Die Revision des Beklagten gegen das Urteil
des Finanzgerichts Münster vom 14.1.2014 15 K 4674/10 U = SIS 14 12 66 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Beklagte zu tragen.
1
|
I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte
(Klägerin) war in den Streitjahren 2007 und 2008 Mitglied des
eingetragenen Vereins B. Sie erbrachte für den Verein im
Rahmen des „B-Modells“ Pflegeleistungen. Die
Klägerin war dabei als Pflegehelferin tätig, ohne
über eine Ausbildung als Kranken- oder Altenpflegerin zu
verfügen. Im Rahmen des „B-Modells“ schloss der
Verein Verträge mit pflegebedürftigen Personen und
Pflegekassen. Pflegehelfer wie die Klägerin schlossen mit dem
Verein Qualitätsvereinbarungen ab und wurden so zu sog.
aktiven Vereinsmitgliedern. Für den Verein war die
Klägerin in zwei „Teams“ tätig. Weitere
Tätigkeiten erbrachte sie für den Verein K. Nach
Aufstellungen des Vereins B wurden die Kosten der Leistungen des
„Teams II“ in 2007 zu 96 % und in 2008 zu 82 % von den
Pflegekassen getragen.
|
|
|
2
|
Im Anschluss an eine
Umsatzsteuer-Sonderprüfung ging der Beklagte und
Revisionskläger (das Finanzamt - FA - ) davon aus, dass die
Klägerin gegenüber den Vereinen umsatzsteuerpflichtige
Leistungen erbracht habe und erließ am 21.1.2010 erstmalige
Umsatzsteuerbescheide für beide Streitjahre, in denen es auch
einen sich aus der Steuerpflicht ergebenden Vorsteuerabzug sowie
eine private Wertabgabe berücksichtigte. Der Einspruch hatte
keinen Erfolg.
|
|
|
3
|
Demgegenüber gab das Finanzgericht
(FG) mit seinem in EFG 2014, 868 = SIS 14 12 66
veröffentlichten Urteil der Klage statt. Danach war die
Klägerin zwar als Unternehmerin tätig, da sie über
ihren Tätigkeitsumfang frei entscheiden konnte und keinen
bezahlten Urlaub sowie keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall
erhielt. Ihre Leistungen seien auch nach nationalem Recht
steuerpflichtig. Die Klägerin könne sich aber auf das
für sie günstigere Unionsrecht, insbesondere auf die
Bestimmungen der Richtlinie des Rates vom 28.11.2006 über das
gemeinsame Mehrwertsteuersystem 2006/112/EG (MwStSystRL) und auf
die zur Sechsten Richtlinie des Rates vom 17.5.1977 zur
Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über
die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) ergangene
Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH)
berufen. Für die Steuerfreiheit nach dem Unionsrecht reiche es
aus, dass die Kosten für Pflegeleistungen von den Trägern
der sozialen Sicherheit übernehmbar seien. Fehlende
unmittelbare Leistungsbeziehungen zu den hilfebedürftigen
Personen oder den Pflegekassen seien unerheblich.
|
|
|
4
|
Hiergegen wendet sich das FA mit seiner
Revision, für die es die Verletzung materiellen Rechts
anführt. Für eine Berufung auf die Richtlinie fehle es
der Klägerin an der erforderlichen Anerkennung. Hierfür
sei auf eine unmittelbare Kostentragung durch die Pflegekassen
abzustellen. Die Stellung als Subunternehmer für einen Verein,
der Leistungen an die Pflegekassen erbringe, reiche nicht aus. Dies
ergebe sich auch aus der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH).
