Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil
des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 09.06.2016 - 11 K
15/16 = SIS 17 16 71 aufgehoben.
Die Klage wegen Umsatzsteuer 2012 und 2013
wird abgewiesen.
Wegen Umsatzsteuer 2014 wird die Sache an das
Niedersächsische Finanzgericht zur anderweitigen Verhandlung
und Entscheidung zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die
Kosten des gesamten Verfahrens übertragen.
10
|
Nach Wiederaufnahme des Revisionsverfahrens
sieht sich das FA durch das EuGH-Urteil in seiner Rechtsauffassung
bestätigt.
|
|
|
11
|
Das FA beantragt, die Vorentscheidung
aufzuheben und die Klage abzuweisen.
|
|
|
12
|
Die Klägerin beantragt
sinngemäß, die Revision wegen Umsatzsteuer 2012 und 2013
als unbegründet zurückzuweisen und den
Umsatzsteuerbescheid für 2014 vom 02.03.2017 dahingehend zu
ändern, dass ihre gutachterlichen Leistungen als steuerfrei
erfasst werden,
|
|
hilfsweise, dass die betreffende
Bemessungsgrundlage durch Herausrechnen der Umsatzsteuer ermittelt
wird.
|
|
|
13
|
Sie hält an ihrem Revisionsvorbringen
fest und sieht es für ihre Anerkennung als Einrichtung mit
sozialem Charakter nicht als zwingend an, dass zwischen ihr und der
jeweiligen Pflegekasse ein Vertrag geschlossen werde. Hilfsweise
macht sie geltend, dass im Umsatzsteuerbescheid für 2014 vom
02.03.2017 die Bemessungsgrundlage der vom FA als steuerpflichtig
angesehenen Umsätze unzutreffend ermittelt worden sei.
|
|
|
14
|
II. Die Revision ist begründet. Sie
führt zur Aufhebung der Vorentscheidung, wegen Umsatzsteuer
2012 und 2013 zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr.
1 der Finanzgerichtsordnung - FGO - ) und wegen Umsatzsteuer 2014
zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen
Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2
FGO).
|
|
|
15
|
Das FG hat zwar zutreffend erkannt, dass die
gutachterlichen Leistungen der Klägerin nach nationalem Recht
nicht von der Umsatzsteuer befreit sind (dazu unter 1.). Allerdings
hat es zu Unrecht entschieden, dass sich die Klägerin auf die
in Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL vorgesehene Steuerbefreiung
berufen könne (dazu unter 2.). Die Sache ist die Streitjahre
2012 und 2013 betreffend spruchreif. Zum Streitjahr 2014 geht der
Rechtsstreit nach Ergehen eines Änderungsbescheides
gemäß § 127 FGO an das FG zurück (dazu unter
3.).
|
|
|
16
|
1. Wie das FG zutreffend erkannt hat, sind die
gutachterlichen Leistungen der Klägerin gemäß
§ 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG steuerbar und nach nationalem
Recht auch steuerpflichtig, da die Voraussetzungen einer
Steuerbefreiung nach § 4 UStG nicht erfüllt sind.
|
|
|
17
|
a) Es liegt keine steuerfreie Heilbehandlung
nach § 4 Nr. 14 UStG vor. Denn die Gutachtertätigkeit des
MDK und damit auch die der Klägerin dienen ihrem Hauptzweck
nach weder der Behandlung, Linderung oder Vorbeugung einer
Krankheit - sie dienen vielmehr als Grundlage für die
Feststellung, in welcher Höhe dem Versicherten ein Anspruch
auf Ersatz von Kosten nach dem Gesetz über die
Pflegeversicherung zusteht.
