Geldspielautomaten, keine Änderung bestandskräftiger USt-Festsetzungen: 1. Ein Betreiber von Geldspielautomaten kann nicht im Hinblick auf das EuGH-Urteil vom 17.2.2005 Rs. C-453/02 und Rs. C-462/02 - Linneweber und Akritidis - (Slg. 2005, I-1131 = SIS 05 16 75) die Änderung bestandskräftiger Steuerfestsetzungen verlangen. - 2. Die Einspruchsfrist von einem Monat gemäß § 355 Abs. 1 AO 1977 ist gemeinschaftsrechtlich nicht zu beanstanden. - 3. Zu den Voraussetzungen eines gemeinschaftsrechtlichen Vollzugsfolgenbeseitigungs- und Erstattungsanspruchs. - Urt.; BFH 23.11.2006, V R 67/05; SIS 07 06 42
I. Die Klägerin und
Revisionsklägerin (Klägerin), eine GmbH, betreibt
gewerblich Geldspielgeräte mit Gewinnmöglichkeit und
Unterhaltungsautomaten.
Im Jahr 1993 (Streitjahr) führte sie
Umsätze in Höhe von ... DM aus, wovon ... DM auf den
Betrieb von Geldspielgeräten und ... DM auf den Betrieb von
Unterhaltungsautomaten entfielen. Der Vorsteueranspruch betrug ...
DM.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das
Finanzamt - FA - ) folgte der im September 1994 eingegangenen
Umsatzsteuererklärung der Klägerin und setzte die
Umsatzsteuer für 1993 auf ... DM fest. Die Festsetzung wurde
bestandskräftig.
Im Februar 2005 entschied der Gerichtshof
der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Art. 13 Teil B Buchst.
f der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17.5.1977 zur
Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über
die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) sei dahin
auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehe,
wonach die Veranstaltung oder der Betrieb von Glücksspielen
oder Glücksspielgeräten aller Art in zugelassenen
öffentlichen Spielbanken steuerfrei sei, während diese
Steuerbefreiung für die Ausübung der gleichen
Tätigkeit durch Wirtschaftsteilnehmer, die nicht
Spielbankbetreiber seien, nicht gelte; Art. 13 Teil B Buchst. f der
Richtlinie 77/388/EWG habe unmittelbare Wirkung in dem Sinne, dass
sich ein Veranstalter oder Betreiber von Glücksspielen oder
Glücksspielgeräten vor den nationalen Gerichten darauf
berufen könne, um die Anwendung mit dieser Bestimmung
unvereinbarer innerstaatlicher Rechtsvorschriften zu verhindern
(vgl. EuGH-Urteil vom 17.2.2005 Rs. C-453/02 und Rs. C-462/02 -
Linneweber und Akritidis -, Slg. 2005, I-1131, BFH/NV Beilage 2005,
94, UR 2005, 194 = SIS 05 16 75).
Daraufhin legte die Klägerin mit
Schreiben vom 17.3.2005 gegen den Umsatzsteuerbescheid für
1993 Einspruch mit dem Antrag ein, ihre Umsätze aus dem
Betrieb der Geldspielgeräte steuerfrei zu behandeln. Sie
beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unter Hinweis auf
das EuGH-Urteil vom 25.7.1991 Rs. C-208/90 - Emmott - (Slg. 1991,
I-4269, HFR 1993, 137, UR 1993, 315 = SIS 91 26 03).
Das FA verwarf den Einspruch durch
Einspruchsentscheidung vom 27.7.2005 als unzulässig
(verfristet) und lehnte eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
ab.
Mit der daraufhin erhobenen Klage trug die
Klägerin im Wesentlichen vor, der Einspruch sei abweichend von
§ 355 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO 1977) nicht als
verfristet anzusehen. Im vorliegenden Fall komme es ausnahmsweise
nicht auf die Bekanntgabe des Steuerbescheids als
fristauslösendes Moment an, weil die Bundesrepublik
Deutschland (Bundesrepublik) ihrer Verpflichtung nach Art. 10 des
Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG)
nicht nachgekommen sei, die Umsatzsteuerbefreiung des Art. 13 Teil
B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG ordnungsgemäß in
nationales Recht umzusetzen. Infolgedessen sei die
Rechtsbehelfsfrist gehemmt (sog. Emmott’sche
Anlaufhemmung).
