Die Revision des Klägers gegen das Urteil
des Finanzgerichts Rheinland-Pfalz vom 06.12.2021 - 6 K 2185/20 =
SIS 22 13 05 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der
Kläger zu tragen.
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I. Die Beteiligten streiten darüber,
ob § 55 Abs. 4 der Insolvenzordnung (InsO) analog auf
Steuerforderungen angewendet werden kann.
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Der Kläger und Revisionskläger
(Kläger) ist Insolvenzverwalter über das Vermögen
der … (X beziehungsweise Insolvenzschuldnerin).
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Über das Vermögen der X wurde mit
Beschluss des zuständigen Amtsgerichts (AG) am 27.02.2015 das
vorläufige Insolvenzverfahren eröffnet; zum
vorläufigen Insolvenzverwalter wurde der Kläger bestellt.
Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfolgte zum
01.07.2015.
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Mit Umsatzsteuerbescheid für das Jahr
2015 vom 27.12.2016 setzte der Beklagte und Revisionsbeklagte
(Finanzamt - FA - ) die Umsatzsteuer für die Masse
gegenüber dem Kläger mit geschätzten
Besteuerungsgrundlagen fest. Dagegen legte der Kläger
Einspruch ein und eine Umsatzsteuererklärung für die
Masse vor. Später reichte er eine Aufstellung über die
Umsätze und Vorsteuerbeträge ein, die er in die Zeit vor
Insolvenz (01.01.2015 bis 26.02.2015), das vorläufige
Insolvenzverfahren (27.02.2015 bis 30.06.2015) und das
Insolvenzverfahren (01.07.2015 bis 31.12.2015) aufgliederte. Die
mitgeteilten Beträge stimmten mit den Feststellungen von zwei
Außenprüfungen überein. Für den Zeitraum des
vorläufigen Insolvenzverfahrens ergab sich ein Saldo in
Höhe von insgesamt - 67.552,15 EUR, der sich wie folgt
zusammensetzt:
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27.02.2015 bis 28.02.2015
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-250,28 EUR
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März 2015
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-34.106,10 EUR
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April 2015
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-20.938,61 EUR
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Mai 2015
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-3.744,81 EUR
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Juni 2015
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-8.512,35 EUR
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Das FA erließ daraufhin am 29.06.2017
gegenüber dem Kläger einen die Masse betreffenden
Umsatzsteuer-Änderungsbescheid für das Jahr 2015, der
gemäß § 365 Abs. 3 der Abgabenordnung (AO) zum
Gegenstand des Einspruchsverfahrens wurde. Der im Zeitraum des
vorläufigen Insolvenzverfahrens entstandene Saldo (- 67.552,15
EUR) wurde nicht berücksichtigt. Mit Einspruchsentscheidung
vom 11.07.2019 wies das FA den Einspruch als unbegründet
zurück; der Vorbehalt der Nachprüfung blieb
bestehen.
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Am 13.07.2020 stellte der Kläger einen
Antrag auf Änderung des Umsatzsteuerbescheids für das
Jahr 2015 nach § 164 Abs. 2 AO. Ein auf März 2015 bis
einschließlich Juni 2015 entfallender Betrag (entsprechend
der im Februar 2017 eingereichten
Umsatzsteuer-Jahressteuererklärung) in Höhe von 38.109,69
EUR sei mit der Umsatzsteuer der Insolvenzmasse zu verrechnen.
Diesen Antrag lehnte das FA mit Bescheid vom 12.08.2020 ab. Dagegen
legte der Kläger Einspruch ein, den das FA mit
Einspruchsentscheidung vom 06.11.2020 als unbegründet
zurückwies.
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Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab.
Es nahm an, das FA habe zu Recht eine analoge Anwendung des §
55 Abs. 4 InsO auf Steuerforderungen der X aus der Zeit eines
vorläufigen Insolvenzverfahrens abgelehnt. Das Urteil ist in
EFG 2022, 1491 = SIS 22 13 05 veröffentlicht.
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Während des Revisionsverfahrens hat
das zuständige AG mit Beschlüssen vom … und
… nach Vollzug der Schlussverteilung das Insolvenzverfahren
aufgehoben, aber gleichzeitig die Nachtragsverteilung angeordnet,
soweit es um steuerrechtliche
„Erstattungsansprüche“ aus dem Jahr
2015 geht; die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis sowie die
Prozessführungsbefugnis des Klägers für den
Rechtsstreit gegen das FA und alle damit in Zusammenhang stehenden
Erklärungen und Handlungen blieben aufrecht erhalten.