|
|
|
18
|
aa) Wird eine Leistung in einem Zusammenhang
erbracht, der die Feststellung zulässt, dass ihr Hauptziel
nicht der Schutz einschließlich der Aufrechterhaltung oder
Wiederherstellung der Gesundheit ist, sondern die Erstattung eines
Gutachtens, das Voraussetzung einer Entscheidung ist, die
Rechtswirkungen erzeugt, so liegt keine Heilbehandlung im Sinne des
Unionsrechts (EuGH-Urteile Unterpertinger vom 20.11.2003 -
C-212/01, EU:C:2003:625 = SIS 04 01 34, Rz 42 ff.;
D’Ambrumenil und Dispute Resolution Services vom 20.11.2003 -
C-307/01, EU:C:2003:627 = SIS 04 01 35, Rz 61) und i.S. des §
4 Nr. 14 UStG vor (Beschluss des Bundesfinanzhofs - BFH - vom
31.07.2007 - V B 98/06, BFHE 217, 94, BStBl II 2008, 35 = SIS 07 31 19, unter II.2.b, Rz 15; BFH-Urteil vom 08.10.2008 - V R 32/07,
BFHE 222, 184, BStBl II 2009, 429 = SIS 08 42 94, unter II.1.a, Rz
11, m.w.N.).
|
|
|
19
|
bb) So liegt der Fall hier. Der Entscheidung
der Pflegekasse über die Gewährung von Leistungen nach
§ 28 SGB XI geht ein Verwaltungsverfahren voraus. Ein
unselbständiger Verfahrensschritt in diesem Verfahren ist die
Begutachtung, ob eine Pflegebedürftigkeit vorliegt.
|
|
|
20
|
(1) Nach dem Aufgabenkatalog der §§
275 und 276 Abs. 6 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V)
sind die Krankenkassen in den gesetzlich bestimmten Fällen
verpflichtet, eine gutachterliche Stellungnahme des MDK einzuholen.
Die Aufgaben des MDK im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung
ergeben sich zusätzlich zu den Bestimmungen des SGB V aus den
Vorschriften des SGB XI.
|
|
|
21
|
(2) Insofern regelt § 18 SGB XI, wie der
Gutachter - ein Mitarbeiter eines MDK oder (ab 30.10.2012) auch ein
unabhängiger Gutachter - in das Verwaltungsverfahren zur
Entscheidung über die Gewährung von Leistungen
einzubeziehen ist. Ihm kommt die zentrale Aufgabe zu, den
Pflegekassen den notwendigen medizinisch-pflegerischen Sachverstand
zu verschaffen. Zu prüfen sind vor allem, ob eine
Pflegebedürftigkeit vorliegt und welchem Pflegegrad diese
zuzuordnen ist. Weiterhin kann z.B. der Zeitanteil der
Pflegeversicherung bei der Pflege von Personen mit besonders hohem
Bedarf an behandlungspflegerischen Leistungen festzustellen sein.
Die Feststellung dieser Tatbestandsmerkmale erfolgt jedoch nicht
durch den Gutachter, sondern durch die Pflegekasse, welche sich
seiner sachkundigen Hilfe bedient und die Entscheidung über
die Gewährung der beantragten Leistung unter
Berücksichtigung der gutachterlichen Stellungnahme, aber
möglicherweise auch anderer Beweismittel, trifft (vgl. Roller
in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XI, § 18 Rz 11, 14).
|
|
|
22
|
(3) Durch § 275 Abs. 5 SGB V wird
schließlich klargestellt, dass die Ärzte des MDK nicht
berechtigt sind, in die ärztliche Behandlung einzugreifen.
Aufgabe des MDK ist somit die Begutachtung für Zwecke der
Sozialversicherung, nicht die Therapie (vgl. BFH-Urteile vom
28.06.2000 - V R 72/99, BFHE 191, 463, BStBl II 2000, 554 = SIS 00 12 71, unter II.1.e, Rz 14 ff.; in BFHE 222, 184, BStBl II 2009,
429 = SIS 08 42 94, unter II.1.b, Rz 12; Tehler in
Rau/Dürrwächter, Umsatzsteuergesetz, § 4 Nr. 15a Rz
41).
|
|
|
23
|
b) Da es sich bei den Leistungen der
Klägerin auch nicht um Leistungen zur Betreuung oder Pflege
von Personen handelt, ist § 4 Nr. 16 UStG nicht anwendbar.
|
|
|
24
|
c) Schließlich sind - anders als die
Klägerin meint - sowohl nach § 4 Nr. 15 UStG als auch
nach § 4 Nr. 15a UStG nur die Umsätze der darin genannten
Einrichtungen (z.B. der Sozialversicherungsträger bzw. des
MDK) steuerfrei. Die Klägerin entspricht dieser Vorgabe
nicht.
