Krankenschwester, Gutachterin betr. Pflegebedürftigkeit, USt-Pflicht: Erstellt eine Krankenschwester (mit entsprechender Zusatzausbildung) im Auftrag des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung für Zwecke der Pflegeversicherung Gutachten zur Feststellung von Art und Umfang der Pflegebedürftigkeit der Versicherten, ist diese Tätigkeit weder nach dem UStG noch nach der Richtlinie 77/388/EWG steuerfrei (Ergänzung zum BFH-Urteil vom 28.6.2000 V R 72/99, BFHE 191 S. 463, BStBl 2000 II S. 554 = SIS 00 12 71). - Urt.; BFH 8.10.2008, V R 32/07; SIS 08 42 94
I. Die Klägerin und
Revisionsklägerin (Klägerin) ist ausgebildete
Krankenschwester mit einer Zusatzausbildung für medizinische
Gutachtertätigkeit zur Feststellung der
Pflegebedürftigkeit.
Sie erstellte im Streitjahr 2003 im Auftrag
des Medizinischen Dienstes einer Krankenversicherung Gutachten, in
denen Art und Umfang der Pflegebedürftigkeit von Versicherten
festgestellt wurden. Die auf einem Vordruck zu erstellenden
Gutachten sind in neun Punkte untergliedert, in dem sich der
Gutachter u.a. zu den Punkten „Derzeitige Versorgungs- und
Betreuungssituation“, „Pflegerelevante Vorgeschichte
und Befunde“, „Krankheit(en)/Behinderungen und ihre
Auswirkung(en) auf die Aktivitäten des täglichen
Lebens“ und „Pflegebegründende Diagnose(n)“
äußert. Die Gutachten, die gegenüber der
Krankenkasse erstellt werden, enden u.a. mit der Beurteilung, ob
eine Pflegebedürftigkeit vorliegt und ggf. der Empfehlung
einer Pflegestufe.
Nachdem die Klägerin dem Beklagten und
Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA - ) auf Anfrage mitgeteilt
hatte, dass sie lediglich steuerfreie Umsätze erziele,
erließ das FA anhand der Gewinn- und Verlustrechnung der
Klägerin einen Umsatzsteuerbescheid für 2003, in dem es
die Umsätze der Klägerin als steuerpflichtig ansah und
die abziehbaren Vorsteuerbeträge schätzte.
Nach Zurückweisung des Einspruchs wies
das Finanzgericht (FG) die Klage mit dem in EFG 2007, 1045 = SIS 07 21 50 veröffentlichten Urteil ab. Zur Begründung
führte das FG aus, die Leistungen der Klägerin an den
Medizinischen Dienst der Krankenversicherung seien nicht nach
§ 4 Nr. 14 des Umsatzsteuergesetzes 1999 (UStG) steuerfrei,
weil die Gutachten keinem therapeutischen Ziel dienten, sondern der
Einordnung in die richtige Pflegestufe. Auch die Steuerbefreiung
des § 4 Nr. 15 Buchst. a UStG befreie nur die Leistungen der
Medizinischen Dienste selbst, nicht aber diejenigen
selbständig tätiger Dritter, die im Auftrag des
Medizinischen Dienstes handelten (Hinweis auf Urteil des
Bundesfinanzhofs - BFH - vom 28.6.2000 V R 72/99, BFHE 191, 463,
BStBl II 2000, 554 = SIS 00 12 71). Insoweit habe der Gesetzgeber
Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie des Rates
vom 17.5.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der
Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie
77/388/EWG) ermessensfehlerfrei umgesetzt. Der Klägerin sei
nicht der Status einer „Einrichtung“ im Sinne dieser
Richtlinienvorschrift zuzubilligen. Ein Verstoß gegen den
Grundsatz der Neutralität der Umsatzsteuer liege nicht vor, da
Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG die
Steuerbefreiung nur bestimmten Einrichtungen vorbehalte, zu denen
die Klägerin nicht gehöre.