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Mit seiner Revision macht der Kläger
geltend, er sei weiter prozessführungsbefugt, und rügt
die Verletzung materiellen Rechts (§§ 38, 55 InsO). Es
gehe nicht darum, ob Vergütungsansprüche als
Verbindlichkeiten im Sinne des § 55 Abs. 4 InsO anzusehen
seien, oder um eine analoge Anwendung dieser Vorschrift. Vielmehr
gehe es darum, dass nach dem Konzept des Bundesfinanzhofs (BFH) von
der Umsatzbesteuerung in der Insolvenz die Rechtswirkungen einer
Jahressteuerfestsetzung für den Massebereich es erforderten,
einen sich aus § 55 Abs. 4 InsO ergebenden
Vergütungsanspruch mindernd zu berücksichtigen. Mit der
Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters mit
Zustimmungsvorbehalt komme es im Ergebnis zu einer Umstellung von
der Soll- auf die Ist-Besteuerung. Das FA dürfe den sich
für einen Voranmeldungszeitraum des
Insolvenzeröffnungsverfahrens als Masseverbindlichkeit nach
§ 55 Abs. 4 InsO ergebenden Umsatzsteueranspruch nach
Insolvenzeröffnung durch Steuerbescheid festsetzen. Die
Besteuerungsgrundlagen seien den betreffenden Unternehmensteilen
zuzuordnen und unterlägen dort der Steuerberechnung
(§§ 16, 18 des Umsatzsteuergesetzes - UStG - ).
Masseverbindlichkeit im Sinne des § 55 Abs. 4 InsO sei der
Schuldsaldo des Unternehmens, der sich aus der nach §§
16, 18 UStG vorzunehmenden Steuerberechnung ergibt und zu einer
Verrechnung der Steuer auf Ausgangsumsätze mit abziehbaren
Vorsteuerbeträgen führt. Auch ein Vergütungsanspruch
falle darunter, da nicht erheblich sei, dass der Wortlaut nur
Verbindlichkeiten erfasse. Es sei im Gesetz nicht geregelt, dass
ein Vergütungsanspruch nicht zu berücksichtigen sei. Aus
der Gesetzesbegründung folge nichts anderes. Der Gesetzgeber
wolle verhindern, dass die Masse um den Umsatzsteueranteil eines
Ausgangsumsatzes angereichert werde. Dies geschehe nicht, wenn die
Umsatzsteuer des vorläufigen Insolvenzverfahrens negativ sei.
Der Gesetzgeber wolle, dass der anfallende Vorsteuerabzug
regelmäßig in voller Höhe dem schuldnerischen
Unternehmen vor Verfahrenseröffnung zugutekomme. Damit sei,
anders als das FG meine, auch das Unternehmen während des
Eröffnungsverfahrens gemeint. Der Begriff des
vorinsolvenzlichen Vermögensteils sei dem Gesetzgeber im
September 2010 noch nicht bekannt gewesen. Im Übrigen habe
sich der BFH von der Aufspaltung des Unternehmens in verschiedene
Unternehmensteile verabschiedet; es gehe nur noch um
Vermögensbereiche des Unternehmens. Da auch in Fällen des
§ 55 Abs. 4 InsO sämtliche Besteuerungsgrundlagen
(Umsatzsteuer und Vorsteuer) in die Steuerberechnung einzubeziehen
seien, sei ein Vergütungsanspruch aus der gemäß
§ 55 Abs. 4 InsO erforderlichen Steuerberechnung, der - wie im
Streitfall - auf übersteigender Vorsteuer beruhe, seiner
Rechtsnatur nach ein Anspruch, der zum Massebereich gehöre;
denn er beruhe auf den rechtlichen Befugnissen des vorläufigen
Insolvenzverwalters mit Zustimmungsvorbehalt, die mit § 55
Abs. 1 und 2 InsO vergleichbar seien. Würde man bei der
Jahressteuerfestsetzung für den Massebereich einen solchen
Vergütungsanspruch nicht erfassen, würden nicht
sämtliche Besteuerungsgrundlagen, die zum Massebereich
gehören, in der Steuerfestsetzung gegenüber der Masse
erfasst.
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Der Kläger beantragt
sinngemäß, die Vorentscheidung und den
Ablehnungsbescheid des FA vom 12.08.2020 in Gestalt der
Einspruchsentscheidung vom 06.11.2020 aufzuheben und das FA zu
verpflichten, den Umsatzsteuerbescheid für das Jahr 2015
(01.07.2015 bis 31.12.2015) vom 27.12.2016 in Gestalt des
Änderungsbescheids vom 29.06.2017 dahin gehend zu ändern,
dass die Summe der Vergütungsansprüche aus dem
vorläufigen Insolvenzverfahren (27.02.2015 bis 30.06.2015) in
Höhe von 67.552,14 EUR steuermindernd berücksichtigt
wird.
