Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Revision des Bundeszentralamts für
Steuern wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens trägt
das Bundeszentralamt für Steuern zu 86 % und die Klägerin
zu 14 %.
19
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Zur Revision des BZSt beantragt die
Klägerin,
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die Revision als unbegründet
zurückzuweisen.
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20
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Das BZSt beantragt,
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die Revision der Klägerin als
unbegründet zurückzuweisen und
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das Urteil des FG Köln vom 17.11.2021
- 2 K 1544/20 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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21
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Das BZSt rügt ebenfalls die Verletzung
materiellen Bundesrechts. Weder nach dem nationalen Recht noch nach
dem Unionsrecht stehe der Klägerin eine Verzinsung der
Erstattungsbeträge zu. Nach dem nationalen Recht hätte
die Klägerin nur Prozesszinsen gemäß § 236 AO
auf der Grundlage einer gerichtlichen Durchsetzung ihres Anspruchs
beanspruchen können. Es wäre ihr auch möglich und
zumutbar gewesen, die Erstattungen im Wege einer
Untätigkeitsklage durchzusetzen. Die Abhilfe im
Einspruchsverfahren, nachdem dieses wegen anhängiger
Musterverfahren beim EuGH geruht habe, genüge nicht.
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22
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Seien dennoch nach dem unionsrechtlichen
Verzinsungsanspruch Zinsen festzusetzen, sei dem BZSt nach den
Grundsätzen des Urteils des Bundesfinanzhofs (BFH) vom
22.10.2019 - VII R 24/18 (BFHE 267, 90 = SIS 20 04 96) ein
angemessener Bearbeitungszeitraum einzuräumen, in dem die
Verzinsung noch nicht beginne. Im Rahmen der vorzunehmenden
Einzelfallprüfung sei bei Erstattungsanträgen neben der
Prüfung formaler Angaben wie des Steuereinbehalts und der
Steuerabführung einschließlich der zugehörigen
Bescheinigungen und Belege auch ein Missbrauch der Einschaltung der
Klägerin in die Beteiligungskette zu prüfen. Es spreche
der typische zeitliche Ablauf des Erstattungsverfahrens dafür,
dem BZSt einen zinsfreien Bearbeitungszeitraum von 12 Monaten
einzuräumen, der nach Ablauf desjenigen Monats beginne, in dem
der Erstattungsantrag und alle für die Entscheidung
erforderlichen Nachweise vorlägen. Dies entspreche auch der
Verzinsungsregel der Richtlinie 2003/49/EG des Rates vom 3.6.2003
über eine gemeinsame Steuerregelung für Zahlungen von
Zinsen und Lizenzgebühren zwischen verbundenen Unternehmen
verschiedener Mitgliedstaaten (Amtsblatt der Europäischen
Union - ABlEU - 2003, Nr. L 157, 49) - Zins- und Lizenzrichtlinie -
und des nationalen Umsetzungsgesetzes (§ 50c Abs. 4 Satz 3
EStG i.V.m. Art. 1 Abs. 16 Zins- und Lizenzrichtlinie). Gegen die
Annahme einer angemessenen Bearbeitungsdauer von drei Monaten nach
Maßgabe der gesetzlichen Entscheidungsfrist im
Freistellungsbescheinigungsverfahren führte das BZSt an, dass
sich das dortige Prüfprogramm von dem des
Erstattungsverfahrens und die Anzahl der zu bearbeitenden Verfahren
unterschieden. Es sei im Freistellungsbescheinigungsverfahren nicht
zu prüfen, ob die Kapitalertragsteuer einbehalten und
abgeführt worden sei. Der zinsfreie Bearbeitungszeitraum von
12 Monaten sei gleichermaßen für einen Erstattungsantrag
anzuwenden, der nach dem Entzug einer zuvor erteilten
Freistellungsbescheinigung gestellt werde.
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23
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II. Die Revision der Klägerin ist
begründet.
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24
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Das FG hat die Untätigkeitsklage zu Recht
als zulässig angesehen (s. II.1.). Die in der Revision der
Klägerin noch streitigen Zinsbeträge sind auf der
Grundlage des unionsrechtlichen Verzinsungsanspruchs teilweise
festzusetzen (s. II.2. und II.3.). Der Verzinsungszeitraum für
diese Zinsansprüche, die reine Erstattungsfälle
betreffen, beginnt drei Monate nach Einreichung des jeweiligen
formal ordnungsgemäßen Erstattungsantrags beim BZSt und
endet mit der Auszahlung des Erstattungsbetrags (s. II.4.). Das
FG-Urteil ist aufzuheben, soweit es die in der Revision der
Klägerin streitigen Zinsansprüche betrifft. Die Sache ist
insoweit auch spruchreif. Für den jeweiligen
Verzinsungszeitraum sind die Zinsen taggenau unter Anwendung eines
monatlichen Zinssatzes von 0,5 % zu berechnen (s. II.5.). Der Klage
ist nach Maßgabe der Gründe in weiterem Umfang als
bisher stattzugeben; im Übrigen wird sie abgewiesen (§
126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO - ).
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25
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1. Das FG hat die von der Klägerin
erhobene Untätigkeitsverpflichtungsklage gemäß
§ 46 Abs. 1 FGO zu Recht als zulässig angesehen.
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26
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a) Zu den vom BFH als Revisionsgericht von
Amts wegen zu überprüfenden
Sachentscheidungsvoraussetzungen gehört auch die Frage, ob
über eine Verpflichtungsklage entschieden werden darf. Dies
ist der Fall, wenn nach § 44 Abs. 1 FGO das Vorverfahren
über den außergerichtlichen Rechtsbehelf ganz oder zum
Teil erfolglos geblieben ist, anderenfalls, wenn mangels eines
abgeschlossenen Vorverfahrens wie im Streitfall die Voraussetzungen
der §§ 45, 46 FGO eingreifen (ständige
Rechtsprechung, vgl. BFH-Urteil vom 23.02.2021 - II R 22/19, BFHE
273, 190, BStBl II 2021, 636 = SIS 21 11 54, Rz 33). Ist über
einen außergerichtlichen Rechtsbehelf ohne Mitteilung eines
zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht
entschieden worden, so ist die Klage abweichend von § 44 FGO
ohne vorherigen Abschluss des Vorverfahrens zulässig. Die
Klage kann nicht vor Ablauf von sechs Monaten seit Einlegung des
außergerichtlichen Rechtsbehelfs erhoben werden, es sei denn,
dass wegen besonderer Umstände des Falles eine kürzere
Frist geboten ist (§ 46 Abs. 1 Satz 1 und 2 FGO).