Vertragsschlüsse durch Pflegekassen mit Einzelpersonen
lägen kaum bis nicht vor. Die Klägerin sei nicht
hinreichend geeignet, da sie keine Pflegefachkraft sei. § 77
Abs. 1 Satz 1 des Elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI) komme nur
lückenschließende Funktion zu.
|
|
|
5
|
Das FA beantragt, das Urteil des FG
aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie hilfsweise das Verfahren
auszusetzen, um ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 des
Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union
(AEUV) zur Klärung der Fragen, ob für die Auslegung des
Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL die konkrete Anerkennung der
Pflegekraft erforderlich ist und
|
|
ob die Pflegekasse nicht einen Vertrag i.S.
des § 77 Abs. 1 SGB XI beweisbar hätte abschließen
können oder wollen,
|
|
äußerst hilfsweise wird
beantragt, die Verhandlung entsprechend § 74 der
Finanzgerichtsordnung (FGO) auszusetzen wegen der Vorlage an den
EuGH zur Vermeidung einer anerkannten Einrichtung mit sozialem
Charakter bei Subunternehmern (BFH-Beschluss vom 12.12.2013 XI B
88/13, BFH/NV 2014, 550 = SIS 14 07 34).
|
|
|
6
|
Die Klägerin beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
|
|
|
7
|
Maßgeblich sei die Kostentragung
durch die Pflegekassen. Dabei sei eine unmittelbare Kostentragung
nicht erforderlich. Die Klägerin sei auch kein Subunternehmer,
sondern Vereinsmitglied bei ihrem Auftraggeber. Zahlungen der
Sozialkassen würden durch den Verein nur durchgeleitet. Die
Möglichkeit eines Vertragsschlusses mit den Pflegekassen
reiche aus. Der Pflegekasse sei bekannt gewesen, dass der Verein
durch selbständig tätige Pflegekräfte gehandelt
habe. Das für eine Anerkennung erforderliche
Gemeinwohlinteresse an der Leistungserbringung liege vor. Andere
Steuerpflichtige seien anerkannt, so dass eine Steuerpflicht der
Klägerin gegen den Grundsatz der Neutralität
verstoße. Ein Abstellen auf konkrete Vertragsschlüsse
gefährde die erforderliche Rechtssicherheit. Eine
Übernehmbarkeit der Kosten reiche aus.
|
|
|
8
|
II. Die Revision des FA ist unbegründet
und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO). Das FG hat
die Leistungen der Klägerin zu Recht unter Berufung auf das
Unionsrecht als steuerfrei angesehen.
|
|
|
9
|
1. Die Pflegeleistungen der Klägerin sind
- wovon auch die Beteiligten übereinstimmend und zutreffend
ausgehen - nicht nach § 4 Nr. 16 Buchst. d und e des
Umsatzsteuergesetzes in seiner in den Streitjahren geltenden
Fassung (UStG) steuerfrei. Da es sich bei diesen Vorschriften um
abschließend spezielle Steuerbefreiungen für
Pflegeleistungen handelt, kommt eine ergänzende Anwendung von
§ 4 Nr. 18 UStG nicht in Betracht (vgl. BFH-Urteil vom
8.8.2013 V R 13/12, BFHE 242, 557 = SIS 13 30 66, Leitsatz 1).
|
|
|
10
|
2. Für eine Steuerfreiheit ihrer
Leistungen kann sich die Klägerin aber auf Art. 132 Abs. 1
Buchst. g MwStSystRL berufen.
|
|
|
11
|
a) Nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL
befreien die Mitgliedstaaten eng mit der Sozialfürsorge und
der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen und Lieferungen
von Gegenständen, einschließlich derjenigen, die durch
Altenheime, Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere
von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem
Charakter anerkannte Einrichtungen bewirkt werden.
|
|
|
12
|
In Bezug auf Pflegeleistungen durch andere
Unternehmer als Einrichtungen des öffentlichen Rechts
knüpft diese Bestimmung an leistungs- wie auch an
personenbezogene Voraussetzungen an: Es muss sich um eng mit der
Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene
Dienstleistungen handeln, der leistende Unternehmer muss als
Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannt sein.
|
|
|
13
|
b) Die von der Klägerin erbrachten
Pflegeleistungen sind insgesamt eng mit der Sozialfürsorge und
der sozialen Sicherheit verbunden (vgl. z.B. BFH-Urteil vom
24.1.2008 V R 54/06, BFHE 221, 391, BStBl II 2008, 643 = SIS 08 14 83, unter II.2.a aa), wie das FG zutreffend unter
Berücksichtigung der von ihm herangezogenen Grundsätze zu
Haupt- und Nebenleistung entschieden hat, und wie zwischen den
Beteiligten unter Berücksichtigung der in der mündlichen
Verhandlung vor dem Senat abgegebenen Erklärungen im
Revisionsverfahren nunmehr auch unstreitig ist. Die Klägerin
war auch als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannt.
|
|
|
14
|
aa) Nach dem zu Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst.
g der Richtlinie 77/388/EWG ergangenen EuGH-Urteil Zimmermann vom
15.11.2012 C-174/11 (EU:C:2012:716, Rz 26) legt die Richtlinie die
Voraussetzungen und Modalitäten der Anerkennung nicht fest.