Die Klägerin beantragte, die
Umsatzsteuer für 1993 unter Berücksichtigung der
Umsatzsteuerfreiheit der Umsätze aus gewerblichen
Geldspielgeräten auf ... DM festzusetzen, hilfsweise das FA zu
verurteilen, zu Unrecht festgesetzte Umsatzsteuer in Höhe von
... DM zurückzuzahlen.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab.
Es führte zur Begründung aus, der Einspruch der
Klägerin sei verfristet und damit zu Recht vom FA als
unzulässig verworfen worden. Auch der Hilfsantrag auf
Rückzahlung gezahlter Umsatzsteuer habe keinen Erfolg.
Das Urteil ist in EFG 2006, 295 = SIS 06 09 70 abgedruckt.
Mit der vom FG zugelassenen Revision macht
die Klägerin im Wesentlichen geltend:
Die Vorentscheidung verletze § 355
Abs. 1 Satz 1 AO 1977 i.V.m. Art. 10 EG. Danach sei im Falle einer
nicht ordnungsgemäß umgesetzten Richtlinie, auf die sich
ein Steuerpflichtiger unmittelbar - auch rückwirkend - im
Hinblick auf die Steuerbefreiung bestimmter Umsätze berufen
könne, für den Beginn der Einspruchsfrist
gemäß § 355 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 nicht auf den
Zeitpunkt der Bekanntgabe des rechtswidrigen Steuerbescheids,
sondern auf den Zeitpunkt der ordnungsgemäßen Umsetzung,
frühestens jedoch auf den Zeitpunkt der möglichen
Kenntnisnahme von der Gemeinschaftswidrigkeit des Steuerbescheids -
hier: Veröffentlichung des Urteils des EuGH vom 17.2.2005
Linneweber und Akritidis im Amtsblatt der Europäischen
Gemeinschaften (ABlEG) -, abzustellen, weil die Rechtswidrigkeit
des Umsatzsteuerbescheids für 1993 darauf beruhe, dass der
nationale Gesetzgeber eine Richtlinie des Gemeinschaftsrechts -
hier: Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG - nicht
ordnungsgemäß in das nationale Recht - hier: § 4
Nr. 9 Buchst. b des Umsatzsteuergesetzes (UStG) - umgesetzt habe.
Da die Rechtsbehelfsbelehrung hierauf nicht hinweise, betrage die
Einspruchsfrist gemäß § 356 Abs. 2 AO 1977 ein Jahr
ab dem Zeitpunkt der ordnungsgemäßen Umsetzung der
Richtlinie 77/388/EWG.
Die Anlaufhemmung der Einspruchsfrist
ergebe sich aus dem in Art. 10 EG verankerten
Effektivitätsgebot, das im Falle nicht
ordnungsgemäß umgesetzter Richtlinien auch
verfahrensrechtliche Folgen habe. Danach dürfe sich ein
Mitgliedstaat nicht auf Verfristung berufen, wenn der
begünstigte Regelungsadressat der Richtlinie seinen
richtlinienkonformen Anspruch geltend mache und die Geltendmachung
des Anspruchs praktisch unzumutbar erschwert und versperrt gewesen
sei (Hinweis u.a. auf EuGH-Urteil Emmott in Slg. 1991, 4269, HFR
1993, 137, UR 1993, 315 RandNrn. 22 f.). Eine solche Behinderung
der effektiven Durchsetzung von Gemeinschaftsrecht liege vor, wenn
nach dem nationalen Steuerverfahrensrecht - wie hier
gemäß §§ 172 ff. AO 1977 - die
Finanzbehörden gemeinschaftsrechtswidrige Steuerbescheide
nicht selbst beseitigen dürften und damit das Risiko einer
gemeinschaftskonformen Steuergesetzgebung und Steuergesetzanwendung
einseitig auf den Bürger verlagert werde.
Überdies sei die Einspruchsfrist von
einem Monat gemäß § 355 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 bei -
wie hier - legislativem Unrecht unangemessen kurz und könne
ihr - der Klägerin - deshalb nicht entgegengehalten werden.
