Tochter C, für die sie bis
einschließlich Februar 2007 inländisches Kindergeld
bezog. Seit 1988 ist die Klägerin bei der F-AG A als
Flugbegleiterin beschäftigt. Ihre Ehe zu dem italienischen
Staatsangehörigen P, dem Vater der beiden Töchter,
besteht seit 1990. Der Familienwohnsitz der Klägerin, ihres
Ehemannes und der beiden Töchter befindet sich jedenfalls seit
August 1999 in Italien. Daneben ist die Klägerin in der
Wohnung ihrer Mutter in Deutschland mit Hauptwohnsitz gemeldet. Im
Jahr 2007 hielt sie sich aufgrund ihrer Berufstätigkeit an
insgesamt 53 Tagen im Inland auf. Zu ihrer Tätigkeit reiste
sie jeweils von Italien aus nach A, Deutschland, und kehrte danach
wieder unmittelbar an ihren Wohnsitz in Italien zurück.
Jedenfalls für das Jahr 2007 hatte weder die Klägerin
noch ihr Ehemann in Italien Anspruch auf Kindergeld für die
beiden Töchter.
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Ihre Einkommensteuererklärungen
für die Jahre 2005 bis 2007 gab die Klägerin jeweils
unter Angabe der Adresse ihrer Mutter beim Finanzamt ab, das sie
jeweils unter Annahme einer unbeschränkten
Einkommensteuerpflicht gemäß § 1 Abs. 1 des
Einkommensteuergesetzes in der im Streitzeitraum maßgeblichen
Fassung (EStG) zur Einkommensteuer veranlagte.
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Mit Bescheid vom 14.6.2007 hob die Beklagte
und Revisionsklägerin (Familienkasse) die Festsetzung des
Kindergeldes ab März 2007 auf. Zur Begründung führte
sie aus, nach § 62 EStG habe Anspruch auf Kindergeld, wer
seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland
habe oder im Ausland wohne, aber in Deutschland unbeschränkt
einkommensteuerpflichtig sei oder als unbeschränkt
einkommensteuerpflichtig behandelt werde. Nach den der
Familienkasse vorliegenden Unterlagen seien diese
Anspruchsvoraussetzungen nicht gegeben.
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Den dagegen gerichteten Einspruch wies die
Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom 13.10.2008 als
unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie
im Wesentlichen aus, die Klägerin habe weder einen Wohnsitz
noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland. Ob die
Voraussetzungen des § 1 Abs. 3 EStG für die
unbeschränkte Einkommensteuerpflicht vorlägen, entscheide
das Finanzamt.
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Auf die hiergegen gerichtete Klage trennte
das Finanzgericht (FG) das Verfahren hinsichtlich des
Kindergeldanspruchs ab Januar 2008 ab. Hinsichtlich des
Kindergeldanspruchs für März bis Dezember 2007 gab es der
Klage mit der in EFG 2010, 886 = SIS 10 11 29 veröffentlichten
Entscheidung statt.
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Mit der Revision rügt die
Familienkasse die Verletzung materiellen Rechts.
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Sie beantragt, das angefochtene Urteil
aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
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II. Die Revision der Familienkasse ist
begründet. Sie führt zur Aufhebung des angegriffenen
Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1
FGO). Zu Unrecht ist das FG davon ausgegangen, dass die
Klägerin zum Kreis der Anspruchsberechtigten nach § 62
Abs. 1 EStG gehört.
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1. Nach § 62 Abs. 1 EStG hat Anspruch auf
Kindergeld nach dem EStG u.a., wer im Inland einen Wohnsitz oder
seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (§ 62 Abs. 1 Nr. 1
EStG) oder wer ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im
Inland nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt
einkommensteuerpflichtig behandelt wird (§ 62 Abs. 1 Nr. 2
Buchst. b EStG).
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a) Nach den nicht mit Verfahrensrügen
angegriffenen, den Senat nach § 118 Abs. 2 FGO bindenden
Feststellungen des FG hatte die Klägerin im Streitzeitraum
weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im
Inland.
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Der Umstand, dass demgegenüber das
Finanzamt bei der Festsetzung der Einkommensteuer 2007 von einem
inländischen Wohnsitz ausgegangen ist und deshalb eine
unbeschränkte Einkommensteuerpflicht nach § 1 Abs. 1 EStG
angenommen hat, entfaltet keine Bindungswirkung für die
Kindergeldfestsetzung durch die Familienkasse. § 62 Abs. 1 Nr.
1 EStG setzt für die Anspruchsberechtigung nur einen Wohnsitz
oder einen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland voraus und stellt
nicht auf die einkommensteuerrechtliche Behandlung ab. Das Gesetz
geht daher davon aus, dass es sich bei der
Einkommensteuerfestsetzung und der Kindergeldfestsetzung um
unterschiedliche Verfahren handelt, sodass der
Einkommensteuerbescheid hinsichtlich des inländischen
Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts für die
Kindergeldfestsetzung nicht bindend ist (Senatsurteil vom
20.11.2008 III R 53/05, BFH/NV 2009, 564 = SIS 09 08 96,
m.w.N.).