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27
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b) Das FG hat die Klage nach diesen Vorgaben
zutreffend als zulässig angesehen. Bei der Klage handelt es
sich um eine sogenannte „einfache“
Untätigkeitsverpflichtungsklage (zur Abgrenzung von der -
unzulässigen - „doppelten“
Untätigkeitsverpflichtungsklage BFH-Urteile vom 19.05.2004 -
III R 18/02, BFHE 206, 201, BStBl II 2004, 980 = SIS 04 36 34,
unter II.3. [Rz 39]; vom 03.08.2005 - I R 74/02, BFH/NV 2006, 19 =
SIS 06 02 32, unter II.2.b [Rz 17]). Im Zeitpunkt der Entscheidung
des FG am 17.11.2021 konnte sich das BZSt nicht mehr auf einen
sachlichen Grund für die Nichtentscheidung über die
Einsprüche stützen. Die Klage ist jedenfalls in die
Zulässigkeit hineingewachsen (vgl. z.B. BFH-Urteile vom
19.04.2007 - V R 48/04, BFHE 217, 194, BStBl II 2009, 315 = SIS 07 28 51, unter II.B.1.c [Rz 36]; vom 11.02.2021 - VI R 37/18, BFH/NV
2021, 1085 = SIS 21 10 27, Rz 55). Dies ist zwischen den
Beteiligten auch nicht streitig. Der Senat sieht von weiteren
Ausführungen ab.
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28
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2. Das FG ist zu Recht davon ausgegangen, dass
der Klägerin eine Verzinsung der Erstattungsbeträge auf
Grundlage der nationalen Verzinsungsregelungen in § 233 ff. AO
nicht zusteht.
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29
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a) Ansprüche aus dem
Steuerschuldverhältnis (§ 37 AO) werden nur verzinst,
soweit dies durch Bundesrecht oder Recht der Europäischen
Union vorgeschrieben ist (§ 233 Satz 1 AO). Nicht zu verzinsen
ist gemäß § 233a Abs. 1 Satz 2 AO die Nachzahlung
und Erstattung (eines Unterschiedsbetrags im Sinne des § 233a
Abs. 3 AO) von Steuerabzugsbeträgen wie der
Kapitalertragsteuer und des Solidaritätszuschlags (vgl.
BFH-Urteil vom 18.09.2007 - I R 15/05, BFHE 219, 1, BStBl II 2008,
332 = SIS 08 10 83, unter III.1.; nachgehend Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 03.09.2009 - 1 BvR
1098/08, HFR 2010, 66 = SIS 10 12 72; BFH-Urteil vom 13.03.2024 - I
R 1/20, BStBl II 2025, 193 = SIS 24 13 38, Rz 71, m.w.N.).
Kapitalertragsteuerbeträge sind allenfalls gemäß
§ 236 Abs. 1 Satz 1 Alternative 1 AO durch die Festsetzung von
Prozesszinsen zu verzinsen, wenn die gemäß § 168 AO
vom Steuerentrichtungspflichtigen angemeldeten Steuerbeträge
aufgrund einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung oder
eines gleichgestellten Vorgangs herabgesetzt und erstattet werden
(s. z.B. Klein/Werth, AO, 18. Aufl., § 236 Rz 11; Heuermann in
Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 236 AO Rz 12, 13; wohl auch
Loose in Tipke/Kruse, § 236 AO Rz 3 mit Verweis auf § 3
Abs. 1 AO, dazu Drüen in Tipke/Kruse § 3 AO Rz 16a).
Diese Voraussetzungen sind im Streitfall nicht erfüllt. Weder
wurden die Kapitalertragsteueranmeldungen gerichtlich angefochten
und herabgesetzt noch ergingen die Freistellungsbescheide im Rahmen
eines gerichtlichen Verfahrens. Die Herabsetzung und Erstattung
einer Steuer auf der Grundlage eines (zwischenzeitlich ruhenden)
Einspruchsverfahrens genügt den gesetzlichen Anforderungen des
§ 236 AO nicht (BFH-Urteil vom 02.03.1988 - I R 72/84, BFH/NV
1988, 619, unter 4. [Rz 15]; BFH-Beschlüsse vom 03.04.2007 -
IX B 169/06, BFH/NV 2007, 1267 = SIS 07 19 79; vom 23.10.2019 - VII
B 40/19, BFH/NV 2020, 81 = SIS 19 19 03, Rz 26).
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30
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b) Eine Anwendung der nationalen
Verzinsungsregelungen gemäß § 233 Satz 1
Alternative 2 i.V.m. § 233a ff. AO kommt ebenfalls nicht in
Betracht. Die Verzinsung der Erstattungsansprüche der
Klägerin ist weder gemäß § 50d Abs. 1 Satz 2
i.V.m. § 43b EStG noch in der für die jeweiligen
Ausschüttungen und Erstattungsanträge in den Jahren 2007
bis 2009 geltenden Fassungen der Richtlinie 90/435/EWG des Rates
vom 23.07.1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter-
und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (Amtsblatt
der Europäischen Gemeinschaften 1990 Nr. L 225, 6, Nr. L 266,
20, 1997 Nr. L 16, 98), zuletzt geändert durch die Richtlinie
2011/96/EU des Rates vom 30.11.2011 (ABlEU 2011, Nr. L 345, 8), -
Mutter-Tochter-Richtlinie - (im Folgenden: MTR) im Sinne des §
233 Satz 1 Alternative 2 AO angeordnet worden.
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31
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3. Das FG hat zutreffend erkannt, dass die
streitigen Erstattungsbeträge zur Kapitalertragsteuer und zum
Solidaritätszuschlag nach dem aus dem Unionsrecht
abzuleitenden Verzinsungsanspruch zu verzinsen sind.