Der EuGH erkenne Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung im
Interesse der Rechtssicherheit als angemessen an, wenn sie unter
Berücksichtigung der Rechtsschutzbelange des Bürgers
angemessen seien. Das sei der Fall bei Verjährungsfristen von
drei Jahren (Hinweis auf EuGH-Urteil vom 9.2.1999 Rs. C-343/96 -
Dilexport -, Slg. 1999, I-579, HFR 1999, 500, NVwZ 1999, 634 = SIS 99 09 50) oder vier Jahren (Hinweis auf EuGH-Urteil vom 28.11.2000
Rs. C-88/99 - Roquette Fréres -, Slg. 2000, I-10465, NJW
2001, 741 = SIS 01 07 03). Die Monatsfrist zur Einlegung eines
Einspruchs nach § 355 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 sei verglichen mit
diesen Fällen unangemessen kurz.
Der Hilfsantrag sei begründet, weil
sie einen darauf gerichteten gemeinschaftsrechtlichen
Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruch nach Maßgabe des
EuGH-Urteils vom 29.4.1999 Rs. C-224/97 - Ciola - (Slg. 1999,
I-2517, NJW 1999, 2355) habe.
Überdies könne sie auch auf
Grundlage des gemeinschaftsrechtlichen Erstattungsanspruchs
(Hinweis auf EuGH-Urteil vom 22.10.1998 Rs. C-10/97 - IN.CO.GE -,
Slg. 1998, I-6307, HFR 1999, 123, NJW 1999, 201) die
Rückzahlung der von ihr zu Unrecht gezahlten Steuern
verlangen. Die Umsatzsteuerfestsetzung für 1993 stelle keinen
Rechtsgrund für das Behalten der geleisteten Zahlungen dar.
Denn diese Festsetzung sei - wie dargelegt - nicht formell
bestandskräftig geworden.
Die Klägerin beantragt,
1.
|
das Urteil des Niedersächsischen FG
vom 18. (gemeint wohl 9.) November 2005 5 K 249/05 sowie die
Einspruchsentscheidung vom 27.7.2005 aufzuheben und - unter
Berücksichtigung der Umsatzsteuerfreiheit der Umsätze aus
gewerblichen Geldgewinnspielgeräten - die Umsatzsteuer
für das Jahr 1993 unter Abänderung der
Umsatzsteuerfestsetzung vom 16.9.1994/ 6.10.1994 auf ... DM
festzusetzen,
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|
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2.
|
hilfsweise: unter Aufhebung des
angefochtenen Urteils das FA zu verurteilen, zu Unrecht
festgesetzte Umsatzsteuer in Höhe von ... DM
zurückzuzahlen.
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Sie regt ferner an, gemäß Art.
234 EG eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen, und zwar zu
folgenden Fragen:
1.
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„Ist Art. 10 EG im Fall einer nicht
ordnungsgemäß umgesetzten Richtlinie, auf die sich ein
Steuerpflichtiger unmittelbar - auch rückwirkend - im Hinblick
auf die Steuerbefreiung bestimmter Umsätze berufen kann, so
auszulegen, dass er einer nationalen Regel über eine
einmonatige Anfechtungsfrist entgegensteht, wenn
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-
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der Fristbeginn an die Bekanntgabe des
rechtswidrigen Steuerbescheids anknüpft und die
Rechtswidrigkeit darauf beruht, dass eine Richtlinie des
Gemeinschaftsrechts nicht ordnungsgemäß in das nationale
Recht umgesetzt worden ist, und
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-
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es neben der Anfechtung des Steuerbescheids
durch den Steuerpflichtigen ansonsten keine andere
verfahrensrechtliche Möglichkeit gibt, die
gemeinschaftsrechtswidrig erhobene Steuer erstattet zu bekommen,
weil die Finanzbehörden - anders als die allgemeinen
Verwaltungsbehörden - nicht ermächtigt sind,
unanfechtbare Verwaltungsakte allein aufgrund ihrer
nachträglich erkannten Gemeinschaftsrechtswidrigkeit zugunsten
des Bürgers zu ändern?“
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2.