|
|
|
25
|
Denn der MDK ist jeweils die nach § 278
Abs. 2 SGB V in jedem Land von den Landesverbänden der Orts-,
Betriebs- und Innungskrankenkassen, landwirtschaftlichen
Krankenkassen und der Verbände der Ersatzkassen errichtete und
gemeinsam getragene Arbeitsgemeinschaft „Medizinischer
Dienst der Krankenversicherung“. Die Pflegekassen, die
gemäß § 46 Abs. 1 Satz 2 SGB XI bei der
Krankenkasse errichtet werden, sind selbst nicht Mitglieder der
MDK-Arbeitsgemeinschaften. Ebenso wenig ist die vom MDK beauftragte
Klägerin Teil des MDK.
|
|
|
26
|
2. Entgegen der Auffassung des FG kann sich
die Klägerin nicht auf eine Steuerfreiheit ihrer Leistungen
nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL berufen, auch wenn sie im
Rahmen ihrer Gutachtertätigkeit eng mit der
Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene
Leistungen im Sinne dieser Vorschrift bewirkte.
|
|
|
27
|
a) Nach dem EuGH-Urteil Finanzamt D
(EU:C:2020:811 = SIS 20 15 41, Rz 31) setzt das Leistungsmerkmal
„eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen
Sicherheit verbunden“ in Anbetracht der Regelung des Art.
134 Buchst. a MwStSystRL voraus, dass die betreffenden Lieferungen
von Gegenständen bzw. Dienstleistungen jedenfalls für die
der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit unterfallenden
Umsätze unerlässlich sein müssen.
|
|
|
28
|
Diesem Erfordernis werden die von der
Klägerin erbrachten gutachterlichen Leistungen gerecht.
Ausweislich der Gesetzgebungsmaterialien (vgl. BTDrucks 12/5952,
36) ist für eine ganzheitliche Beurteilung der
Pflegesituation, insbesondere der Behinderung und des Hilfsbedarfs,
die Beteiligung von Pflegefachkräften und anderer geeigneter
Fachkräfte (z.B. Heil- und Sozialpädagogen,
Sozialarbeiter, Psychologen), die entweder beim MDK angestellt oder
von ihm im Einzelfall beauftragt werden, unverzichtbar. Ferner
sieht Abschn. B 1 der Richtlinien des Spitzenverbandes Bund der
Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit
(Begutachtungsrichtlinien - BRi - i.d.F. vom 08.06.2009) die
Beteiligung von externen Kräften bei der Erstellung von
Gutachten des MDK zur Bewältigung von Antragsspitzen und zu
speziellen gutachterlichen Fragestellungen vor (vgl.
Vorlagebeschluss des Senats in BFHE 264, 478, BStBl II 2019, 683 =
SIS 19 12 39, Rz 47).
|
|
|
29
|
b) Soweit der erkennende Senat mit seinem
Vorlagebeschluss in BFHE 264, 478, BStBl II 2019, 683 = SIS 19 12 39 (Rz 49 ff.) für den Streitfall unionsrechtliche Zweifel am
Vorliegen eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen
Sicherheit verbundener Umsätze äußerte, weil die
Klägerin ihre Leistungen nicht an den jeweiligen
Hilfsbedürftigen, sondern an den MDK erbracht hat, hat der
EuGH mit Urteil Finanzamt D (EU:C:2020:811 = SIS 20 15 41, Rz 34)
darauf geantwortet, dass weder der Wortlaut des Art. 132 Abs. 1
Buchst. g MwStSystRL noch sein Zweck Anhaltspunkte dafür
geben, dass von dieser Steuerbefreiung solche Dienstleistungen
ausgeschlossen wären, die - ohne unmittelbar an die genannten
Personen erbracht zu werden - für die Umsätze im Bereich
der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit
unerlässlich sind.