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32
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a) Nach der Rechtsprechung des EuGH hat der
Einzelne, wenn ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen die
Vorschriften des Unionsrechts eine Steuer erhoben hat, einen
Anspruch auf Erstattung nicht nur der zu Unrecht erhobenen Steuer,
sondern auch der Beträge, die im unmittelbaren Zusammenhang
mit dieser Steuer an diesen Staat gezahlt oder von diesem
einbehalten worden sind. Darunter fallen auch die Einbußen
aufgrund der mangelnden Verfügbarkeit von Geldbeträgen
infolge der vorzeitigen Fälligkeit der Steuer. Daraus folgt
der Grundsatz, dass die Mitgliedstaaten aus dem Unionsrecht
verpflichtet sind, die unter Verstoß gegen das Unionsrecht
erhobenen Steuerbeträge zuzüglich Zinsen zu erstatten. In
Ermangelung einer unionsrechtlichen Regelung kommt es der
innerstaatlichen Rechtsordnung der Mitgliedstaaten zu, die
Bedingungen für die Zahlung solcher Zinsen - insbesondere den
Zinssatz und die Berechnungsmethode für die Zinsen -
festzulegen. Diese Bedingungen müssen den Grundsätzen der
Äquivalenz und der Effektivität entsprechen, das
heißt, sie dürfen nicht ungünstiger sein als bei
ähnlichen Klagen, die auf Bestimmungen des innerstaatlichen
Rechts gestützt sind, und sie dürfen nicht so
ausgestaltet sein, dass sie die Ausübung der Rechte, die die
Unionsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen
(z.B. EuGH-Urteile Littlewoods Retail u.a. vom 19.07.2012 -
C-591/10, EU:C:2012:478, HFR 2012, 1018 = SIS 12 25 02, Rz 25,
m.w.N.; Irimie vom 18.04.2013 - C-565/11, EU:C:2013:250, HFR 2013,
659 = SIS 13 22 73, Rz 21; Gräfendorfer Geflügel und
Tiefkühlfeinkost u.a. vom 28.04.2022 - C-415/20, C-419/20 und
C-427/20, EU:C:2022:306, BFH/NV 2022, 796 = SIS 22 07 37, Rz 64;
Dyrektor Izby Administracji Skarbowej we Wroclawiu vom 08.06.2023 -
C-322/22, EU:C:2023:460 = SIS 23 11 48, Rz 32 ff.; vgl. auch
BFH-Urteile vom 22.09.2015 - VII R 32/14, BFHE 251, 291, BStBl II
2016, 323 = SIS 15 30 18; vom 15.11.2022 - VII R 29/21 (VII R
17/18), BFHE 279, 1, BStBl II 2023, 803 = SIS 23 09 12, m.w.N.; vom
13.03.2024 - I R 1/20, BStBl II 2025, 193 = SIS 24 13 38, Rz 67;
BFH-Beschluss vom 07.08.2024 - VII B 168/22, BFH/NV 2025, 164 = SIS 24 18 67).
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33
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Ein unionsrechtlicher Verstoß im Rahmen
der Steuererhebung, der einen Erstattungs- und einen Zinsanspruch
begründen kann, kann sich auf jede Regel des Unionsrechts
beziehen und sowohl von den Unionsgerichten als auch von einem
nationalen Gericht festgestellt werden. Zur konkreten Umsetzung der
Verzinsung hat der EuGH außerdem darauf hingewiesen, dass die
Zinszahlungsmodalitäten nicht dazu führen dürfen,
dass dem Betreffenden eine angemessene Entschädigung für
die erlittenen Einbußen vorenthalten wird. Dies setzt unter
anderem voraus, dass die ihm gezahlten Zinsen den Gesamtzeitraum
abdecken, der je nach Lage des Falles zwischen dem Tag, an dem der
Betreffende den fraglichen Geldbetrag entrichtet hat oder
hätte erhalten sollen, und dem Tag liegt, an dem dieser ihm
erstattet oder an ihn entrichtet wurde (zum Vorstehenden s.a.
EuGH-Urteile Gräfendorfer Geflügel und
Tiefkühlfeinkost u.a. vom 28.04.2022 - C-415/20, C-419/20 und
C-427/20, EU:C:2022:306, BFH/NV 2022, 796 = SIS 22 07 37; Dyrektor
Izby Administracji Skarbowej we Wroclawiu vom 08.06.2023 -
C-322/22, EU:C:2023:460 = SIS 23 11 48; BFH-Urteile vom 15.11.2022
- VII R 29/21 (VII R 17/18), BFHE 279, 1, BStBl II 2023, 803 = SIS 23 09 12; vom 13.03.2024 - I R 1/20, BStBl II 2025, 193 = SIS 24 13 38, Rz 68; BFH-Beschluss vom 07.08.2024 - VII B 168/22, BFH/NV
2025, 164 = SIS 24 18 67).
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34
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b) Soweit der I. Senat des BFH im Hinblick auf
die Regelung in § 233 Abs. 1 Satz 2 AO für das
frühere Abzugs- und Erstattungsverfahren in § 50 Abs. 5
i.V.m. § 50a EStG a.F. noch entschieden hatte, dass erstattete
Steuerabzugsbeträge auch unter Beachtung des Unionsrechts
nicht zu verzinsen seien (BFH-Urteil vom 18.09.2007 - I R 15/05,
BFHE 219, 1, BStBl II 2008, 332 = SIS 08 10 83, unter III.;
nachgehend BVerfG-Beschluss vom 03.09.2009 - 1 BvR 1098/08, HFR
2010, 66 = SIS 10 12 72), hat er hieran aufgrund der
Fortentwicklung der EuGH-Rechtsprechung zum unionsrechtlichen
Verzinsungsanspruch nicht festgehalten, um einen Verstoß der
nationalen Regelungslage gegen den unionsrechtlichen
Effektivitätsgrundsatz zu vermeiden (BFH-Urteil vom 13.03.2024
- I R 1/20, BStBl II 2025, 193 = SIS 24 13 38, Rz 71, 72). Dem
schließt sich der erkennende Senat an.
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35
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c) Die Voraussetzungen des unionsrechtlichen
Verzinsungsanspruchs hat das FG zu Recht im Ergebnis als
erfüllt angesehen.
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36
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aa) Anders als das BZSt meint, können die
Voraussetzungen für den unionsrechtlichen Verzinsungsanspruch
nicht nur erfüllt sein, wenn der Unionsrechtsverstoß im
Wege einer Klage verfolgt und die Erstattung der unionsrechtswidrig
erhobenen Steuern gerichtlich durchgesetzt wird. Auch die Abwehr
des Unionsrechtsverstoßes im Rahmen eines (zwischenzeitlich
ruhenden) Einspruchsverfahrens genügt.
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Die Klägerin musste sich nicht auf die
Rechtsverfolgung der Erstattungsbegehren durch die Festsetzung von
Freistellungsbescheiden im Wege einer
Untätigkeitsverpflichtungsklage verweisen lassen, um die
Voraussetzungen des unionsrechtlichen Verzinsungsanspruchs zu
erfüllen. Dies ergibt sich für den Senat aus der
gefestigten EuGH-Rechtsprechung (Urteile Gräfendorfer
Geflügel und Tiefkühlfeinkost u.a. vom 28.04.2022 -
C-415/20, C-419/20 und C-427/20, EU:C:2022:306, BFH/NV 2022, 796 =
SIS 22 07 37, Rz 78 bis 81, 84; Dyrektor Izby Administracji
Skarbowej we Wroclawiu vom 08.06.2023 - C-322/22, EU:C:2023:460 =
SIS 23 11 48, Rz 36).