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„Ist Art. 10 EG i.S. des
Ciola-Urteils des EuGH so auszulegen, dass das FA aus einem
Steuerbescheid, der auf einer nicht ordnungsgemäß
umgesetzten Richtlinie beruht, nach Ablauf der Anfechtungsfrist
keine nachteiligen Rechtsfolgen gegenüber dem
Steuerpflichtigen ableiten darf, der Steuerbescheid also zwar
bestandskräftig bleibt, jedoch nicht vollzogen werden darf
bzw. bei vollzogenen Steuerbescheiden die Vollzugsfolgen zu
beseitigen sind (Rückzahlung der festgesetzten
Steuer)?“
|
|
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3.
|
„Steht eine Norm wie § 172 Abs.
1 Satz 1 Nr. 2 lit. d) AO 1977, der den Finanzbehörden die
Befugnis entzieht, Steuerbescheide allein wegen ihrer
Rechtswidrigkeit aufzuheben, mit Art. 10 EG (Grundsatz der
Effektivität) im Einklang?“
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Das FA beantragt, die Revision als
unbegründet zurückzuweisen.
Es tritt dem Revisionsvorbringen unter
Bezugnahme auf das angefochtene FG-Urteil entgegen.
II. Die Revision der Klägerin ist
unbegründet.
1. Wie der EuGH in den Rechtssachen Linneweber
und Akritidis in Slg. 2005, I-1131, BFH/NV Beilage 2006, 94, UR
2005, 194 = SIS 05 16 75 ausgeführt hat, wird nach
ständiger Rechtsprechung durch die Auslegung einer Vorschrift
des Gemeinschaftsrechts, die der EuGH in Ausübung seiner
Befugnisse aus Art. 234 EG vornimmt, erläutert und
verdeutlicht, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite diese
Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist
oder gewesen wäre. Daraus folge, dass die Gerichte die
Vorschriften in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse,
die vor Erlass des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils
entstanden seien, anwenden könnten und müssten,
„wenn alle sonstigen Voraussetzungen für die Anrufung
der zuständigen Gerichte in einem die Anwendung dieser
Vorschriften betreffenden Streit vorliegen“ (vgl. RandNr.
41 des Urteils, m.w.N.).
2. Im Streitfall liegen diese Voraussetzungen
nicht vor. Das FG hat zu Recht entschieden, dass der Einspruch der
Klägerin vom März 2005 gegen die Umsatzsteuerfestsetzung
für 1993 verspätet eingelegt worden ist und dass auch aus
Art. 10 EG nichts anderes folgt.
a) Nach § 355 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 ist
der Einspruch (§ 347 Abs. 1 Satz 1 AO 1977) innerhalb eines
Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts einzulegen. Ein
Einspruch gegen eine Steueranmeldung ist gemäß §
355 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 innerhalb eines Monats nach Eingang der
Steueranmeldung bei der Finanzbehörde, in den Fällen des
§ 168 Satz 2 AO 1977 innerhalb eines Monats nach Bekanntwerden
der Zustimmung, einzulegen.
Die Klägerin hat (erst) mit Schreiben vom
17.3.2005, beim FA eingegangen am 23.3.2005, Einspruch gegen die
Umsatzsteuerfestsetzung für 1993 erhoben. Zu diesem Zeitpunkt
war die einmonatige Frist für die Einlegung eines Einspruchs
bereits abgelaufen.
b) Der Auffassung der Klägerin, aus dem
in Art. 10 EG verankerten Effektivitätsgebot ergebe sich eine
Anlaufhemmung der Einspruchsfrist, vermag der Senat nicht zu
folgen.
aa) Gemäß Art. 10 Abs. 1 Satz 1 EG
treffen die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen
allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der
Verpflichtungen, die sich aus diesem Vertrag oder aus Handlungen
der Organe der Gemeinschaft ergeben. Sie erleichtern dieser die
Erfüllung ihrer Aufgabe (Art. 10 Abs. 1 Satz 2 EG). Die
Mitgliedstaaten haben zudem alle Maßnahmen zu unterlassen,
welche die Verwirklichung der Ziele dieses Vertrages gefährden
können (Art. 10 Abs. 2 EG).