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b) Zu Unrecht ist das FG dagegen davon
ausgegangen, dass die Klägerin Anspruchsberechtigte i.S. des
§ 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG ist. Anders als bei § 62
Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 Buchst. a EStG macht das Gesetz bei §
62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG die Anspruchsberechtigung von der
einkommensteuerrechtlichen Behandlung des Antragstellers
abhängig (ebenso Helmke in Helmke/Bauer,
Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach A, I. Kommentierung,
§ 62 Rz 42 ff.; Hildesheim in Bordewin/Brandt, § 62 EStG
Rz 56; Lange/Novak/ Sander/Stahl/Weinhold, Kindergeldrecht im
öffentlichen Dienst, § 62 EStG Erl. III/A.1 Rz 57;
Lehner/Waldhoff, in: Kirchhof/ Söhn/Mellinghoff, EStG, §
1 Rz D 206).
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aa) Dies ergibt sich zum einen aus dem
Wortlaut der Vorschrift. Dort wird vorausgesetzt, dass der
Anspruchsteller nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt
einkommensteuerpflichtig behandelt „wird“
(ebenso Seewald/Felix, Kindergeldrecht, EStG § 62 Rz 86, 93).
Soweit diese Formulierung auch im Rahmen des § 1 Abs. 3 EStG
selbst benutzt wird, ist dies zwar darauf zurückzuführen,
dass der Steuerpflichtige in dogmatischer Hinsicht nicht
unbeschränkt steuerpflichtig ist, sondern von dem Finanzamt
nur so behandelt wird (Stapperfend in Herrmann/ Heuer/Raupach - HHR
-, § 1 EStG Rz 297). Diese Erwägung lässt sich
jedoch - entgegen der Auffassung des FG - nicht auf § 62 Abs.
1 Nr. 2 Buchst. b EStG übertragen. Wäre es dem
Gesetzgeber nicht darauf angekommen, dass der Steuerpflichtige
tatsächlich von dem Finanzamt als unbeschränkt
einkommensteuerpflichtig behandelt wird, so hätte er
formulieren müssen „Für Kinder ... hat Anspruch
auf Kindergeld nach diesem Gesetz, wer ohne Wohnsitz oder
gewöhnlichen Aufenthalt im Inland (bei entsprechender
Antragstellung) nach § 1 Abs. 3 als unbeschränkt
einkommensteuerpflichtig zu behandeln wäre“.
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bb) Des Weiteren spricht auch der
Normzusammenhang mit § 1 Abs. 3 EStG für diese Auslegung.
Anders als die zwingend vorgesehene unbeschränkte
Steuerpflicht nach § 1 Abs. 1 und Abs. 2 EStG wird als
unbeschränkt steuerpflichtig nach § 1 Abs. 3 EStG nur
derjenige behandelt, der einen entsprechenden Antrag gestellt hat.
Der Antrag wird daher als Tatbestandsvoraussetzung
(Lehner/Waldhoff, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, a.a.O.,
§ 1 Rz D 140) für diese Form der Einkommensteuerpflicht
gesehen und begründet damit ein Wahlrecht (Lehner/ Waldhoff,
in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, a.a.O., § 1 Rz D 140; zur
Frage unter welchen Bedingungen ein entsprechender Antrag
vorteilhaft ist vgl. Kudert/Glowienka, Steuer und Wirtschaft 2010,
278). Der Antrag ist gegenüber dem nach § 19 Abs. 2 der
Abgabenordnung (AO) zuständigen Finanzamt zu stellen (Gosch in
Kirchhof, EStG, 11. Aufl., § 1 Rz 25; Schmieszek in Beermann/
Gosch, AO § 19 Rz 18). Daraus ergibt sich, dass der
Steuerpflichtige nur dann als unbeschränkt
einkommensteuerpflichtig behandelt werden kann, wenn er den Antrag
für einen bestimmten Veranlagungszeitraum bei dem
zuständigen Finanzamt gestellt hat. Stellt der Antragsteller
in einem Verfahren, das auf Festsetzung des Kindergeldes gerichtet
ist, dagegen einen „Antrag nach § 1 Abs. 3
EStG“ gegenüber der Familienkasse, wird hierdurch
die Rechtsfolge des § 1 Abs. 3 EStG nicht ausgelöst.