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38
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Auch der Umstand, dass das Einspruchsverfahren
zu den reinen Erstattungsanträgen der Klägerin im
Hinblick auf Musterverfahren gemäß § 363 Abs. 2
Satz 2 AO (hier: die Vorlage des FG vom 08.07.2016 - 2 K 2995/12,
EFG 2016, 1801 = SIS 16 24 51 an den EuGH zu § 50d Abs. 3 EStG
2007) zwischenzeitlich zum Ruhen gebracht worden war und das
Einspruchsverfahren mit einer Abhilfeentscheidung zugunsten der
Klägerin endete, ist unerheblich. Entscheidend und ausreichend
für eine Verzinsung der Erstattungsbeträge ist, dass
deren Vorenthaltung auf einer unionsrechtswidrigen Auslegung oder
Anwendung der maßgeblichen nationalen Regelungen (dazu unten
dd) beruhte. Der unionsrechtliche Effektivitätsgrundsatz
stünde einer Begrenzung des Zinsanspruchs nur auf
rechtshängig gewordene Erstattungsansprüche im Sinne des
§ 236 AO entgegen (BFH-Urteil vom 13.03.2024 - I R 1/20, BStBl
II 2025, 193 = SIS 24 13 38, Rz 73; BFH-Beschluss vom 07.08.2024 -
VII B 168/22, BFH/NV 2025, 164 = SIS 24 18 67, Rz 9, 13 sowie
bereits unter II.3.b).
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39
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Dass der unionsrechtliche Verzinsungsanspruch
für im Rahmen eines Einspruchsverfahrens erstattete
Kapitalertragsteuerbeträge insoweit einen weitergehenden
Zinsanspruch als das nationale Recht gewährt (s. II.2.a), ist
ebenfalls unerheblich.
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40
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bb) Wenn eine Steuer von einer nationalen
Behörde „unter Verstoß gegen das
Unionsrecht“ rechtsgrundlos erhoben wird,
begründet und rechtfertigt dies die Verzinsung der zu
erstattenden Steuerbeträge (vgl. EuGH-Urteile
Gräfendorfer Geflügel und Tiefkühlfeinkost u.a. vom
28.04.2022 - C-415/20, C-419/20 und C-427/20, EU:C:2022:306, BFH/NV
2022, 796 = SIS 22 07 37, Rz 60; Dyrektor Izby Administracji
Skarbowej we Wroclawiu vom 08.06.2023 - C-322/22, EU:C:2023:460 =
SIS 23 11 48, Rz 33). Ein Verstoß gegen das Unionsrecht im
Rahmen der Steuererhebung kann jede Vorschrift des Unionsrechts zum
Gegenstand haben, sei es eine Bestimmung des Primär- oder
Sekundärrechts oder einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des
Unionsrechts (EuGH-Urteile Gräfendorfer Geflügel und
Tiefkühlfeinkost u.a. vom 28.04.2022 - C-415/20, C-419/20 und
C-427/20, EU:C:2022:306, BFH/NV 2022, 796 = SIS 22 07 37, Rz 61;
Dyrektor Izby Administracji Skarbowej we Wroclawiu vom 08.06.2023 -
C-322/22, EU:C:2023:460 = SIS 23 11 48, Rz 34; ebenso BFH-Urteile
vom 13.03.2024 - I R 1/20, BStBl II 2025, 193 = SIS 24 13 38, Rz
70, m.w.N.; vom 15.11.2022 - VII R 29/21 (VII R 17/18), BFHE 279,
1, BStBl II 2023, 803 = SIS 23 09 12, Rz 12; BFH-Beschluss vom
07.08.2024 - VII B 168/22, BFH/NV 2025, 164 = SIS 24 18 67, Rz 9,
13). Zur Art des Verstoßes hat der EuGH ferner entschieden,
dass die unionsrechtlichen Ansprüche auf Erstattung und auf
Zahlung von Zinsen Ausdruck eines allgemeinen Grundsatzes sind,
dessen Anwendung nicht auf bestimmte
Unionsrechtsverstöße beschränkt und nicht bei
bestimmten Unionsrechtsverstößen ausgeschlossen ist
(EuGH-Urteile Gräfendorfer Geflügel und
Tiefkühlfeinkost u.a. vom 28.04.2022 - C-415/20, C-419/20 und
C-427/20, EU:C:2022:306, BFH/NV 2022, 796 = SIS 22 07 37, Rz 62;
Dyrektor Izby Administracji Skarbowej we Wroclawiu vom 08.06.2023 -
C-322/22, EU:C:2023:460 = SIS 23 11 48, Rz 35).
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41
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cc) Zwar kommt die Verzinsung erhobener
Steuerbeträge nach diesen Grundsätzen auch in Betracht,
wenn sich aus einer Entscheidung des EuGH oder einer Entscheidung
eines nationalen Gerichts ergibt, dass eine Quellensteuer von einer
nationalen Behörde auf der Grundlage einer fehlerhaften
Auslegung oder einer fehlerhaften Anwendung des Unionsrechts
erhoben wird (EuGH-Urteil Dyrektor Izby Administracji Skarbowej we
Wroclawiu vom 08.06.2023 - C-322/22, EU:C:2023:460 = SIS 23 11 48,
Rz 37). Im Rahmen des zweigeteilten Verfahrens bestehend aus dem
Kapitalertragsteuereinbehalt und einer anschließenden
antragsgebundenen Erstattung der Steuerabzugsbeträge auf
Grundlage der Regelungen in § 50d Abs. 1 Satz 2 i.V.m. §
43b EStG und Art. 5 MTR liegt jedoch grundsätzlich noch keine
solche fehlerhafte Auslegung oder Anwendung des Unionsrechts, die
einen Verzinsungsanspruch begründen kann.