|
|
|
30
|
aa) Die Mehrwertsteuerbefreiung von
Dienstleistungen nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL
hängt nicht davon ab, an wen diese erbracht werden, sofern sie
einen für die Durchführung der Maßnahmen der
Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit unerlässlichen
Schritt darstellen und ihre Belastung mit der Mehrwertsteuer daher
zwangsläufig dazu führen würde, die Kosten der
genannten Umsätze zu erhöhen (EuGH-Urteil Finanzamt D,
EU:C:2020:811 = SIS 20 15 41, Rz 36). Deshalb müssen
Dienstleistungen, die die Erstellung von Gutachten zur
Pflegebedürftigkeit betreffen, nicht unbedingt unmittelbar an
die pflegebedürftigen Personen erbracht werden, um als eng mit
der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbunden
angesehen werden zu können (EuGH-Urteil Finanzamt D,
EU:C:2020:811 = SIS 20 15 41, Rz 37). In diesem Zusammenhang ist es
unerheblich, dass die betreffenden Dienstleistungen von der
Klägerin als Subunternehmerin an einen anderen
Steuerpflichtigen, den MDK, erbracht wurden, der sie
benötigte, um seine eigenen steuerbefreiten Leistungen
für die betreffende Pflegekasse zu erbringen (EuGH-Urteil
Finanzamt D, EU:C:2020:811 = SIS 20 15 41, Rz 38 f.).
|
|
|
31
|
bb) Danach steht die Tatsache, dass die
Klägerin ihre gutachterlichen Leistungen nicht gegenüber
den begutachteten Personen, sondern gegenüber dem MDK erbracht
hat, der Annahme eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen
Sicherheit verbundener Leistungen nicht entgegen. Soweit sich
demgegenüber aus dem BFH-Urteil vom 01.12.2010 - XI R 46/08
(BFHE 232, 232 = SIS 11 05 50) etwas anderes ergibt, hält der
Senat hieran nicht mehr fest.
|
|
|
32
|
c) Auf die weiteren vom Senat formulierten
Zweifel am Vorliegen eng mit der Sozialfürsorge und der
sozialen Sicherheit verbundener Leistungen (Vorlagebeschluss in
BFHE 264, 478, BStBl II 2019, 683 = SIS 19 12 39, Rz 52) hat der
EuGH mit Urteil Finanzamt D (EU:C:2020:811 = SIS 20 15 41, Rz 40
f.) schließlich geantwortet, aus dem EuGH-Urteil
Unterpertinger (EU:C:2003:625) = SIS 04 01 34 folge nicht, dass
„die Erstellung von Gutachten zur Pflegebedürftigkeit
einer Person, wie sie im Ausgangsverfahren in Rede stehen, für
die Umsätze der betreffenden Kasse im Bereich der
Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit nicht
unerlässlich und nicht eng damit verbunden
wäre“.
|
|
|
33
|
d) Die Klägerin ist jedoch nicht von der
Bundesrepublik Deutschland als Einrichtung mit sozialem Charakter
anerkannt.
|
|
|
34
|
aa) Der - in Bezug auf die Klägerin
einzig in Betracht kommende - Begriff der Einrichtung mit sozialem
Charakter i.S. des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL ist zwar
grundsätzlich weit genug, um auch natürliche Personen und
private Einheiten mit Gewinnerzielungsabsicht zu erfassen (vgl.
dazu EuGH-Urteile Gregg vom 07.09.1999 - C-216/97, EU:C:1999:390 =
SIS 00 01 53, Rz 21; Kingscrest Associates und Montecello vom
26.05.2005 - C-498/03, EU:C:2005:322 = SIS 05 30 13, Rz 35, 40;
MDDP vom 28.11.2013 - C-319/12, EU:C:2013:778 = SIS 13 32 46, Rz
28, 31; BFH-Urteile vom 29.03.2017 - XI R 6/16, BFHE 257, 471 = SIS 17 09 89, Rz 28; vom 13.06.2018 - XI R 20/16, BFHE 262, 220 = SIS 18 13 92, Rz 53, m.w.N.).
|
|
|
35
|
bb) Allerdings sollen durch Art. 132 Abs. 1
Buchst. g MwStSystRL, wie sich aus der Überschrift von Titel
IX. Kap. 2 der MwStSystRL ergibt (vormals Art. 13 Teil A der
Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17.05.1977 zur
Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über
die Umsatzsteuern - Richtlinie 77/388/EWG - bzw. dessen
Überschrift), „bestimmte“ dem Gemeinwohl
dienende Tätigkeiten von der Mehrwertsteuer befreit werden.