bb) Nach der Rechtsprechung des EuGH
verpflichtet der in Art. 10 EG verankerte Grundsatz der
Zusammenarbeit eine Verwaltungsbehörde auf entsprechenden
Antrag hin, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zu
überprüfen, um der mittlerweile vom EuGH vorgenommenen
Auslegung der einschlägigen Bestimmung Rechnung zu tragen,
wenn u.a. die Behörde nach nationalem Recht befugt ist, diese
Entscheidung zurückzunehmen (vgl. EuGH-Urteil vom 13.1.2004
Rs. C-453/00 - Kühne und Heitz -, Slg. 2004, I-837, HFR 2004,
488, DVBl 2004, 373, NVwZ 2004, 459 = SIS 04 10 32). In dieser
Entscheidung hat der EuGH u.a. ausgeführt, die
Rechtssicherheit gehöre zu den im Gemeinschaftsrecht
anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Die Bestandskraft
einer Verwaltungsentscheidung, die nach Ablauf angemessener
Klagefristen oder Erschöpfung des Rechtswegs eingetreten sei,
trage zur Rechtssicherheit bei. Daher verlange das
Gemeinschaftsrecht nicht, dass eine Verwaltungsbehörde
grundsätzlich verpflichtet sei, eine bestandskräftige
Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen (RandNr. 24 des
Urteils; ebenso EuGH-Urteil vom 19.9.2006 Rs. C-392/04 und C-422/04
- i 21 Germany GmbH und Arcor AG & Co. KG -, DVBl 2006, 1441 =
SIS 06 47 54 RandNr. 51).
Hierzu hat der EuGH klargestellt, dass das
EuGH-Urteil Kühne und Heitz in Slg. 2004, I-837, HFR 2004,
488, DVBl 2004, 373, NVwZ 2004, 459 = SIS 04 10 32 die
Verpflichtung der betreffenden Behörde aus Art. 10 EG, eine
unter Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht erlassene
bestandskräftige Entscheidung zu überprüfen, u.a.
von einer Befugnis dieser Behörde nach nationalem Recht zur
Rücknahme der Entscheidung abhängig macht (vgl.
EuGH-Urteile vom 16.3.2006 Rs. C-234/04 - Kapferer -, Slg. 2006,
2585, NJW 2006, 1577 = SIS 06 16 40; i 21 Germany GmbH und Arcor AG
& Co. KG in DVBl 2006, 1441 RandNr. 52).
Daraus folgt - entgegen der Ansicht der
Klägerin - im Umkehrschluss, dass die Aufhebung eines
rechtswidrigen belastenden bestandskräftigen Verwaltungsakts
nach der EuGH-Rechtsprechung in Fällen der vorliegenden Art
nur dann in Betracht kommt, wenn sie durch eine nationale Regelung
ermöglicht wird. Ein bestandskräftiger Steuerbescheid ist
deshalb - auch unter Berücksichtigung von Art. 10 EG - nicht
änderbar, wenn das nationale Recht hierfür - wie
§§ 172 ff. AO 1977 - keine Rechtsgrundlage vorsieht (vgl.
Frenz, DVBl 2004, 375; Birk/Jahndorf, UR 2005, 198, 199 f.).
Überdies unterscheidet sich der
Sachverhalt, der dem EuGH-Urteil Kühne und Heitz in Slg. 2004,
I-837, HFR 2004, 488, DVBl 2004, 373, NVwZ 2004, 459 = SIS 04 10 32
zugrunde lag, maßgeblich vom vorliegenden Streitfall. Denn
die Kühne & Heitz NV hatte sämtliche ihr zur
Verfügung stehenden Rechtsbehelfe ausgeschöpft,
während die Klägerin von ihrem Recht, gegen die
Umsatzsteuerfestsetzung für das Streitjahr 1993 rechtzeitig
Einspruch einzulegen, keinen Gebrauch gemacht hat. Auch deshalb
kann sich die Klägerin nicht auf das EuGH-Urteil Kühne
und Heitz berufen (vgl. auch EuGH-Urteil i 21 Germany GmbH und
Arcor AG & Co. KG in DVBl 2006, 1441 = SIS 06 47 54 RandNr. 53
f.).
c) Der Senat vermag ferner der Auffassung der
Klägerin nicht zu folgen, die Einspruchsfrist von einem Monat
gemäß § 355 Abs. 1 AO 1977 sei unangemessen kurz
und könne ihr deshalb nicht entgegengehalten werden.
aa) Nach der Rechtsprechung des EuGH im Urteil
vom 16.12.1976 Rs. 33/76 - Rewe - (Slg. 1976, 1989, NJW 1977, 495)
verbietet das Gemeinschaftsrecht es bei seinem gegenwärtigen
Stand nicht, einem Bürger, der vor einem innerstaatlichen
Gericht die Entscheidung einer innerstaatlichen Stelle wegen
Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht anficht, den Ablauf
der im innerstaatlichen Recht vorgesehenen Fristen für die
Rechtsverfolgung entgegenzuhalten, wobei jedoch das Verfahren
für die Klage nicht ungünstiger ausgestaltet sein darf
als für gleichartige Klagen, die das innerstaatliche Recht
betreffen.