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42
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Die Vornahme des Kapitalertragsteuerabzugs im
Zeitpunkt der Ausschüttung ist - ungeachtet der objektiv
gegebenen Steuerfreiheit nach Art. 5 MTR und § 43b EStG - nach
den Vorgaben des Unionsrechts grundsätzlich nicht zu
beanstanden. Die Kapitalertragsteueranmeldungen des
inländischen Entrichtungsschuldners (hier: der B-AG) bilden -
unionsrechtskonform - den Rechtsgrund für das Vereinnahmen und
das „Behaltendürfen“ der
Kapitalertragsteuer durch den deutschen Fiskus. Keinen
Unionsrechtsverstoß begründet es ferner, dass der
Anteilseigner als Empfänger der Bezüge die Erstattung der
einbehaltenen Steuer beantragen muss. Auch die ihm bis zur
Erteilung des notwendigen Freistellungsbescheids entstehenden
Liquiditätsnachteile können grundsätzlich nicht
kausal auf einen Unionsrechtsverstoß zurückgeführt
werden (vgl. zum Ganzen BFH-Urteil vom 13.03.2024 - I R 1/20, BStBl
II 2025, 193 = SIS 24 13 38, Rz 84, 85 mit Verweis auf EuGH-Urteil
FKP Scorpio Konzertproduktionen vom 03.10.2006 - C-290/04,
EU:C:2006:630, BStBl II 2007, 352 = SIS 06 44 26; BFH-Urteile vom
24.04.2007 - I R 39/04, BFHE 218, 89, BStBl II 2008, 95 = SIS 07 36 23; vom 11.01.2012 - I R 25/10, BFHE 236, 318 = SIS 12 09 95; vom
25.10.2023 - I R 35/21, BFHE 283, 1, BStBl II 2024, 343 = SIS 24 04 85 und vom 25.04.2018 - I R 59/15, BFHE 261, 406, BStBl II 2018,
624 = SIS 18 11 93). Dem schließt sich der erkennende Senat
an.
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43
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dd) Es ist aber von einer unionsrechtswidrigen
Erhebung der Kapitalertragsteuer auszugehen, wenn im
Erstattungsverfahren ein mit dem Unionsrecht nicht mehr vereinbarer
Vollzug der Entlastungsregelungen in § 50d Abs. 1 Satz 2
i.V.m. § 43b EStG und Art. 5 MTR stattfindet.
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44
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aaa) Ein unionsrechtswidriger Vollzug der
Entlastungsregelungen im Erstattungsverfahren kann - wie bei der
Erhebung der Steuerbeträge - auf einer fehlerhaften Auslegung
oder Anwendung des Unionsrechts beruhen, wobei der Verstoß
jede Vorschrift des Unionsrechts, sei es eine Bestimmung des
Primär- oder Sekundärrechts oder einen allgemeinen
Rechtsgrundsatz des Unionsrechts, zum Gegenstand haben kann (s.
unter II.3.c bb; vgl. EuGH-Urteil Dyrektor Izby Administracji
Skarbowej we Wroclawiu vom 08.06.2023 - C-322/22, EU:C:2023:460 =
SIS 23 11 48, Rz 37).
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bbb) Der unionsrechtswidrige Vollzug der
Entlastungsregelungen liegt für die hier betrachteten
Erstattungsanträge darin, dass das BZSt der Klägerin die
Erstattung unter Berufung auf die Regelung in § 50d Abs. 3
EStG 2007 vorenthalten hat. Dies führte wie vom FG zutreffend
erkannt zu einer fehlerhaften Auslegung und Anwendung des
Unionsrechts durch das BZSt (s. anders unter III.1. und III.2.
für den dort streitigen unionsrechtswidrigen Widerruf der
zuvor erteilten Freistellungsbescheinigung).
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(1) Gemäß § 50d Abs. 3 Satz 1
EStG 2007 hat eine ausländische Gesellschaft keinen Anspruch
auf völlige oder teilweise Entlastung (von der
Kapitalertragsteuer), soweit Personen an ihr beteiligt sind, denen
die Erstattung oder Freistellung nicht zustände, wenn sie die
Einkünfte unmittelbar erzielten, und (Nr. 1) für die
Einschaltung der ausländischen Gesellschaft wirtschaftliche
oder sonst beachtliche Gründe fehlen oder (Nr. 2) die
ausländische Gesellschaft nicht mehr als 10 Prozent ihrer
gesamten Bruttoerträge des betreffenden Wirtschaftsjahres aus
eigener Wirtschaftstätigkeit erzielt oder (Nr. 3) die
ausländische Gesellschaft nicht mit einem für ihren
Geschäftszweck angemessen eingerichteten Geschäftsbetrieb
am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr teilnimmt.
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(2) § 50d Abs. 3 EStG 2007 hat der EuGH
mit Urteil Deister Holding und Juhler Holding vom 20.12.2017 -
C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009, BFH/NV 2018, 319 = SIS 17 24 60 als nicht mit Art. 1 Abs. 2 MTR und der Niederlassungsfreiheit
(Art. 49 des Vertrags über die Arbeitsweise der
Europäischen Union - AEUV - ) vereinbar angesehen. Er hat
entschieden, dass eine nationale Regelung nur dann die Verhinderung
von Steuerhinterziehungen und Missbräuchen bezwecke, wenn ihr
spezifisches Ziel in der Verhinderung von Verhaltensweisen liege,
die darin bestünden, rein künstliche, jeder
wirtschaftlichen Realität bare Konstruktionen zu dem Zweck zu
errichten, ungerechtfertigt einen Steuervorteil zu nutzen. Insofern
hat der EuGH insbesondere moniert, dass § 50d Abs. 3 EStG 2007
als Steuervorschrift wirke, die eine allgemeine Missbrauchs- oder
Hinterziehungsvermutung zu Lasten der beschränkt
steuerpflichtigen Dividendenbezieher begründe und diese vom
Steuervorteil nach Art. 5 MTR ausgenommen würden, ohne dass
dem BZSt ein Anfangsbeweis für das Fehlen wirtschaftlicher
Gründe des Beteiligungsbezugs und eine Darlegung von Indizien
für eine Steuerhinterziehung oder eine missbräuchliche
Gestaltung abverlangt werde (EuGH-Urteil Deister Holding und Juhler
Holding vom 20.12.2017 - C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009,
BFH/NV 2018, 319 = SIS 17 24 60, Rz 60, 61, 62).
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(3) Auf dieser Grundlage hat das BZSt der
Klägerin in den hier betrachteten reinen
Erstattungsfällen (anders zu dem unter III.1. und III.2.
behandelten Erstattungsantrag) die Erstattungen jeweils in
unionsrechtswidriger Weise vorenthalten. Es hat sich zur Ablehnung
der Erstattung jeweils auf § 50d Abs. 3 EStG 2007 und die der
Regelung innewohnende allgemeine Missbrauchsregelung gestützt,
ohne selbst Umstände des Streitfalls zu benennen, aus denen im
Sinne eines Anfangsbeweises auf fehlende wirtschaftliche
Gründe für die Einschaltung der Klägerin in die
Beteiligungsstruktur oder auf eine Steuerhinterziehung geschlossen
werden könnte. In der Anwendung des § 50d Abs. 3 EStG
2007 als allgemeiner Missbrauchsregelung und der
verfahrensrechtlichen Umkehrung der Darlegungs- und
Feststellungslast für eine missbräuchliche Gestaltung (s.