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Das FA beantragt, die Revision als
unbegründet zurückzuweisen.
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Es trägt vor, die Zuordnung von
Vergütungsansprüchen bestimme sich nicht nach § 55
InsO, sondern nach § 35 InsO. Das von der Revision
dargestellte Konzept des BFH führe zu keiner anderen
Beurteilung.
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II. Die Entscheidung ergeht gemäß
§ 126a der Finanzgerichtsordnung (FGO). Der Senat hält
einstimmig die Revision für unbegründet und eine
mündliche Verhandlung nicht für erforderlich. Die
Beteiligten sind davon unterrichtet worden und hatten Gelegenheit
zur Stellungnahme.
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Das FG hat es zu Recht abgelehnt, das FA zur
Änderung des Umsatzsteuerbescheids für das Jahr 2015
(01.07.2015 bis 31.12.2015) zu verpflichten. Nach der
Rechtsprechung des VII. Senats des BFH, der der Senat folgt, ist
eine Einbeziehung des sich für den Zeitraum der
vorläufigen Insolvenzverfahrens ergebenden
Vergütungsanspruchs in die Steuerberechnung der Insolvenzmasse
nicht möglich. Ihre Einbeziehung ergibt sich weder aus den
allgemeinen Vorschriften noch ist sie abweichend hiervon durch
§ 55 Abs. 4 InsO angeordnet.
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1. Dem Kläger ist zunächst darin
beizupflichten, dass er trotz der Aufhebung des Insolvenzverfahrens
aufgrund der gleichzeitig angeordneten Nachtragsverteilung, die
(nur) die Ansprüche aus dem vorliegenden Verfahren betrifft,
befugt geblieben ist, das Verfahren XI R 1/22 fortzusetzen, da mit
diesem der Nachtragsverteilung vorbehaltene Masseaktiva realisiert
werden sollen (vgl. BFH-Urteile vom 20.09.2016 - VII R 10/15,
BFH/NV 2017, 442 = SIS 17 03 41, Rz 16; vom 23.09.2020 - XI R 1/19,
BFHE 271, 1, BStBl II 2021, 341 = SIS 21 01 14, Rz 19 ff.; vom
16.12.2021 - VI R 41/18, BFHE 275, 194, BStBl II 2022, 321 = SIS 22 02 84, Rz 16).
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2. Ohne Erfolg macht die Revision geltend, der
streitige Vergütungsanspruch sei seiner Rechtsnatur nach (und
nach dem Konzept des BFH) ein Anspruch, der zum Massebereich
gehöre. Er gehört vielmehr grundsätzlich zum
vorinsolvenzlichen Bereich.
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a) Nach § 38 InsO dient die
Insolvenzmasse zur Befriedigung der persönlichen
Gläubiger, die einen zur Zeit der Eröffnung des
Insolvenzverfahrens begründeten Vermögensanspruch gegen
den Schuldner haben (Insolvenzgläubiger). Die Eröffnung
eines Insolvenzverfahrens hat zur Folge, dass das Vermögen des
Schuldners in zwei Teilmassen aufgeteilt wird, die einem
unterschiedlichen Rechtsregime unterworfen sind (vgl. BFH-Urteile
vom 01.09.2010 - VII R 35/08, BFHE 230, 490, BStBl II 2011, 336 =
SIS 10 36 67, Rz 17 ff.; vom 09.12.2010 - V R 22/10, BFHE 232, 301,
BStBl II 2011, 996 = SIS 11 11 55, Rz 28 f.).
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b) Zivilrechtlich folgt daraus nach der
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH), dass eine
Insolvenzforderung im Sinne des § 38 InsO vorliegt, wenn der
anspruchsbegründende Tatbestand schon vor
Verfahrenseröffnung abgeschlossen ist (vgl. z.B.
BGH-Beschlüsse vom 22.09.2011 - IX ZB 121/11, Neue Zeitschrift
für Insolvenz- und Sanierungsrecht - NZI - 2011, 953, Rz 3;
vom 18.02.2021 - IX ZB 6/20, NJW 2021, 1469, Rz 7; s.a. BFH-Urteil
vom 29.03.2017 - XI R 5/16, BFHE 257, 465, BStBl II 2017, 738 = SIS 17 08 72, Rz 25).