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Überdies zeigt die - auch von dem FG
angenommene - zeitliche Beschränkung des Antragsrechts durch
die Grenze der Festsetzungsverjährung, dass die Behandlung des
Antragstellers durch die Familienkasse nach § 62 Abs. 1 Nr. 2
Buchst. b EStG nicht unabhängig von der Behandlung durch das
Finanzamt erfolgen kann. Generell wird davon ausgegangen, dass das
Antragsrecht in zeitlicher Hinsicht einerseits durch den Eintritt
der Festsetzungsverjährung und andererseits durch den Eintritt
der Bestandskraft eines Einkommensteuerbescheids bzw. das Ergehen
eines FG-Urteils begrenzt wird (Gosch in Kirchhof, a.a.O., § 1
Rz 25; HHR/Stapperfend, § 1 EStG Rz 255). Würde man
dagegen eine Antragstellung gegenüber der Familienkasse
für ausreichend erachten, müsste man konsequenterweise
auch den Eintritt der Festsetzungsverjährung oder der
Bestandskraft im Veranlagungsverfahren außer Betracht lassen
und diese unabhängig vom einkommensteuerrechtlichen
Veranlagungsverfahren prüfen. Ebenso müsste man etwaige
zeitliche Beschränkungen des Veranlagungswahlrechts (z.B. nach
§ 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG in der grundsätzlich bis
einschließlich des Veranlagungszeitraums 2004 geltenden
Fassung, § 52 Abs. 55j EStG) außer Betracht lassen. Dies
könnte zu dem - nach Auffassung des Senats nicht mit Sinn und
Zweck des Gesetzes in Einklang zu bringenden - Ergebnis
führen, dass der Antragsteller für Zwecke der
Kindergeldgewährung als unbeschränkt
einkommensteuerpflichtig behandelt werden könnte, obwohl eine
solche Behandlung für Zwecke der Einkommensteuerfestsetzung
tatsächlich verfahrensrechtlich bereits ausgeschlossen
ist.
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cc) Auch Gründe der Praktikabilität
sprechen dafür, dass in kindergeldrechtlicher Hinsicht nur
derjenige als i.S. des § 1 Abs. 3 EStG fiktiv
unbeschränkt steuerpflichtig anzusehen ist, der auch durch das
zuständige Finanzamt so behandelt wird. Zum einen werden die
Familienkassen von der Prüfung der zum Teil schwierigen Sach-
und Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Anwendung des § 1
Abs. 3 EStG entlastet (z.B. die unterschiedlichen
Grenzgängerregelungen in den Doppelbesteuerungsabkommen
zwischen den Anrainerstaaten und Deutschland). Zum anderen wird
verhindert, dass der Antragsteller gegenüber Finanzamt und
Familienkasse unterschiedliche Angaben machen kann, indem er z.B.
zunächst gegenüber dem Finanzamt einen tatsächlich
nicht bestehenden Wohnsitz in Deutschland angibt, um dort bei
geringen Einkünften einen Nullbescheid auf Basis der
unbeschränkten Einkommensteuerpflicht nach § 1 Abs. 1
EStG zu erlangen, und dann - im Falle einer genaueren Prüfung
der Wohnortvoraussetzungen im Verfahren der Kindergeldfestsetzung -
gegenüber der Familienkasse eine Behandlung nach § 1 Abs.
3 EStG beantragt (s. hierzu auch Reuß, Anm. zum angegriffenen
FG-Urteil, EFG 2010, 888 f.).
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dd) Diese Auslegung berührt nicht die
Selbständigkeit des Verfahrens der Kindergeldfestsetzung
gegenüber dem Verfahren der Einkommensteuerfestsetzung. Denn
anders als bei § 62 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 Buchst. a EStG
sieht § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG bereits in seinem
Tatbestand eine Abhängigkeit der Kindergeldberechtigung von
der einkommensteuerrechtlichen Behandlung des Antragstellers
vor.
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Soweit der Senat in dem Urteil in BFH/NV 2009,
564 = SIS 09 08 96, auf das sich das FG gestützt hat, im
Rahmen eines obiter dictums eine andere Auffassung vertreten hat,
wird hieran aus den vorstehenden Erwägungen nicht mehr
festgehalten.
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2. a) Nach den nicht mit Verfahrensrügen
angegriffenen, den Senat bindenden Feststellungen des FG wurde die
Klägerin von dem zuständigen Finanzamt nicht nach §
1 Abs. 3 EStG, sondern nach § 1 Abs. 1 EStG als
unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt. Eine
Kindergeldberechtigung der Klägerin nach § 62 Abs. 1 Nr.
2 Buchst. b EStG scheidet demnach aus. Die Klage war daher
abzuweisen.
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b) Im Übrigen folgt aus dem Ausschluss
des Anspruchs auf einkommensteuerrechtliches Kindergeld für
Antragsteller, die weder ihren Wohnsitz oder einen
gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hatten noch vom Finanzamt
nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt steuerpflichtig
behandelt wurden, aber nicht, dass ein Kindergeldanspruch generell
ausgeschlossen sein muss. Vielmehr kommt - worauf die Familienkasse
bereits im Bescheid vom 14.6.2007 hingewiesen hat - in diesem Fall
bei Erfüllung der sozialversicherungsrechtlichen
Voraussetzungen ein Anspruch nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 des
Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) in Betracht, der jedoch nach §
15 BKGG gegebenenfalls vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit
zu verfolgen wäre.
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