Nr. 14 des BMF-Schreibens vom 03.04.2007, BStBl I 2007, 446 = SIS 07 12 92) liegt eine fehlerhafte Auslegung und Anwendung der
Vorgaben aus Art. 1 Abs. 2 MTR und der Niederlassungsfreiheit (Art.
49 AEUV) durch das BZSt (s.a. BMF-Schreiben vom 04.04.2018, BStBl I
2018, 589 = SIS 18 04 65 zur generellen Nichtanwendung von §
50d Abs. 3 EStG 2007 in Erstattungsfällen gemäß
§ 43b EStG nach Ergehen des EuGH-Urteils Deister Holding und
Juhler Holding vom 20.12.2017 - C-504/16 und C-613/16,
EU:C:2017:1009, BFH/NV 2018, 319 = SIS 17 24 60).
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49
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(4) Der Senat hat angesichts der
unmissverständlichen Aussagen des EuGH-Urteils Deister Holding
und Juhler Holding vom 20.12.2017 - C-504/16 und C-613/16,
EU:C:2017:1009, BFH/NV 2018, 319 = SIS 17 24 60 auch keine Zweifel,
dass hierin jeweils eine fehlerhafte Auslegung und Anwendung des
Unionsrechts durch das BZSt zu sehen ist. Dies ist auch in der
mündlichen Verhandlung zwischen den Beteiligten nicht mehr
streitig gewesen.
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50
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4. Das FG hat der Ermittlung der
Zinsansprüche der Klägerin jedoch zu kurze
Verzinsungszeiträume zugrunde gelegt. Aus diesem Grund ist das
FG-Urteil für die mit der Revision der Klägerin
weiterverfolgten Zinsansprüche aufzuheben.
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51
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a) Anders als die Klägerin meint, wird
der maßgebliche Verzinsungszeitraum durch die
grundsätzlich unionsrechtskonforme Steuererhebung im
zweigeteilten Verfahren bestimmt. Er umfasst in Fällen, in
denen dem Anteilseigner zunächst keine
Freistellungsbescheinigung vorlag oder in unionsrechtswidriger
Weise widerrufen wurde (s. dazu unter III.1. und I.2.), nicht den
Zeitraum zwischen dem Steuereinbehalt und der Einreichung des
Erstattungsantrags beim BZSt. Die Klägerin kann hinsichtlich
der Verzinsung fiktiv nicht so gestellt werden, als sei ihr eine
Abstandnahme vom Steuerabzug zu gewähren gewesen, wenn ihr
tatsächliches Vorgehen und Rechtsschutzbegehren nur auf die
nachträgliche Entlastung von der Kapitalertragsteuer im Wege
der Erstattung gerichtet war (BFH-Urteil vom 13.03.2024 - I R 1/20,
BStBl II 2025, 193 = SIS 24 13 38, Rz 87). Darüber hinaus
liegt im Rahmen des Erstattungsverfahrens kein unionsrechtswidriger
Liquiditätsentzug vor, solange sich die Bearbeitung und
Prüfung der Erstattung durch das BZSt als
ordnungsgemäßer Vollzug der steuerrechtlichen
Entlastungsregelungen - hier gemäß § 50d Abs. 1
Satz 2 i.V.m. § 43b EStG und Art. 5 MTR - darstellt (s. unter
II.4.c aa bis cc; BFH-Urteil vom 13.03.2024 - I R 1/20, BStBl II
2025, 193 = SIS 24 13 38, Rz 86, 87, m.w.N.). Hiervon ist auch das
FG ausgegangen.
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52
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b) Nach Eingang des vollständigen
Erstattungsantrags ist der Finanzverwaltung daher ein
Bearbeitungszeitraum für die Entscheidung über den Antrag
bis zur Auszahlung des Erstattungsbetrags zuzubilligen,
während derer der Liquiditätsnachteil des Anteilseigners
noch nicht auf einer unionsrechtswidrigen Vorenthaltung des
Erstattungsanspruchs beruht (s. zur Erstattung der Mehrwertsteuer
ebenso EuGH-Urteile Enel Maritsa Iztok 3 vom 12.05.2011 - C-107/10,
EU:C:2011:298 = SIS 11 16 24; Rafinãria Steaua
Românã vom 24.10.2013 - C-431/12, EU:C:2013:686 = SIS 13 32 47; BFH-Urteil vom 22.10.2019 - VII R 24/18, BFHE 267, 90 =
SIS 20 04 96, Rz 26, 30). Denn auch bei einer zutreffenden
Anwendung des Unionsrechts im Erstattungsverfahren, die keine
Verzinsung auslösen würde, wäre nicht am Tag nach
dem Eingang des Erstattungsantrags der begehrte
Freistellungsbescheid zu erteilen und die Kapitalertragsteuer
auszuzahlen.
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53
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c) Für die Dauer der Bearbeitungszeit
kommt es maßgeblich darauf an, in welchem Zeitraum bei
Hinwegdenken des Unionsrechtsverstoßes eine Entscheidung
über die Erstattungsanträge und die Auszahlung der
Erstattungsbeträge hätte erwartet werden können. Die
vom FG herangezogene Bearbeitungsfrist von vier Monaten und 10
Tagen ist für den hier betroffenen Sachbereich der
Erstattungsanträge gemäß § 50d Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 43b EStG
und Art. 5 MTR jedoch nicht geeignet. Der Senat hält einen
typisierenden Bearbeitungszeitraum von drei Monaten nach Eingang
eines formal ordnungsgemäßen Erstattungsantrags beim
BZSt für ausreichend und sachgerecht.
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aa) Der vom FG herangezogene
Bearbeitungszeitraum des BZSt von vier Monaten und 10 Tagen ab der
Antragstellung ist hingegen nicht geeignet.
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55
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Der VII. Senat des BFH hat diese
Bearbeitungsfrist im Urteil vom 22.10.2019 - VII R 24/18 (BFHE 267,
90 = SIS 20 04 96) aus Regelungen der Richtlinie 2008/9/EG (RL
2008/9/EG) des Rates vom 12.02.2008 zur Regelung der Erstattung der
Mehrwertsteuer gemäß der Richtlinie 2006/112/EG an nicht
im Mitgliedstaat der Erstattung, sondern in einem anderen
Mitgliedstaat ansässige Steuerpflichtige abgeleitet. Nach Art.