Die Entscheidung erging auf Vorlage des
Bundesverwaltungsgerichts in einem Verfahren, in dem ein
Verwaltungsakt nach deutschem Verfahrensrecht wegen
Fristversäumnis unanfechtbar geworden war.
bb) Entgegen der Auffassung der Klägerin
ist diese Entscheidung des EuGH nicht überholt (ebenso
Beschluss des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 15.9.2004 I R 83/04,
BFH/NV 2005, 229 = SIS 05 07 91).
Die Behauptung der Klägerin, der EuGH
habe in dieser Entscheidung als Prüfungsmaßstab
seinerzeit nur auf das Diskriminierungsverbot und nicht
zusätzlich auf das Effektivitätsgebot abgestellt, trifft
nicht zu. Vielmehr hat der EuGH ausgeführt: „In
Ermangelung solcher Harmonisierungsmaßnahmen müssen die
durch das Gemeinschaftsrecht gewährten Rechte vor den
innerstaatlichen Gerichten nach den Verfahrensregeln des
innerstaatlichen Rechts verfolgt werden. Anders wäre es nur,
wenn diese Verfahrensregeln und Fristen die Verfolgung von Rechten,
die die innerstaatlichen Gerichte zu schützen verpflichtet
sind, praktisch unmöglich machten. Dies lässt sich von
der Festsetzung angemessener Ausschlussfristen für die
Rechtsverfolgung nicht sagen. Die Festsetzung solcher Fristen
für die Rechtsverfolgung im abgabenrechtlichen Bereich ist ein
Anwendungsfall des grundlegenden Prinzips der Rechtssicherheit, das
zugleich den Abgabepflichtigen und die Behörde
schützt“ (vgl. Rewe in Slg. 1976, 1989, NJW 1977,
495 RandNr. 5).
Dementsprechend bezieht sich der EuGH auch in
seiner jüngeren Rechtsprechung auf das Urteil Rewe in Slg.
1976, 1989, NJW 1977, 495 (vgl. z.B. EuGH-Urteile vom 2.12.1997 Rs.
C-188/95 - Fantask -, Slg. 1997, I-6783, HFR 1998, 234, NVwZ 1998,
833 = SIS 98 04 34 RandNr. 48; Roquette Fréres in Slg. 2000,
I-10465, NJW 2001, 741 = SIS 01 07 03 RandNr. 20; vom 18.9.2003 Rs.
C-125/01 - Pflücke -, Slg 2003, I-9375, BB 2003, 2575 = SIS 03 53 79 RandNr. 34; vom 7.9.2006 Rs. C-470/04 - N -, DStR 2006, 1691
= SIS 06 39 06 RandNr. 59).
cc) Überdies hat der EuGH in seinem
Urteil i 21 Germany GmbH und Arcor AG & Co. KG in DVBl 2006,
1441 entschieden, dass das aus Art. 10 EG folgende
Effektivitätsprinzip nicht verletzt ist, wenn ein Unternehmen
gegen einen Gebührenbescheid innerhalb einer angemessenen
Frist ab seiner Bekanntgabe einen Rechtsbehelf einlegen und seine
aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Rechte geltend machen kann
(vgl. RandNr. 59). Er hat in dieser Entscheidung die für die
Einlegung eines Einspruchs vorgesehene Einmonatsfrist nicht als
unangemessen beanstandet (RandNr. 60).
dd) Daraus folgt, dass die Monatsfrist
für die Einlegung eines Einspruchs gemäß § 355
Abs. 1 AO 1977 gemeinschaftsrechtlich nicht zu beanstanden ist.