Hiergegen richtet sich die Revision der
Klägerin. Sie ist der Auffassung, im Streitfall sei § 4
Nr. 14 UStG anwendbar. Sie habe vor dem FG ausführlich
vorgetragen, wie die Gutachtertätigkeit in der Praxis ablaufe
und welche Vorgaben nach einem Handbuch (120 Seiten) zu beachten
seien, insbesondere welchen Umfang im Formulargutachten die
Bereiche „Erhebung zur Versorgungs- und
Befundsituation“, „Bewertung dieser
Befundsituation“ und „abschließende
Empfehlungen“ hätten. Das FG habe nicht gewürdigt,
dass nur zwei Punkte des Gutachtens sich mit der Grundpflege und
der hauswirtschaftlichen Versorgung und sieben Punkte sich mit der
Behandlungspflege der kranken bis schwerstkranken Menschen
befassten. Das BFH-Urteil in BFHE 191, 463, BStBl II 2000, 554 =
SIS 00 12 71 beruhe auf der „Grundaussage“, dass im
dort entschiedenen Streitfall die Gutachten nicht eine evtl.
notwendige Behandlungspflege zum Gegenstand gehabt hätten.
Für die Steuerfreiheit nach § 4 Nr. 14 UStG komme es
darauf an, ob sich ein Gutachten zu mehr als der Hälfte mit
der Behandlungspflege befasse.
Zudem habe das FG § 4 Nr. 15 Buchst. a
UStG unrichtig angewendet, weil diese Vorschrift bei zutreffender
Auslegung unter Beachtung des Grundsatzes der steuerrechtlichen
Neutralität nicht nur die Medizinischen Dienste der
Krankenversicherung, sondern auch diejenigen von der Umsatzsteuer
befreie, die als Subunternehmer für die Medizinischen Dienste
der Krankenversicherung Gutachten erstellten. Dies entspreche auch
dem Zweck der Steuerbefreiung, die Sozialversicherungsträger
nicht mit Umsatzsteuer zu belasten.
Die Klägerin beantragt
sinngemäß, die Vorentscheidung sowie den
Umsatzsteuerbescheid für 2003 vom 27.4.2005 und die
Einspruchsentscheidung vom 28.10.2005 aufzuheben.
Das FA beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
II. Die Revision ist unbegründet und war
daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ).
1. Das FG hat zu Recht entschieden, dass die
Anfertigung eines Gutachtens, in dem sich der Gutachter zur
Pflegebedürftigkeit und ggf. zur Einstufung in eine
Pflegestufe nach § 18 Abs. 6 des Elften Buches
Sozialgesetzbuch (SGB XI) äußert, keine Heilbehandlung
i.S. des § 4 Nr. 14 UStG ist.
a) Gemäß § 4 Nr. 14 UStG sind
steuerfrei die Umsätze aus der Tätigkeit als Arzt,
Zahnarzt, Heilpraktiker, Physiotherapeut (Krankengymnast), Hebamme
oder aus einer ähnlichen heilberuflichen Tätigkeit. Dies
entspricht Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie
77/388/EWG, die „Heilbehandlungen im Bereich der
Humanmedizin“ begünstigen will. Demgemäß
sind z.B. Gutachten, die der Feststellung der Vaterschaft, der
Gewährung einer Invaliditätspension, eines
Kriegsrentenanspruchs, der Haftung wegen eines ärztlichen
Kunstfehlers oder zur Anfertigung eines Rentengutachtens dienen,
keine Heilmaßnahme nach § 4 Nr. 14 UStG (BFH-Urteil vom
15.7.2004 V R 27/03, BFHE 206, 471, BStBl II 2004, 862 = SIS 04 35 29, m.w.N.; BFH-Beschluss vom 31.7.2007 V B 98/06, BFHE 217, 94,
BStBl II 2008, 35 = SIS 07 31 19). Dies entspricht der
Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen
Gemeinschaften - EuGH - (Urteile vom 20.11.2003 C-212/01 -
Margarete Unterpertinger -, Slg. 2003, I-13859, BFH/NV Beilage
2004, 111 = SIS 04 01 34, und vom 20.11.2003 C-307/01 - Peter
d’Ambrumenil -, Slg. 2003, I-13989, BFH/NV Beilage 2004, 115
= SIS 04 01 35).