15 Abs. 1 Satz 1 RL 2008/9/EG müsse der Erstattungsantrag dem
zuständigen Mitgliedstaat spätestens am 30. September des
auf den Erstattungszeitraum folgenden Kalenderjahres vorliegen.
Sodann stünden der Behörde nach der Richtlinie insgesamt
vier Monate und 10 Arbeitstage zur Verfügung, um den
Erstattungsantrag zu bearbeiten und den Erstattungsbetrag
auszuzahlen. Diese Frist solle der für alle Antragsteller
gleichen Abgabefrist für die Erstattungsanträge und dem
erhöhten Antragsaufkommen zu bestimmten Zeiten Rechnung tragen
(BFH-Urteil vom 22.10.2019 - VII R 24/18, BFHE 267, 90 = SIS 20 04 96, Rz 29 zur Übertragung auch auf Verfahren zur Entlastung
von der Energiesteuer). Im Bereich der Kapitalertragsteuer
beziehungsweise Abzugsteuer existiert jedoch wegen fehlender
einheitlicher Abgabefristen für Erstattungsanträge zu
einem bestimmten Stichtag eine vergleichbare Situation nicht
(ebenso Beinert, Internationale Steuer-Rundschau - ISR - 2024, 225
(230); Erdem in Flick/Wassermeyer/Baumhoff/Schönfeld,
Außensteuerrecht, Vor § 50d Abs. 3 EStG Rz 21.2;
Paar/Pignot, IStR 2022, 500 (504)).
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56
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bb) Die Dauer einer angemessenen
behördlichen Bearbeitungsfrist für
Erstattungsanträge ist ferner weder in § 43b EStG noch in
§ 50d Abs. 1 Satz 2 ff. EStG noch in der
Mutter-Tochter-Richtlinie geregelt. Allerdings enthält §
50d Abs. 2 Satz 6 und 7 EStG für die Erteilung von
Freistellungsbescheinigungen im hier relevanten Streitzeitraum die
Vorgabe für das BZSt, über einen solchen Antrag innerhalb
von drei Monaten entscheiden zu müssen. Diese
Entscheidungsfrist beginnt mit der Vorlage aller für die
Entscheidung erforderlichen Nachweise beim BZSt.
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57
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cc) Der Senat sieht in der dreimonatigen
Entscheidungsfrist einen angemessenen Bearbeitungszeitraum des BZSt
für die Entscheidung über reine Erstattungsanträge
wie im Streitfall. Bei den erforderlichen Nachweisen, die diesen
typisierenden Zeitraum in Gang setzen, handelt es sich um die vom
Antragsteller beizubringenden und für die Bearbeitung des
Antrags notwendigen formalen Nachweise (vgl. § 50d Abs. 1 Satz
3 EStG: amtlich vorgeschriebener Vordruck und Amtliches
Einkommensteuerhandbuch 2008 bis 2010 zu § 43b EStG mit
Hinweis auf das BMF-Schreiben vom 01.03.1994, BStBl I 1994, 203 =
SIS 94 16 57, Tz. 1.4.3, 2.4: Ansässigkeitsbescheinigung der
ausländischen Steuerbehörde, Belege zu Art, Höhe und
Zufluss sowie Einbehalt der Kapitalertragsteuer, zum Beispiel die
Steuerbescheinigung).
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58
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Soweit das BZSt in der mündlichen
Verhandlung darauf hingewiesen hat, dass in einem
Erstattungsverfahren - anders als in einem
Freistellungsbescheinigungsverfahren - zusätzlich die
Abführung der (gegebenenfalls zu Unrecht bescheinigten)
einbehaltenen Kapitalertragsteuer zu prüfen sei, sieht der
Senat hierin keinen Umstand, der gegen das Heranziehen der
Dreimonatsfrist für das Freistellungsbescheinigungsverfahren
als angemessenen Bearbeitungszeitraum für die Bemessung des
Verzinsungszeitraums spricht. Der Senat orientiert sich insoweit
nur typisierend an der gesetzlich vorgesehenen Entscheidungsfrist
für das Freistellungsbescheinigungsverfahren, da es sich in
beiden Verfahren um ein weitgehend übereinstimmendes
materielles Prüfungsprogramm handelt. Auch im Schrifttum
(Beinert, ISR 2024, 225 (226 f., 230); Kohlhas, juris - Die
Monatszeitschrift 2024, 310 (312 f.); Erdem in
Flick/Wassermeyer/Baumhoff/Schönfeld, Außensteuerrecht,
Vor § 50d Abs. 3 EStG Rz 21.2, 21.3; engere Auffassung
Paar/Pignot, IStR 2022, 500 (504 f.)) wird es für möglich
gehalten, die dreimonatige Entscheidungsfrist des § 50d Abs. 2
Satz 6 EStG (heute § 50c Abs. 2 Satz 6 EStG) als angemessenen
typisierenden Bearbeitungszeitraum des BZSt heranzuziehen, wenn dem
Anteilseigner die ihm gemäß § 50d Abs. 1 Satz 2
i.V.m. § 43b EStG und nach Art. 5 MTR zustehende Erstattung
der Kapitalertragsteuer aufgrund der unionsrechtswidrigen Auslegung
und Anwendung von § 50d Abs. 3 EStG 2007 vorenthalten
wird.
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dd) Dem steht auch nicht entgegen, dass der I.
Senat des BFH für andere Fallkonstellationen einen
Bearbeitungszeitraum des BZSt von sechs Monaten nach dem
Antragseingang als sachgerecht erachtet hat (BFH-Urteil vom
13.03.2024 - I R 1/20, BStBl II 2025, 193 = SIS 24 13 38, Rz 88).
Wegen der spezielleren gesetzlichen Regelungslage in § 50d
Abs. 1 und Abs. 2 EStG ist es für die hier betroffenen
Erstattungsverfahren sachgerecht, an die gesetzliche
Entscheidungsfrist für das
Freistellungsbescheinigungsverfahren anzuknüpfen. Eine
Bearbeitungsfrist von 12 Monaten in Anlehnung an § 50c Abs. 4
Satz 3 EStG, Art. 1 Abs. 16 Zins- und Lizenzrichtlinie hält
der Senat aus diesem Grund ebenfalls für nicht sachgerecht, da
der europäische Richtliniengeber und der nationale Gesetzgeber
diesen Verzinsungsanspruch abweichend von § 233a Abs. 1 Satz 2
AO nur für die Erstattung einbehaltener Kapitalertragsteuer
auf Zinsen und Lizenzeinnahmen einführen wollten (s.a.