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c) Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens
hat darüber hinaus nach der ständigen Rechtsprechung des
BFH zur Folge, dass steuerrechtlich trotz fortbestehender
Unternehmenseinheit das Vermögen der Insolvenzschuldnerin
einem unterschiedlichen Rechtsregime unterworfen ist: Der
Besteuerungszeitraum wird zwar nach der Rechtsprechung des VII.
Senats des BFH nicht unterbrochen (vgl. BFH-Urteil vom 16.01.2007 -
VII R 7/06, BFHE 216, 390, BStBl II 2007, 745 = SIS 07 07 69, unter
II.; vgl. auch Stadie in Rau/Dürrwächter,
Umsatzsteuergesetz, § 18 Rz 80 und Anhang 2 zu § 18 Rz
13). Aber innerhalb des Besteuerungszeitraums ist die auf die Zeit
nach Insolvenzeröffnung entfallende Umsatzsteuer durch
Steuerbescheid festzusetzen und die auf die Zeit bis zur
Insolvenzeröffnung entfallende Umsatzsteuer nur nach den
Vorschriften über das Insolvenzverfahren zu verfolgen (vgl.
BFH-Urteile vom 24.11.2011 - V R 13/11, BFHE 235, 137, BStBl II
2012, 298 = SIS 11 39 41, Rz 12; vom 27.11.2019 - XI R 35/17, BFHE
267, 542, BStBl II 2021, 252 = SIS 20 01 61, Rz 26; s.a. zur
Abgrenzung Schmidt, NZI 2017, 384, 385 f.; Schulze in Wäger,
UStG, 3. Aufl., Anhang zu § 18 UStG Rz 123.2; Schreiben des
Bundesministeriums der Finanzen vom 11.01.2022, BStBl I 2022, 116 =
SIS 22 00 75, Rz 6, 33 ff.). Die Einordnung der bis zur
Insolvenzeröffnung begründeten Ansprüche aus dem
Steuerschuldverhältnis folgt dem sich aus § 251 Abs. 2
Satz 1 AO ergebenden Grundsatz, dass der Steuergläubiger im
Insolvenzfall wie alle anderen Gläubiger behandelt wird;
durchbrochen wird der hierdurch gewährleistete
Gleichbehandlungsgrundsatz nur durch § 55 Abs. 2 und 4 InsO
(vgl. BFH-Urteil vom 07.05.2020 - V R 14/19, BFHE 268, 512 = SIS 20 09 00, Rz 31).
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d) Entsprechend hat der VII. Senat des BFH zu
einem mit dem Streitfall vergleichbaren Sachverhalt in seinem nicht
veröffentlichten Beschluss vom 01.08.2017 - VII R 16/15 (unter
II.1. und II.2.) bereits entschieden, dass
Vorsteuerüberhänge aus der Zeit des vorläufigen
Insolvenzverfahrens in die Jahressteuer des vorinsolvenzlichen
Bereichs eingehen und dort saldiert werden, ohne dass der
Saldierung § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO entgegen stünde (vgl.
dazu auch BFH-Urteil vom 25.07.2012 - VII R 44/10, BFHE 238, 302,
BStBl II 2013, 33 = SIS 12 28 20, Rz 10). Der erkennende Senat
folgt dieser Auffassung.
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e) Dies bestätigt die vor Einführung
des § 55 Abs. 4 InsO bestehende Rechtsprechung des BFH zu
§ 55 InsO, die das Entstehen von Masseverbindlichkeiten bei
der Umsatzsteuer nur ausnahmsweise angenommen hat (vgl. dazu z.B.
BFH-Urteile vom 28.02.2008 - V R 44/06, BFHE 221, 415, BStBl II
2008, 586 = SIS 08 18 05, unter II.4.b cc; vom 24.08.2011 - V R
53/09, BFHE 235, 5, BStBl II 2012, 256 = SIS 11 38 67, Rz 30,
m.w.N.). War die auf die Zeit des Eröffnungsverfahrens
entfallende Umsatzsteuer danach vor Einführung des § 55
Abs. 4 InsO keine Masseverbindlichkeit, sondern eine
Insolvenzforderung, waren auch die auf die Zeit des
Eröffnungsverfahrens entfallenden Vorsteuerbeträge
gemäß § 16 Abs. 2 Satz 1 UStG von der
Insolvenzforderung abzusetzen.