Aus der von der Klägerin angeführten
Rechtsprechung des EuGH zu - anders gearteten -
Verjährungsfristen ergibt sich nichts anderes.
d) Die Versäumung der einmonatigen
Einspruchsfrist durch die Klägerin ist nicht ausnahmsweise
unerheblich. Auf das EuGH-Urteil Emmott in Slg. 1991, I-4269, HFR
1993, 137, UR 1993, 315 kann sich die Klägerin im Streitfall
nicht mit Erfolg berufen.
aa) Der EuGH hat in diesem Urteil zwar
entschieden, dass sich ein säumiger Mitgliedstaat bis zum
Zeitpunkt der ordnungsgemäßen Umsetzung einer Richtlinie
nicht auf die Verspätung einer Klage berufen könne, die
ein Einzelner zum Schutz der ihm durch die Bestimmungen einer
Richtlinie verliehenen Rechte gegen ihn erhoben habe, und dass eine
Klagefrist des nationalen Rechts erst zu diesem Zeitpunkt beginnen
könne.
bb) Wie der EuGH mittlerweile jedoch
wiederholt klargestellt hat, war diese Entscheidung durch die
besonderen Umstände des Falles gerechtfertigt, in dem der
Klägerin durch den Ablauf der Klagefrist jede Möglichkeit
genommen war, ihren auf eine Gemeinschaftsrichtlinie
gestützten Anspruch auf Gleichbehandlung geltend zu machen
(vgl. z.B. EuGH-Urteil Fantask in Slg. 1997, I-6783, HFR 1998, 234,
NVwZ 1998, 833 = SIS 98 04 34 Rz. 51, m.w.N.). Daraus folgt, dass
der EuGH den im Verfahren Emmott entwickelten Rechtsgrundsatz auf
Fallkonstellationen der dort gegebenen Art beschränkt wissen
will (vgl. BFH-Urteil vom 21.3.1996 XI R 36/95, BFHE 197, 563,
BStBl II 1996, 399 = SIS 96 13 26, unter II. 3. a; BFH-Beschluss in
BFH/NV 2005, 229 = SIS 05 07 91, unter II.1.).
Die Klägerin Emmott hatte im
Frühjahr 1987 unter Berufung auf eine von Irland nicht
rechtzeitig umgesetzte EG-Richtlinie und ein dazu ergangenes Urteil
des irischen High Court vom 24.3.1987 beim zuständigen
irischen Minister Leistungen der Sozialhilfe nach Maßgabe
dieser EG-Richtlinie beantragt. Mit Schreiben vom 26.6.1987
antwortete der Minister, da über die EG-Richtlinie in einem
anderen Verfahren noch vor dem High Court gestritten werde,
könne über ihren Anspruch nicht entschieden werden;
dieser werde geprüft, sobald dieses Gericht sein Urteil
erlassen habe.
Mit Beschluss vom 22.7.1988 erteilte der High
Court Frau Emmott die (erforderliche) Erlaubnis, Klage zu erheben.
Diese Erlaubnis wurde jedoch unbeschadet des Rechts der Beklagten
erteilt, sich auf die Nichteinhaltung der Klagefrist zu berufen.
Als dann Frau Emmott später auf Gewährung der von ihr
beantragten Leistungen klagte, beriefen sich die irischen
Behörden auf die Nichteinhaltung der Klagefrist von drei
Monaten nach dem Zeitpunkt, zu dem die Klagegründe zutage
getreten sind.
cc) Ein vergleichbarer Sachverhalt ist im
Streitfall nicht gegeben.
In der Rechtssache Emmott hatten sich die
irischen Behörden - unter Verstoß gegen Treu und Glauben
- auf die Nichteinhaltung der Klagefrist berufen. Im Streitfall hat
das FA die Klägerin nicht an der rechtzeitigen Einlegung des
Einspruchs gehindert und ihr deshalb nicht treuwidrig die
Versäumung der - von Amts wegen zu beachtenden -
Einspruchsfrist des § 355 Abs. 1 AO 1977 entgegengehalten.