Durch diese Vorschrift werden nicht alle dem Gemeinwohl dienenden
Tätigkeiten von der Mehrwertsteuer befreit, sondern nur
diejenigen, die in ihr einzeln aufgeführt und sehr genau
beschrieben sind (vgl. EuGH-Urteile Kommission/ Deutschland vom
20.06.2002 - C-287/00, EU:C:2002:388 = SIS 02 93 22, Rz 45; Horizon
College vom 14.06.2007 - C-434/05, EU:C:2007:343 = SIS 07 34 67, Rz
14; Canterbury Hockey Club und Canterbury Ladies Hockey Club vom
16.10.2008 - C-253/07, EU:C:2008:571 = SIS 08 43 13, Rz 18; Mesto
Žamberk vom 21.02.2013 - C-18/12, EU:C:2013:95 = SIS 13 11 63,
Rz 18; VDP Dental Laboratory u.a. vom 26.02.2015 - C-144/13,
C-154/13 und C-160/13, EU:C:2015:116 = SIS 15 08 39, Rz 45).
Folglich kann nicht jede Person, die eine dem Gemeinwohl dienende
Tätigkeit ausübt, als eine vom Mitgliedstaat anerkannte
Einrichtung angesehen werden; sonst würden die in Art. 132
MwStSystRL (vormals Art. 13 Teil A der Richtlinie 77/388/EWG)
enthaltenen personellen Voraussetzungen der einzelnen
Steuerbefreiungen durch die Rechtsprechung beseitigt (vgl.
BFH-Urteil vom 07.12.2016 - XI R 5/15, BFHE 256, 550 = SIS 17 04 47, Rz 30).
|
38
|
dd) Bezogen auf die Klägerin hat der EuGH
mit Urteil Finanzamt D (EU:C:2020:811 = SIS 20 15 41) zur Frage der
Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter
ausgeführt:
|
|
|
|
|
|
“46 Im vorliegenden Fall hat die
Revisionsbeklagte des Ausgangsverfahrens ihre Dienstleistungen zwar
als Subunternehmerin des MDK erbracht, der nach deutschem Recht als
Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannt ist, doch ist sie
selbst nicht in diese Anerkennung einbezogen worden. Nach den
Erläuterungen, die insbesondere das Finanzamt und die deutsche
Regierung vorgebracht haben, können unabhängige Gutachter
zwar unter den in § 4 Nr. 16 Buchst. k (ab dem 1.7.2013:
Buchst. l) UStG genannten Voraussetzungen als Einrichtung mit
sozialem Charakter anerkannt werden, wenn sie unmittelbar mit der
Pflegekasse einen Vertrag über die Erbringung der betreffenden
Leistungen schließen, wobei der unmittelbare Abschluss eines
solchen Vertrags es der Pflegekasse ermögliche, die fachliche
Qualifikation der Gutachter selbst zu prüfen und somit die
Qualität der erbrachten Dienstleistungen zu
gewährleisten. Indessen wird in diesen Erläuterungen
weiter ausgeführt, die Revisionsbeklagte des
Ausgangsverfahrens habe keinen solchen Vertrag abgeschlossen, so
dass sie sich nicht auf eine derartige Anerkennung nach deutschem
Recht berufen könne.
|
|
|
...
|
|
|
49 Erstens genügt der Umstand, dass das
Tätigwerden unabhängiger Gutachter bei der Beurteilung
der Pflegebedürftigkeit der Versicherten einer Pflegekasse in
Abschnitt B 1 der in Rn. 11 des vorliegenden Urteils
angeführten Richtlinien vorgesehen ist, als solcher nicht, um
den sozialen Charakter der betreffenden Gutachter festzustellen, da
das Bestehen spezifischer Vorschriften über die von diesen
Gutachtern erbrachten Dienstleistungen nur ein Gesichtspunkt unter
anderen ist, die bei der Prüfung des sozialen Charakters zu
berücksichtigen sind (vgl. entsprechend Urteil vom 21.1.2016,
Les Jardins de Jouvence, C-335/14, EU:C:2016:36 = SIS 16 02 98, Rn.