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22
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f) Daraus ergibt sich zugleich, dass das vom
FG gefundene Ergebnis nicht, wie der Kläger meint, dem
„Konzept des BFH von der Umsatzbesteuerung in der
Insolvenz“ widerspricht. Vielmehr entspricht
das Abstellen auf den Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung der
übereinstimmenden Rechtsprechung des V., VII. und XI. Senats
des BFH, der Rechtslage vor Einführung des § 55 Abs. 4
InsO sowie der Rechtsprechung des BGH. Der streitige Zeitraum
(27.02.2015 bis 30.06.2015) liegt vor Eröffnung des
Insolvenzerfahrens und der streitige Vorsteuerüberhang
gehört daher zum vorinsolvenzlichen Unternehmensteil, in
dessen Steuerberechnung er eingeht.
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3. Eine hiervon abweichende Beurteilung ergibt
sich nicht aus § 55 Abs. 2 InsO, da der Kläger kein
starker vorläufiger Insolvenzverwalter war. Dies steht
zwischen den Beteiligten auch nicht in Streit.
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4. Eine hiervon abweichende Zuordnung des
Vorsteuerüberhangs des Zeitraums des
Insolvenzeröffnungsverfahrens (27.02.2015 bis 30.06.2015) zur
Masse ergibt sich auch nicht aus § 55 Abs. 4 InsO.
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a) Umsatzsteuerverbindlichkeiten des
Insolvenzschuldners, die von einem vorläufigen
Insolvenzverwalter oder vom Schuldner mit Zustimmung eines
vorläufigen Insolvenzverwalters oder vom Schuldner nach
Bestellung eines vorläufigen Sachwalters begründet worden
sind, gelten gemäß § 55 Abs. 4 Satz 1 InsO nach
Eröffnung des Insolvenzverfahrens als
Masseverbindlichkeit.
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b) Daraus folgt zwar, dass
Vorsteuerbeträge abzuziehen sind, die für die § 55
Abs. 4 InsO unterliegenden Voranmeldungszeiträume
masseverbindlichkeitsmindernd wirken, aber § 55 Abs. 4 InsO
ist nicht auch auf Vergütungsansprüche zugunsten der
Masse anzuwenden (vgl. BFH-Urteil vom 23.07.2020 - V R 26/19, BFHE
270, 49, BStBl II 2022, 495 = SIS 20 16 12, Leitsatz und Rz
15).
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aa) Grund hierfür ist der auf
Verbindlichkeiten eingeschränkte Wortlaut des § 55 Abs. 4
InsO, der nur Verbindlichkeiten den Masseverbindlichkeiten zuweist
(vgl. BFH-Urteil vom 23.07.2020 - V R 26/19, BFHE 270, 49, BStBl II
2022, 495 = SIS 20 16 12, Rz 16). Diese unmissverständliche
Beschränkung auf den Steueranspruch im Gesetzeswortlaut steht
einer Erstreckung der Vorschrift auf den
Steuervergütungsanspruch für den Zeitraum vom 27.02.2015
bis zum 30.06.2015 entgegen.
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28
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bb) Außerdem ist aus
insolvenzrechtlicher Sicht keine zusätzliche Regelung dazu
erforderlich, unter welchen Voraussetzungen Forderungen zur Masse
gehören und vom Insolvenzverwalter zugunsten der Masse
durchgesetzt werden können. Die Frage, ob ein
Steuererstattungsanspruch dem freien Vermögen des Schuldners
oder der Masse zuzuordnen ist, bestimmt sich für die Zwecke
des Insolvenzverfahrens nicht nach Steuerrecht, sondern nach
Insolvenzrecht (BGH-Urteil vom 13.01.2022 - IX ZR 64/21, HFR 2022,
371 = SIS 22 03 08, Rz 9). Ein Steuererstattungs- beziehungsweise
Steuervergütungsanspruch (und daher auch ein
Vorsteuerüberhang) gehört nach der Rechtsprechung des BGH
grundsätzlich gemäß § 35 Abs. 1 InsO zur
Masse, wenn und soweit der die Erstattungsforderung
begründende Sachverhalt vor oder während des
Insolvenzeröffnungsverfahrens verwirklicht worden ist; der
Anspruch kann vom Insolvenzverwalter kraft seiner Verwaltungs- und
Verfügungsbefugnis nach § 80 InsO zur Masse gezogen
werden (vgl. z.B. BGH-Beschluss vom 26.09.2024 - IX ZB 5/24,
Wertpapier-Mitteilungen 2024, 2020 = SIS 24 17 42, Rz 8
und 15; BFH-Beschluss vom 07.06.2006 - VII B 329/05, BFHE 212, 436,
BStBl II 2006, 641 = SIS 06 31 54, unter II.). Einer Norm wie
§ 55 Abs. 4 InsO bedarf es danach für Forderungen
insolvenzrechtlich nicht. Von welcher Umsatzsteuer welches
Unternehmensteils Vorsteuerbeträge aus der Zeit des
Insolvenzeröffnungsverfahrens gemäß § 16 Abs.