3. Das FG hat auch den Hilfsklageantrag mit
Recht zurückgewiesen.
a) Die Klägerin hat keinen
gemeinschaftsrechtlichen Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruch. Das
EuGH-Urteil Ciola in Slg. 1999, I-2517, NJW 1999, 2355 gibt -
entgegen der Ansicht der Klägerin - für den Streitfall
nichts her.
aa) Zwar hat der EuGH in dem bezeichneten
Urteil es für unzulässig erklärt, wenn sich der
Mitgliedsstaat Österreich auf die Bestandskraft eines mit
Gemeinschaftsrecht unvereinbaren Verwaltungsaktes beruft, den er
vor seinem Beitritt zur Gemeinschaft erlassen hatte. Er hat
entschieden, dass ein gegen die Dienstleistungsfreiheit (Art. 59
des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft)
verstoßendes Verbot, das vor dem Beitritt eines
Mitgliedstaats zur Europäischen Union nicht durch eine
generell-abstrakte Rechtsvorschrift, sondern eine
individuell-konkrete, bestandskräftig gewordene
Verwaltungsentscheidung eingeführt wurde, bei der Beurteilung
der Rechtmäßigkeit einer Geldstrafe, die nach dem
Zeitpunkt des Beitritts wegen der Nichtbeachtung dieses Verbots
verhängt wurde, unangewendet bleiben muss.
bb) Diese Entscheidung des EuGH findet aber
ihren Grund in der Besonderheit der Beitrittssituation; bei Erlass
des Verwaltungsaktes galt das europäische Gemeinschaftsrecht
in Österreich noch nicht, und der Betroffene hatte daher keine
Möglichkeit, ihn vor Eintritt der Bestandskraft unter Berufung
auf Gemeinschaftsrecht anzufechten (vgl. Bundesverwaltungsgericht,
Beschluss vom 15.3.2005 3 B 86/04, Die öffentliche Verwaltung
- DöV - 2005, 651).
Anders liegt es im vorliegenden Fall: Die
Klägerin hatte es in der Hand, die Umsatzsteuerfestsetzung
für 1993 durch rechtzeitigen Einspruch auf ihre Vereinbarkeit
mit dem Gemeinschaftsrecht hin überprüfen zu lassen.
Der Senat vermag deshalb der Ansicht der
Klägerin nicht zu folgen, aus dem EuGH-Urteil Ciola in Slg.
1999 I-2517, NJW 1999, 2355 ergebe sich, dass die Bestandskraft
eines staatlichen Akts durch den Anwendungsvorgang des
Gemeinschaftsrechts grundsätzlich zurückgedrängt
werde.
Ein solches Verständnis des Urteils
stünde überdies im Widerspruch zu der oben dargelegten
EuGH-Rechtsprechung, wonach die Bestandskraft von Verwaltungsakten
prinzipiell auch im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts
gilt.
b) Die Klägerin hat auch keinen
gemeinschaftsrechtlichen Erstattungsanspruch.
Nach der Rechtsprechung des EuGH kann ein
Steuerpflichtiger mit Rückwirkung auf den Tag des
Inkrafttretens der im Widerspruch zur Richtlinie 77/388/EWG
stehenden nationalen Rechtsvorschriften die Erstattung der ohne
Rechtsgrund gezahlten Mehrwertsteuer nach den in der
innerstaatlichen Rechtsordnung des betreffenden Mitgliedstaats
festgelegten Verfahrensmodalitäten verlangen, sofern diese
Modalitäten nicht ungünstiger sind als für
gleichartige Klagen, die das innerstaatliche Recht betreffen, und
nicht so ausgestaltet sind, dass sie die Ausübung der Rechte,
die die Gemeinschaftsrechtsordnung einräumt, praktisch
unmöglich machen (vgl. z.B. EuGH-Urteil vom 6.7.1995 Rs.
C-62/93 - Soupergaz -, Slg. 1995, I-1883, HFR 1995, 606, IStR 1995,
385 = SIS 95 21 46, Leitsatz 4).
Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall
nicht vor. Die Klägerin hat Umsatzsteuer in Höhe von ...
DM mit Rechtsgrund, nämlich aufgrund der
bestandskräftigen Umsatzsteuerfestsetzung für 1993,
gezahlt.
4. Der Senat folgt nicht der Anregung der
Klägerin, gemäß Art. 234 Abs. 3 EG eine
Vorabentscheidung des EuGH einzuholen. Die von der Klägerin
insoweit aufgeworfenen Fragen sind - wie dargelegt - durch die
Rechtsprechung des EuGH bereits geklärt.