39). Dies gilt im vorliegenden Fall umso mehr, als aus diesen
Richtlinien hervorzugehen scheint, dass die Möglichkeit,
unabhängige Gutachter heranzuziehen, nur
‘ausnahmsweise’ besteht, insbesondere zur
Bewältigung von ‘Antragsspitzen’.
|
|
|
|
|
|
50 Ließe man die Anerkennung als
Einrichtung mit sozialem Charakter allein daraus folgen, dass der
betreffende Steuerpflichtige von einem anderen, bereits als solche
Einrichtung anerkannten Steuerpflichtigen beauftragt wurde, liefe
dies im Übrigen im Ergebnis darauf hinaus, Letzteren zur
Ausübung des dem Mitgliedstaat eingeräumten Ermessens zu
ermächtigen, und schüfe das Risiko, wie die deutsche
Regierung im Wesentlichen ausgeführt hat, eine Umgehung der im
nationalen Recht aufgestellten Anerkennungskriterien zu
ermöglichen.
|
|
|
|
|
|
51 Zweitens stellt die Tatsache, dass die
Kosten der betreffenden Leistungen zu einem großen Teil von
einer Einrichtung der sozialen Sicherheit wie der Pflegekasse
getragen werden, zwar einen Gesichtspunkt dar, der bei der
Prüfung, ob der betreffende Steuerpflichtige eine Einrichtung
mit sozialem Charakter ist, zu berücksichtigen ist, doch ist
dieser Gesichtspunkt weniger bedeutend, wenn die Übernahme
dieser Kosten durch die Pflegekasse wie im vorliegenden Fall nur
indirekt über den MDK erfolgt, ohne auf einer expliziten
Entscheidung der Kasse zu beruhen oder aus einem zwischen ihr und
dem betreffenden Steuerpflichtigen geschlossenen Vertrag über
die Erbringung der betreffenden Leistungen hervorzugehen. Insoweit
kann es nicht ausreichen, dass ein Vertragsschluss lediglich
möglich ist, ohne dass diese Möglichkeit genutzt worden
wäre.“
|
39
|
ee) Soweit der BFH insbesondere mit Urteilen
vom 18.08.2015 - V R 13/14 (BFHE 251, 282 = SIS 15 23 06, Rz 21),
in BFHE 253, 466 = SIS 16 10 17 (Rz 36), in BFHE 256, 550 = SIS 17 04 47 (Rz 35) und in BFHE 262, 220 = SIS 18 13 92 (Rz 60)
demgegenüber entschieden hat, dass es für die Anerkennung
bereits ausreiche, dass die Kosten mittelbar (durchgeleitet) von
Einrichtungen der sozialen Sicherheit getragen werden, auch wenn -
wie beim Subunternehmer - keine direkten vertraglichen Beziehungen
zum öffentlichen Träger bestehen, kann daran nicht mehr
festgehalten werden. Diese Auffassung ist nach Ergehen des
EuGH-Urteils Finanzamt D (EU:C:2020:811) = SIS 20 15 41
überholt, jedenfalls soweit die mittelbare
Kostenübernahme nicht auf einer expliziten Entscheidung einer
Einrichtung der sozialen Sicherheit beruht.
|
|
|
40
|
ff) Die Klägerin ist bei Anwendung der
unter cc) genannten - auch einzelner oder mehrerer - Kriterien
nicht als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannt.
|
|
|
41
|
Eine entsprechende Anerkennung folgt im
Streitfall insbesondere nicht aus der Übernahme der Kosten
durch Einrichtungen der sozialen Sicherheit. Die Kosten für
die Gutachtertätigkeit der Klägerin wurden nur mittelbar
über den MDK erstattet, ohne dass dies auf einer expliziten
Entscheidung der Pflegekasse beruhte oder sie, die Klägerin,
die Möglichkeit genutzt hätte, in Bezug auf diese
Tätigkeit mit der Pflegekasse einen entsprechenden Vertrag zu
schließen. Ebenso genügt es nicht, wenn das
Tätigwerden unabhängiger Gutachter in Abschn. B 1 der BRi
vorgesehen ist.