2 Satz 1 UStG abzusetzen sind, ist daher keine insolvenzrechtliche,
sondern eine rein steuerrechtliche Frage.
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29
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cc) Die Anwendung des § 55 Abs. 4 InsO
nur auf Verbindlichkeiten des Insolvenzschuldners aus dem
Steuerschuldverhältnis entspricht außerdem dem Willen
des historischen Gesetzgebers (vgl. BFH-Urteil vom 24.09.2014 - V R
48/13, BFHE 247, 460, BStBl II 2015, 506 = SIS 14 32 16, Rz
19):
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(1) Die Änderungen der Insolvenzordnung
durch das Haushaltsbegleitgesetz 2011 erfolgten zur Stärkung
der Rolle der öffentlichen Hand im Insolvenzverfahren
(BT-Drucks. 17/3030, S. 2). Zur Verbesserung der Einnahmesituation
des Bundeshaushalts sollten mehrere Änderungen der
Insolvenzordnung die Position der öffentlichen Hand als
„Pflichtgläubiger“ im
Insolvenzverfahren gegenüber anderen abgesicherten und
bevorrechtigten Insolvenzgläubigern verbessern; dies sei vor
allem deshalb gerechtfertigt, weil der Fiskus sich - anders als
andere Gläubigergruppen - seine Schuldner nicht aussuchen
könne und somit als
„Zwangsgläubiger“ auch
regelmäßig keine Möglichkeiten habe, seine
Ansprüche mit Sicherheiten zu unterlegen (BT-Drucks. 17/3030,
S. 23). Die Praxis, schwache vorläufige Insolvenzverwalter zu
bestellen, führe dazu, dass die im Eröffnungsverfahren
mit Zustimmung des Verwalters begründeten Verbindlichkeiten
ganz überwiegend Insolvenzforderungen darstellen, obwohl
insbesondere für die Umsatzsteuer in der
Gesetzesbegründung zur Insolvenzordnung (BT-Drucks. 12/2443,
S. 126) die gegenteilige Erwartung geäußert worden sei
(vgl. BT-Drucks. 17/3030, S. 43). Durch die Umsatztätigkeit
eines schwachen vorläufigen Insolvenzverwalters
entstünden im Insolvenzeröffnungsverfahren weitere
Steuerrückstände, ohne dass das Finanzamt hierauf
Einfluss nehmen könne. Insofern sei der Fiskus gegenüber
anderen Gläubigern benachteiligt, die im
Eröffnungsverfahren Vorkehrungen gegen drohende Verluste
durchsetzen können. Die Anreicherung der Insolvenzmasse durch
die im Eröffnungsverfahren zusätzlich entstehenden
Steuerausfälle stelle deshalb eine ungerechtfertigte
Benachteiligung des Fiskus dar. Zudem sei zu beobachten, dass
manche schwachen vorläufigen Insolvenzverwalter ihre
Rechtsstellung gezielt ausnutzten, um die Masse durch aktive
Gestaltungen zulasten des Fiskus weiter anzureichern. Durch den neu
angefügten Absatz 4 wird dieser Praxis ein Riegel vorgeschoben
(BT-Drucks. 17/3030, S. 43).
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(2) Gleichzeitig hat sich der Gesetzgeber in
den Gesetzesmaterialien aber auch mit dem Vorsteuerabzug im
Insolvenzeröffnungsverfahren befasst. Er hat dazu
ausgeführt, dass der in diesen Geschäften anfallende
Vorsteuerabzug regelmäßig in voller Höhe dem
schuldnerischen Unternehmen vor Verfahrenseröffnung
zugutekomme (BT-Drucks. 17/3030, S. 43). Auch insofern liege keine
ungerechtfertigte Besserstellung des Fiskus vor.
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c) Die vom Gesetzgeber vorgesehene
Unterscheidung steht auch in Einklang mit dem Unionsrecht und dem
Verfassungsrecht.
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aa) Der BFH hat mit dem nicht
veröffentlichten BFH-Beschluss vom 01.08.2017 - VII R 16/15
(unter II.4.) in Bezug auf den im dortigen Tatbestand
wiedergegebenen Vortrag, dass § 55 Abs. 4 InsO in
verfassungswidriger Weise die mit Zustimmung des
Insolvenzverwalters in der Zeit zwischen Anordnung der
Sicherungsmaßnahmen und Eröffnung des
Insolvenzverfahrens entstandenen Verbindlichkeiten - und nicht auch
Ansprüche - den Masseverbindlichkeiten zuweise, entschieden,
dass die Regelung des § 55 Abs. 4 InsO keine
verfassungswidrige Privilegierung des Fiskus bewirke, sondern eine
vom Gesetzgeber gesehene Benachteiligung beseitige, und dass die
Wirkungen des § 55 Abs. 4 InsO nicht gegen Art. 90 Abs. 1
MwStSystRL verstoßen.