b) Nach diesen Rechtsgrundsätzen ist die
Anfertigung von Gutachten für Zwecke der Einstufung von
Versicherten in der Pflegeversicherung nicht nach § 4 Nr. 14
UStG steuerbefreit. Denn die Gutachtertätigkeit dient ihrem
Hauptzweck nach weder der Behandlung, Linderung oder Vorbeugung
einer Krankheit, sondern der Feststellung, in welcher Höhe dem
Versicherten ein Anspruch auf Ersatz von Kosten nach dem Gesetz
über die Pflegeversicherung zusteht. Aufgabe des Medizinischen
Dienstes ist die Begutachtung für Zwecke der
Sozialversicherung, nicht die Therapie (BFH-Urteil in BFHE 191,
463, BStBl II 2000, 554 = SIS 00 12 71, unter II. 1.; Tehler in
Rau/Dürrwächter, Umsatzsteuergesetz, § 4 Nr. 15a Rz
41).
c) Entgegen dem Revisionsvorbringen hat das FG
nicht verfahrensfehlerhaft entscheidungserheblichen Sachvortrag
übergangen, weil es nicht gewürdigt habe, ob sich das
Gutachten überwiegend mit der Behandlungspflege befasst
hat.
Denn das FG hat diesen Sachvortrag nicht
übergangen, sondern ausgeführt, es könne
dahinstehen, ob die Gutachtertätigkeit der Klägerin auch
einen Bezug zur Behandlungspflege gehabt habe; denn Hauptziel des
Gutachtens sei es gewesen, dem Medizinischen Dienst eine
Entscheidung darüber zu ermöglichen, in welche
Pflegestufe die begutachtete Person einzustufen sei (Urteil S.
10).
Nach dieser - revisionsrechtlich nicht zu
beanstandenden - Würdigung des FG diente das Gutachten im
Wesentlichen nicht - wie in § 4 Nr. 14 UStG vorausgesetzt -
medizinischen Zwecken. Dies widerspricht auch dem Senatsurteil in
BFHE 191, 463, BStBl II 2000, 554 = SIS 00 12 71, unter II. 1. e
nicht.
2. Wie der Senat ferner bereits in seinem
Urteil in BFHE 191, 463, BStBl II 2000, 554 = SIS 00 12 71, unter
II. 2. entschieden hat, fällt die Tätigkeit der
Klägerin auch nicht unter die Steuerbefreiung des § 4 Nr.
16 Buchst. d oder Buchst. e UStG, weil die Klägerin keine
Einrichtungen der Altenheime, Altenwohnheime oder eines
Pflegeheimes unterhält. Dass die Klägerin Leistungen an
den Medizinischen Dienst einer Krankenversicherung erbringt, die
ihrerseits im Zusammenhang mit Leistungen an Pflegeheime stehen
können, reicht nicht aus.
3. Die Gutachtertätigkeit der
Klägerin zur Einstufung von Versicherten in die
Pflegeversicherung ist auch nicht nach § 4 Nr. 15 Buchst. a
UStG befreit. Nach dieser Vorschrift sind steuerbefreit die auf
Gesetz beruhenden Leistungen der Medizinischen Dienste der
Krankenversicherung und des Medizinischen Dienstes der
Spitzenverbände der Krankenkassen untereinander und für
die gesetzlichen Träger der Sozialversicherung und deren
Verbände.
Die Voraussetzungen dieser Befreiung liegen
nach deren Wortlaut nicht vor, denn befreit sind nur die auf Gesetz
beruhenden Leistungen der Medizinischen Dienste selbst. Zwar darf
der Medizinische Dienst - wie beispielsweise in § 18 Abs. 6
SGB XI vorgesehen - die gesetzlich vorgesehene Begutachtung auch
Personen überlassen, die nicht selbst dem Medizinischen Dienst
angehören. Dies allein rechtfertigt jedoch nicht, die
Befreiung auch auf deren Leistungen auszudehnen (vgl. BFH-Urteil in
BFHE 191, 463, BStBl II 2000, 554 = SIS 00 12 71, unter II.
3.).
Der Grundsatz der Neutralität der
Umsatzsteuer führt zu keiner anderen Beurteilung (a.A. Tehler
in Rau/Dürrwächter, a.a.O., § 4 Nr. 15a Rz 118),
denn er gebietet nicht, dass unterschiedlich ausgestaltete
rechtliche Gestaltungen umsatzsteuerrechtlich gleich behandelt
werden müssen (vgl. Senatsurteil vom 8.11.2007 V R 2/06, BFHE
219, 428, BStBl II 2008, 634 = SIS 08 10 21, unter II. 2. c
dd).