|
|
|
42
|
e) Das FG ist von anderen
Rechtsgrundsätzen ausgegangen, weshalb die angefochtene
Vorentscheidung aufzuheben ist. Allerdings ist die Sache nur wegen
Umsatzsteuer 2012 und 2013 spruchreif im Sinne der Abweisung der
Klage.
|
|
|
43
|
3. Soweit das FG-Urteil das Streitjahr 2014
betrifft, ist es auch aus verfahrensrechtlichen Gründen
aufzuheben. Da ihm insoweit nicht mehr existierende Verwaltungsakte
zugrunde liegen, kann es keinen Bestand haben (vgl. z.B. allgemein
BFH-Urteile vom 24.04.2013 - XI R 3/11, BFHE 242, 410, BStBl II
2014, 86 = SIS 13 32 18, Rz 25; vom 03.07.2014 - V R 32/13, BFHE
246, 264, BStBl II 2017, 666 = SIS 14 25 70, Rz 10; vom 23.09.2020
- XI R 6/20 (XI R 19/15), BFHE 270, 230 = SIS 20 21 33).
|
|
|
44
|
a) Der Umsatzsteuerjahresbescheid für
2014 vom 02.03.2017 hat die Umsatzsteuer-Vorauszahlungsbescheide
für das 1. bis 3. Quartal 2014, die Gegenstand des
finanzgerichtlichen Verfahrens waren, i.S. der §§ 68 Satz
1, 121 Satz 1 FGO ersetzt. Wird der angefochtene Verwaltungsakt
nach Klageerhebung durch einen anderen Verwaltungsakt geändert
oder ersetzt, so wird gemäß der auch im
Revisionsverfahren (§ 121 Satz 1 FGO) geltenden Vorschrift des
§ 68 FGO der neue Verwaltungsakt zum Gegenstand des
Verfahrens. Das gilt auch für einen Umsatzsteuerjahresbescheid
im Verhältnis zum Umsatzsteuer-Vorauszahlungsbescheid (vgl.
z.B. BFH-Urteil in BFHE 242, 410, BStBl II 2014, 86 = SIS 13 32 18,
Rz 26, m.w.N.). Gegenstand der revisionsrechtlichen Prüfung
ist deshalb nunmehr die Rechtmäßigkeit des
Umsatzsteuerjahresbescheides für 2014 vom 02.03.2017.
|
|
|
45
|
b) Gemäß § 127 FGO kann der
BFH (insoweit) das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur
erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG
zurückverweisen. Dies ist grundsätzlich geboten, es sei
denn, der neue streitgegenständliche Bescheid enthält
keine gegenüber den bisherigen Belastungen verbösernde
Entscheidung oder die Änderung ist unstreitig, weshalb die
Entscheidung nicht von weiteren, bisher nicht getroffenen
Tatsachenfeststellungen abhängig sein kann (vgl. z.B.
BFH-Urteil vom 21.01.2015 - XI R 12/14, BFH/NV 2015, 957 = SIS 15 13 36, Rz 28; BFH-Beschluss vom 12.04.2016 - V B 3/15, BFH/NV 2016,
1184 = SIS 16 15 11, Rz 5; jeweils m.w.N.).
|
|
|
46
|
Vorliegend zieht die Klägerin nach
Ergehen des Jahressteuerbescheides für 2014 erstmals die
Ermittlung der Bemessungsgrundlage in Zweifel, weshalb sich der
Streitstoff verändert hat und die Sache bezüglich
Umsatzsteuer 2014 gemäß § 127 FGO an das FG zur
anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen
wird.
|
|
|
47
|
4. Die Übertragung der Kostenentscheidung
auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO. Das FG hat mit
Rücksicht auf den Grundsatz der Einheit der Kostenentscheidung
auch über die Kosten zu entscheiden, die den durch das
Durcherkennen des Senats bereits rechtskräftig abgeschlossenen
Teil des Verfahrens betreffen (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 19.10.2017
- III R 25/15, BFH/NV 2018, 546 = SIS 18 02 52, Rz 41, m.w.N.).
|
|
|
48
|
5. Die Entscheidung ergeht mit
Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne
mündliche Verhandlung (§§ 121 Satz 1, 90 Abs. 2
FGO).
|