Vielmehr ist es Sache des innerstaatlichen Rechts jedes
Mitgliedstaats, die Regeln aufzustellen, nach denen Einrichtungen
die erforderliche Anerkennung gewährt werden kann. Dabei haben
die nationalen Behörden im Einklang mit dem Unionsrecht und
unter der Kontrolle der nationalen Gerichte die für die
Anerkennung maßgeblichen Gesichtspunkte zu
berücksichtigen. Zu diesen gehören das Bestehen
spezifischer Vorschriften, bei denen es sich um nationale oder
regionale Rechts- oder Verwaltungsvorschriften, Steuervorschriften
oder Vorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit handeln kann,
das mit den Tätigkeiten des betreffenden Steuerpflichtigen
verbundene Gemeinwohlinteresse, die Tatsache, dass andere
Steuerpflichtige mit den gleichen Tätigkeiten bereits in den
Genuss einer ähnlichen Anerkennung kommen, und die
Übernahme der Kosten der fraglichen Leistungen zum
großen Teil durch Krankenkassen oder durch andere
Einrichtungen der sozialen Sicherheit (EuGH-Urteil Zimmermann,
EU:C:2012:716, Rz 31).
|
|
|
15
|
Der Steuerpflichtige kann sich auf die in Art.
13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG vorgesehene
Steuerfreiheit berufen, um sich einer Regelung zu widersetzen, die
mit dieser Bestimmung unvereinbar ist. Es ist Sache der nationalen
Gerichte, anhand aller maßgeblichen Umstände zu
bestimmen, ob der Steuerpflichtige eine als Einrichtung mit
sozialem Charakter anerkannte Einrichtung im Sinne dieser
Bestimmung ist. Dabei haben die nationalen Gerichte zu prüfen,
ob die zuständigen Behörden die Grenzen des ihnen
eingeräumten Ermessens unter Beachtung der Grundsätze des
Unionsrechts eingehalten haben, zu denen insbesondere der Grundsatz
der Gleichbehandlung gehört, der im Mehrwertsteuerbereich im
Grundsatz der steuerlichen Neutralität zum Ausdruck kommt
(EuGH-Urteil Zimmermann, EU:C:2012:716, Rz 32 f.). Dies gilt auch
für Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL. Der erkennende Senat
folgt dieser Rechtsprechung (BFH-Urteil vom 25.4.2013 V R 7/11,
BFHE 241, 475, BStBl II 2013, 976 = SIS 13 20 29, Rz 19 ff.).
|
|
|
16
|
bb) Im Streitfall hat das FG die Anerkennung
zu Recht bejaht. Sie folgt aus § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI.
17
|
|
(1) Nach § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI in
seiner bis zum 30.6.2008 geltenden Fassung konnten die Pflegekassen
zur „Sicherstellung der häuslichen Pflege und
hauswirtschaftlichen Versorgung ... einen Vertrag mit einzelnen
geeigneten Pflegekräften schließen, soweit und solange
eine Versorgung nicht durch einen zugelassenen Pflegedienst
gewährleistet werden kann; Verträge mit Verwandten oder
Verschwägerten des Pflegebedürftigen bis zum dritten Grad
sowie mit Personen, die mit dem Pflegebedürftigen in
häuslicher Gemeinschaft leben, sind
unzulässig“.