Beinert, ISR 2024, 225 (226 f., 230); Paar/Pignot, IStR 2022, 500
(504 f.); s.a. BT-Drucks. 19/27632, S. 55).
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d) Für die Berechnung des
Verzinsungszeitraums endete die angemessene Bearbeitungszeit des
BZSt somit mit Ablauf von drei Monaten nach Eingang der
Erstattungsanträge der Klägerin, die nach dem
übereinstimmenden Vorbringen der Beteiligten in der
mündlichen Verhandlung formal ordnungsgemäß und
vollständig waren. Soweit das BZSt sich wegen § 50d Abs.
3 EStG 2007 an einer positiven Bescheidung der Anträge und
Auszahlung der Erstattungsbeträge gehindert gesehen hat,
handelt es sich nach Ablauf des dreimonatigen Bearbeitungszeitraums
nicht mehr um einen ordnungsgemäßen Vollzug der
steuerrechtlichen Entlastungsregelungen in Art. 5 MTR und §
50d Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 43b EStG. Insoweit beruhen die
Liquiditätsnachteile der Klägerin auf der
unionsrechtswidrigen Vorenthaltung der Erstattungsbeträge. Da
das FG von anderen Grundsätzen ausgegangen ist, ist das
FG-Urteil aufzuheben, soweit es von der Klägerin mit der
Revision angefochten worden ist.
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5. Die Sache ist auch spruchreif. Das BZSt
wird nach Maßgabe der folgenden Vorgaben zur Festsetzung der
Zinsansprüche verpflichtet. Der Klage ist über den
bisherigen Umfang hinaus teilweise stattzugeben. Im Übrigen
ist sie abzuweisen.
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a) In Ermangelung einer unionsrechtlichen
Regelung kommt es der innerstaatlichen Rechtsordnung der
Mitgliedstaaten zu, die Bedingungen für die Zahlung der Zinsen
nach dem unionsrechtlichen Verzinsungsanspruch - insbesondere den
Zinssatz und die Berechnungsmethode für die Zinsen -
festzulegen. Diese Bedingungen müssen den Grundsätzen der
Äquivalenz und der Effektivität entsprechen, das
heißt, sie dürfen nicht ungünstiger sein als bei
ähnlichen Ansprüchen, die auf Bestimmungen des
innerstaatlichen Rechts gestützt sind, und sie dürfen
nicht so ausgestaltet sein, dass sie die Ausübung der Rechte,
die die Unionsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich
machen. Die Zinszahlungsmodalitäten dürfen nicht dazu
führen, dass dem Betreffenden eine angemessene
Entschädigung für die erlittenen Einbußen
vorenthalten wird; dies setzt unter anderem voraus, dass die ihm
gezahlten Zinsen den Gesamtzeitraum abdecken, der je nach Lage des
Falles zwischen dem Tag, an dem der Betreffende den fraglichen
Geldbetrag entrichtet hat oder hätte erhalten sollen, und dem
Tag liegt, an dem dieser ihm erstattet oder an ihn entrichtet
wurde. Daraus folgt, dass das Unionsrecht einer rechtlichen
Regelung entgegensteht, die dieser Anforderung nicht entspricht,
und die wirksame Geltendmachung der durch das Unionsrecht
gewährleisteten Ansprüche auf Erstattung und Zahlung von
Zinsen nicht ermöglicht (z.B. EuGH-Urteil Dyrektor Izby
Administracji Skarbowej we Wroclawiu vom 08.06.2023 - C-322/22,
EU:C:2023:460 = SIS 23 11 48, Rz 40; BFH-Urteile vom 13.03.2024 - I
R 1/20, BStBl II 2025, 193 = SIS 24 13 38, Rz 67, 68, 74, m.w.N.;
vom 15.11.2022 - VII R 29/21 (VII R 17/18), BFHE 279, 1, BStBl II
2023, 803 = SIS 23 09 12).
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Bei der Berechnung des Zinszahlungszeitraums
im Fall von Erstattungsanträgen sind - anders als im Rahmen
von § 238 Abs. 1 AO und als vom FG berechnet - daher nicht nur
volle Zinsmonate zu berücksichtigen (BFH-Urteile vom
15.11.2022 - VII R 29/21 (VII R 17/18), BFHE 279, 1, BStBl II 2023,
803 = SIS 23 09 12; vom 13.03.2024 - I R 1/20, BStBl II 2025, 193 =
SIS 24 13 38, Rz 73).
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b) Der Zinssatz bestimmt sich nach § 238
Abs. 1 Satz 1 AO. Er steht im Einklang mit den unionsrechtlichen
Vorgaben, weil er auch im Fall der Verzinsung eines
Körperschaftsteuererstattungsanspruchs nach nationalem Recht
anzuwenden wäre (vgl. BFH-Urteile vom 15.11.2022 - VII R 29/21
(VII R 17/18), BFHE 279, 1, BStBl II 2023, 803 = SIS 23 09 12, Rz
37, 38; vom 13.03.2024 - I R 1/20,, Rz 75, 76).
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c) Anknüpfend daran sind die Zinsen
für den maßgeblichen Verzinsungszeitraum taggenau zu
berechnen. Der Zinslauf beginnt mit dem Tag, der auf den Ablauf des
dreimonatigen Bearbeitungszeitraums nach Eingang des
Erstattungsantrags folgt. Er endet mit dem Auszahlungstag des
Erstattungsbetrags. Für die Zinsberechnung ist
gemäß § 187 Abs. 1 des Bürgerlichen
Gesetzbuchs der Tag, ab dem der Bearbeitungszeitraum zugunsten des
BZSt nicht mehr zu berücksichtigen ist und der
Liquiditätsnachteil, auf dem der Unionsrechtsverstoß
beruht, nicht mitzuzählen, da es sich um ein in diesen Tag
fallendes „Ereignis“ handelt (s. zur
Zinsberechnung bei Ereignisfristen Grüneberg/Grüneberg,
Bürgerliches Gesetzbuch, 84. Aufl., § 246 Rz 9 und
Grüneberg/Ellenberger, Bürgerliches Gesetzbuch, 84.
Aufl., § 187 Rz 1). Nach der Berechnung des Senats stehen der
Klägerin auf dieser Grundlage Zinsen in der folgenden
Höhe zu:
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