4. Schließlich ist die Tätigkeit
der Klägerin auch nicht aufgrund unmittelbarer Anwendung des
Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG
befreit.
Danach sind die Mitgliedstaaten verpflichtet,
die Steuerbefreiung für „eng mit der
Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundenen
Dienstleistungen“ zu gewähren, wenn sie durch
Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder „andere
von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem
Charakter anerkannte Einrichtungen“ erfolgen. Die
Anfertigung von Pflegegutachten für den Medizinischen Dienst
einer Krankenkasse ist zwar eine „eng mit der
Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit“
verbundene Leistung. Die Klägerin ist jedoch nicht als
„anerkannte Einrichtung“ im Sinne dieser
Vorschrift anzusehen.
a) Nach der Rechtsprechung des EuGH kann der
Einzelne die Eigenschaft einer „Einrichtung mit sozialem
Charakter“ nicht schon dadurch erlangen, dass er sich auf
diese Bestimmung beruft. Vielmehr ist es Sache der nationalen
Behörden, nach dem Gemeinschaftsrecht und unter der Kontrolle
der nationalen Gerichte, insbesondere unter Berücksichtigung
der Praxis der zuständigen Verwaltung in ähnlichen
Fällen zu bestimmen, welche Einrichtungen als Einrichtungen
mit sozialem Charakter i.S. von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der
Richtlinie 77/388/EWG anzuerkennen sind. So kann insbesondere
gewürdigt werden:
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das mit den betreffenden Steuerpflichtigen
verbundene Gemeinwohlinteresse,
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die Tatsache, dass andere Steuerpflichtige mit
den gleichen Tätigkeiten bereits in den Genuss einer
ähnlichen Anerkennung kommen sowie
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der Umstand, dass die Kosten der Leistung zum
großen Teil von Krankenkassen oder anderen Einrichtungen der
sozialen Sicherheit übernommen werden
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(EuGH-Urteil vom 26.5.2005 Rs. C-498/03 -
Kingscrest Associates Ltd. und Montecello Ltd. -, Slg. 2005,
I-4427, BFH/NV Beilage 2005, 310 = SIS 05 30 13 Rz 53 ff., m.w.N.;
BFH-Urteil vom 22.4.2004 V R 1/98, BFHE 205, 514, BStBl II 2004,
849 = SIS 04 27 51).
b) Nach diesen Grundsätzen ist die
Klägerin keine „anerkannte Einrichtung“
i.S. des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG.
Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG
räumt den Mitgliedstaaten ein Ermessen bei der Frage ein, ob
sie bestimmten Einrichtungen sozialen Charakter zuerkennen (vgl.
z.B. BFH-Urteil vom 18.8.2005 V R 71/03, BFHE 211, 543, BStBl II
2006, 143, 146 = SIS 06 01 79, unter II. 2. d cc (2)). Der
nationale Gesetzgeber hat die Steuerbefreiung in § 4 Nr. 15
Buchst. a UStG ermessensfehlerfrei lediglich für die
Leistungen des Medizinischen Dienstes selbst vorgesehen, den er als
soziale Einrichtung i.S. des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der
Richtlinie 77/388/EWG angesehen hat (so ausdrücklich BTDrucks
13/3084, S. 25), nicht aber für Leistungen Dritter
(Subunternehmer), die an den Medizinischen Dienst Leistungen
erbringen (vgl. auch BFH-Urteil in BFHE 219, 428, BStBl II 2008,
634 = SIS 08 10 21 mit krit. Anmerkung Hölzer in UR 2008, 234
zu § 4 Nr. 25 UStG).
Eine hinreichende Anerkennung i.S. von Art. 13
Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG ergibt sich
deshalb auch nicht daraus, dass in § 18 Abs. 7 Satz 2 SGB XI
dem Medizinischen Dienst die Befugnis erteilt wird, den nicht dem
Medizinischen Dienst angehörenden Pflegefachkräften die
für deren
jeweilige Beteiligung erforderlichen
personenbezogenen Daten zu übermitteln.