|
|
|
18
|
§ 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI in seiner ab
1.7.2008 geltenden Fassung durch Art. 1 Nr. 44 Buchst. a des
Gesetzes vom 28.5.2008 (BGBl I 2008, 874) hatte folgenden
Wortlaut:
|
|
|
19
|
|
“Zur Sicherstellung der häuslichen
Pflege und Betreuung sowie der hauswirtschaftlichen Versorgung kann
die zuständige Pflegekasse Verträge mit einzelnen
geeigneten Pflegekräften schließen, soweit
|
|
|
1. die pflegerische Versorgung ohne den
Einsatz von Einzelpersonen im Einzelfall nicht ermöglicht
werden kann,
|
|
|
2. die pflegerische Versorgung durch den
Einsatz von Einzelpersonen besonders wirksam und wirtschaftlich ist
(§ 29),
|
|
|
3. dies den Pflegebedürftigen in
besonderem Maße hilft, ein möglichst selbständiges
und selbstbestimmtes Leben zu führen (§ 2 Abs. 1),
oder
|
|
|
4. dies dem besonderen Wunsch der
Pflegebedürftigen zur Gestaltung der Hilfe entspricht (§
2 Abs. 2);
|
|
|
Verträge mit Verwandten oder
Verschwägerten des Pflegebedürftigen bis zum dritten Grad
sowie mit Personen, die mit dem Pflegebedürftigen in
häuslicher Gemeinschaft leben, sind
unzulässig.“
|
|
|
20
|
(2) Zu § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI hat das
FG in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise entschieden,
dass die Möglichkeit, Verträge mit Pflegekassen
abzuschließen, für die Anerkennung als Einrichtung mit
sozialem Charakter genügt. Entsprechend dem FG-Urteil reicht
es dabei aus, dass die Klägerin als geeignete Pflegekraft i.S.
von § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI anzusehen war, da sie mit dem
Verein Qualitätsvereinbarungen abschloss und
„Nachweise über Fortbildungen“ vorgelegt
hat. Auf einen Berufsabschluss in einem Pflegeberuf kommt es nicht
an. Somit liegen die personenbezogenen Voraussetzungen des §
77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI in seiner jeweiligen Fassung vor, ohne dass
es auf die weiteren Bedingungen dieser Vorschrift ankommt.
|
|
|
21
|
Unerheblich ist, ob vertragliche
Vereinbarungen mit Pflegekassen bestehen. Ohne Widerspruch zum
Senatsurteil vom 8.11.2007 V R 2/06 (BFHE 219, 428, BStBl II 2008,
634 = SIS 08 10 21) konnte das FG auch berücksichtigen, dass
die Klägerin Mitglied in einem
„anerkannten“ Verein zur Erbringung von
Pflegeleistungen war, dessen Kosten weitgehend von den Pflegekassen
getragen worden sind. Insoweit besteht eine über den Verein
durchgeleitete Kostentragung. Der Senat berücksichtigt dabei
auch den gerichtsbekannten Pflegenotstand und das sich hieraus
ergebende hohe Gemeinwohlinteresse, das an der Erbringung
steuerfreier Pflegeleistungen besteht.
|
|
|
22
|
3. Für die vom FA angeregte Einholung
eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV besteht keine
Veranlassung (vgl. zu den Voraussetzungen EuGH-Urteile Cilfit u.a.
vom 6.10.1982 283/81, EU:C:1982:335, Rz 21, Slg. 1982, 3415; Gaston
Schul vom 6.12.2005 C-461/03, Eu:C:2005:742, Slg. 2005, I-10513 =
SIS 06 10 97; Intermodal Transports vom 15.9.2005 C-495/03,
EU:C:2005:552, Slg. 2005, I-8151 = SIS 05 46 18). Für den
Senat bestehen keine Zweifel an der zutreffenden Auslegung von Art.
132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL, da zu berücksichtigen ist,
dass diese Bestimmung die dort bezeichneten Dienstleistungen, die
eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Gerechtigkeit
verbunden sind, „einschließlich“
derjenigen die „durch Altenheime ... oder andere ...
anerkannte Einrichtungen bewirkt werden“ befreit. Danach
kommt der Anerkennung keine zwingende Bedeutung zu.
|
|
|
23
|
4. Auf die vom FA in Bezug genommene
Beurteilung durch den BFH im summarischen Verfahren (BFH-Beschluss
in BFH/NV 2014, 550 = SIS 14 07 34) kommt es für die
Entscheidung im hier vorliegenden Hauptsacheverfahren nicht an.
|
|
|
24
|
5. Die Kostenentscheidung beruht auf §
135 Abs. 2 FGO.
|