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bb) Die Umqualifizierung von
Verbindlichkeiten, die im Insolvenzeröffnungsverfahren
begründet werden, führt auch aus Sicht des erkennenden
Senats nicht zu einer Besserstellung des Fiskus, sondern gleicht
eine Benachteiligung des Fiskus aus; dies ist verfassungsrechtlich
und unionsrechtlich zulässig (vgl. BFH-Urteil vom 01.03.2016 -
XI R 9/15, BFH/NV 2016, 1310 = SIS 16 16 84, Rz 33 f., 37).
Für Vorsteuerüberhänge besteht eine solche
Benachteiligung, die durch § 55 Abs. 4 InsO ausgeglichen
werden müsste, nicht.
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35
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cc) Eine vermeintliche Inkohärenz
zwischen der unionsrechtlich harmonisierten Umsatzsteuer und dem
nationalen Insolvenzrecht wäre nicht ausreichend, um einen in
die Zuständigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Union
(EuGH) fallenden Zusammenhang zwischen dem Unionsrecht und den
nationalen Vorschriften herzustellen (vgl. EuGH-Urteil Syndyk Masy
Upad³oœci A vom 12.09.2024 - C-709/22, EU:C:2024:741 =
SIS 24 14 51, Rz 75).
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dd) Außerdem läge eine solche
Inkohärenz in Bezug auf die Umsatzsteuer nicht vor.
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Das Unionsrecht regelt die Rangfolge von
Forderungen in der Insolvenz nicht (vgl. Schlussanträge der
Generalanwältin Kokott vom 11.04.2024 - C-709/22, Syndyk Masy
Upad³oœci A, EU:C:2024:310, Rz 67). Der Senat pflichtet
der Generalanwältin Kokott (vgl. Schlussanträge vom
11.04.2024 - C-709/22 in der Rechtssache Syndyk Masy
Upad³oœci A, EU:C:2024:310, Rz 45 ff.) außerdem
darin bei, dass für eine vorrangige Befriedigung der
Mehrwertsteuerforderungen des Staates im Fall der Insolvenz des
Steuerpflichtigen die besondere Funktion spricht, die das
Gemeinsame Mehrwertsteuersystem dem leistenden, nun insolventen
Steuerpflichtigen als Steuereinnehmer zuweist. Die Umsatzsteuer
steht materiell nicht dem Steuerpflichtigen oder seinen
Gläubigern zu, sondern ist an den Staat weiterzuleiten, auch
wenn sie zunächst (formal) an den Steuerpflichtigen gezahlt
wird. Das Unionsrecht stünde daher sogar einer nationalen
Rechtsvorschrift und Rechtspraxis nicht entgegen, die - anders als
das geltende Recht - der Befriedigung der Gläubiger der
Umsatzsteuer in der Insolvenz einen Vorrang vor den Gläubigern
anderer Forderungen einräumt (vgl. Schlussanträge der
Generalanwältin Kokott vom 11.04.2024 - C-709/22, Syndyk Masy
Upad³oœci A, EU:C:2024:310, Rz 50; weitergehend
Frintrup, Zeitschrift für Wirtschaftsrecht - ZIP - 2019, 1101
und ZIP 2020, 801). Ist die vereinnahmte Umsatzsteuer von
vornherein nur zur Weiterleitung an das Finanzamt bestimmt, steht
sie dem Insolvenzschuldner und der Masse zur allgemeinen
Befriedigung der (Insolvenz-)Gläubiger nicht zu, wobei
unerheblich ist, ob es sich um Entgelte für Leistungen vor
oder nach Verfahrenseröffnung handelt (vgl. bereits BFH-Urteil
vom 29.01.2009 - V R 64/07, BFHE 224, 24, BStBl II 2009, 682 = SIS 09 13 24, unter II.2.b).
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5. Eine analoge Anwendung des § 55 Abs. 4
InsO scheidet schon mangels einer planwidrigen Regelungslücke
aus.
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a) Die analoge Anwendung einer Vorschrift
über ihren gesetzlichen Anwendungsbereich hinaus setzt voraus,
dass das Gesetz selbst eine - bewusste oder unbewusste -
Regelungslücke enthält. Eine solche liegt vor, wenn ein
bestimmter Sachverhalt zwar gesetzlich geregelt ist, jedoch keine
Vorschrift für Fälle enthält, die nach dem
Grundgedanken und dem System des Gesetzes hätten mitgeregelt
werden müssen (vgl. BFH-Urteile vom 11.02.2010 - V R 38/08,
BFHE 229, 385, BStBl II 2010, 873 = SIS 10 15 98, Rz 21; vom
08.05.2024 - VIII R 28/20, BFH/NV 2024, 1370 = SIS 24 13 91, Rz 47,
m.w.N.). Die Norm muss - gemessen an ihrem Zweck -
unvollständig, das heißt ergänzungsbedürftig
sein (vgl. BFH-Urteile vom 02.12.2015 - V R 25/13, BFHE 251, 534,
BStBl II 2017, 547 = SIS 16 00 91, Rz 37; vom 28.10.2020 - X R
29/18, BFHE 271, 370, BStBl II 2021, 675 = SIS 21 07 66, Rz
34).
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b) Eine Analogie verbietet sich hingegen dort,
wo das Gesetz selbst eine bestimmte Regelung trifft, und zwar
selbst dann, wenn diese Regelung unzweckmäßig erscheint
oder aus rechtspolitischer Sicht auf Kritik stößt; der
Rechtsanwender ist nicht berufen, in einem solchen Fall durch die
analoge Anwendung einer abweichenden Regelung den Willen des
Gesetzgebers zu verfälschen (vgl. BFH-Urteil vom 24.04.2002 -
I R 25/01, BFHE 198, 303, BStBl II 2002, 586 = SIS 02 84 80, Rz
21). In keinem Fall darf richterliche Rechtsfindung das
gesetzgeberische Ziel der Norm in einem wesentlichen Punkt
verfehlen oder verfälschen oder an die Stelle der
Regelungskonzeption des Gesetzgebers gar eine eigene treten lassen
(vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 28.11.2023 - 2
BvL 8/13, BVerfGE 168, 1 = SIS 24 01 44, Rz 118, m.w.N.).
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c) Ausgehend davon scheidet aus den unter
II.4.b bb genannten Gründen eine Analogie aus. Es handelt sich
bei der Nichteinbeziehung von Steuervergütungsansprüchen
um keine planwidrige Regelungslücke, sondern um eine bewusste
Entscheidung des Gesetzgebers.
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d) Soweit die Entscheidung des Gesetzgebers
vor allem in der insolvenzrechtlichen Literatur (z.B. Schmittmann,
NZI 2020, 1069, 1070; Marotzke, Zeitschrift für das gesamte
Insolvenz- und Sanierungsrecht 2010, 2163, 2176; Kahlert, ZIP 2010,
1274; Uhlenbruck/Sinz, Insolvenzordnung, 16. Aufl., § 55 Rz
105, 119; Thole in Schmidt, Insolvenzordnung, 20. Aufl., § 55
Rz 45 ff.) als partielle Wiedereinführung eines
Fiskusprivilegs kritisiert wird, führte diese Kritik, selbst
wenn sie berechtigt wäre (s. dazu aber II.4.b dd), zu keiner
anderen Beurteilung, da es sich um eine bewusste, weder
unionsrechtswidrige noch verfassungswidrige Entscheidung des
nationalen Gesetzgebers handelt.
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e) Der Senat pflichtet zwar der Auffassung
bei, dass der Vorsteuerabzug die Masseverbindlichkeit im Sinne des
§ 55 Abs. 4 InsO mindert, wenn im Eröffnungsverfahren der
Vorsteuerabzug die Umsatzsteuer mindert (Wäger, UR 2021, 41,
56). Allerdings kann aus den unter II.2. und II.4. genannten
Gründen daraus mangels gesetzlicher Grundlage nicht der
Schluss gezogen werden, dass diese Wertung fortzusetzen ist, wenn
es zu einem Vorsteuerüberhang kommt; denn an sich mindert nach
den unter II.2. genannten Grundsätzen der Vorsteuerabzug im
Eröffnungsverfahren die Insolvenzforderung, wenn kein starker
vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt wurde. Die davon
abweichende Umqualifizierung einer Insolvenzforderung in eine
Masseverbindlichkeit durch die Ausnahmevorschrift des § 55
Abs. 4 InsO erfolgt nur, wenn die Umsatzsteuer die Vorsteuer
übersteigt. Sonst bleibt es bei dem unter II.2. genannten
Grundsatz.
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6. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135
Abs. 2 FGO.
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