Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil
des Finanzgerichts Nürnberg vom 15.2.2017 3 K 1601/14
aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht Nürnberg
zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des
Revisionsverfahrens übertragen.
1
|
I. Streitig ist die Höhe des
Kindergeldanspruchs für den Zeitraum Januar 2013 bis November
2014.
|
|
|
2
|
Der Kläger und Revisionsbeklagte
(Kläger) und seine Ehefrau sind Eltern von zwei im Juli 2001
und im Oktober 2003 geborenen Kindern. Der Kläger ist seit
2006 als Arzt an einer Klinik in Großbritannien tätig
und wohnt seither dort auch mit seiner Familie.
|
|
|
3
|
Im Frühjahr 2012 war der Kläger
Eigentümer und Vermieter eines Hauses in der Bundesrepublik
Deutschland (Deutschland) und hielt sich dort vornehmlich in den
Schulferien - teilweise mit seiner Familie - auch auf.
|
|
|
4
|
Laut einer Bescheinigung des Finanzamts
(FA) X vom 12.4.2012 gilt der Kläger nach § 1 Abs. 3 des
Einkommensteuergesetzes (EStG) ab dem Jahr 2011
antragsgemäß als unbeschränkt
einkommensteuerpflichtig.
|
|
|
5
|
Mit Bescheid vom 17.4.2012 setzte die
Familienkasse Y ab Januar 2011 zugunsten des Klägers
Kindergeld für die beiden Kinder in Höhe von 193,08 EUR
pro Monat fest. Der Betrag errechnete sich aus der Differenz
zwischen dem deutschen Kindergeld (2 x 184 EUR = 368 EUR) und dem
in Großbritannien bestehenden Anspruch auf Familienleistungen
(umgerechnet 174,92 EUR pro Monat).
|
|
|
6
|
Am 12.2.2013 reichte der Kläger bei
der Familienkasse Y eine Bescheinigung der HM Revenue Customs
(Child Benefit Customs) ein, aus der hervorgeht, dass dort die
Auszahlung des Child Benefit ab 7.1.2013 eingestellt wird. Mit
Schreiben vom 2.5.2013 reichte der Kläger einen
Kindergeldantrag für seine beiden Kinder ein und wies darauf
hin, dass aufgrund einer Gesetzesänderung in
Großbritannien Erwerbstätige, die über ein
Jahreseinkommen von über 60.000 Pfund verfügen, kein
Kindergeld mehr erhalten.
|
|
|
7
|
Mit Wechsel der Zuständigkeit zur
Beklagten und Revisionsklägerin (Familienkasse) stellte die
Familienkasse Y die Zahlung des Kindergeldes ab April 2013
zunächst ein. Mit Schreiben vom 7.8.2013 teilte die beklagte
Familienkasse mit, dass ab Mai 2013 weiterhin Differenzkindergeld
in der bisherigen Höhe ausgezahlt werde, da der Anspruch auf
Kindergeld in Großbritannien weiterhin dem Grunde nach
bestehe.
|
|
|
8
|
Mit Bescheid vom 28.2.2014 lehnte die
Familienkasse eine über den Differenzbetrag hinausgehende, die
vollen gesetzlichen Kindergeldsätze umfassende Festsetzung von
Kindergeld ab. Den hiergegen gerichteten Einspruch wies die
Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom 13.11.2014 als
unbegründet zurück.
|
|
|
9
|
Das Finanzgericht (FG) gab der dagegen
gerichteten Klage in vollem Umfang statt und verpflichtete die
Familienkasse, für den Zeitraum Januar 2013 bis November 2014
Kindergeld für die beiden Kinder in voller Höhe und damit
in Höhe von insgesamt zusätzlich 174,92 EUR pro Monat
festzusetzen.
|
|
|
10
|
Mit der hiergegen gerichteten Revision
rügt die Familienkasse die Verletzung materiellen
Rechts.
|
|
|
11
|
Die Familienkasse beantragt, das
angefochtene Urteil des FG aufzuheben und die Klage
abzuweisen.
|
|
|
12
|
Der Kläger beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
|
|
|
13
|
II. Die Revision ist begründet. Sie
führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur
Zurückverweisung der nicht spruchreifen Sache an das FG zur
anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz
1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO - ). Das FG hat auf der
Grundlage der von ihm getroffenen Feststellungen zu Unrecht
entschieden, dass dem Kläger für den Zeitraum Januar 2013
bis November 2014 ein Anspruch auf Kindergeld in Höhe der
vollen gesetzlichen Beträge zusteht.
|
|
|
14
|
1. Das FG ist auf der Grundlage der von ihm
getroffenen tatsächlichen Feststellungen zu Unrecht davon
ausgegangen, dass der Kläger im Streitzeitraum Januar 2013 bis
November 2014 die nationalrechtlichen Voraussetzungen für
einen Kindergeldanspruch erfüllt hat.
|
|
|
15
|
a) Nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG
hat Anspruch auf Kindergeld, wer nach § 1 Abs. 3 EStG als
unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird. Nach der
Rechtsprechung des Senats macht das Gesetz die
Anspruchsberechtigung nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG -
anders als in den Fällen des § 62 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2
Buchst. a EStG - von der einkommensteuerrechtlichen Behandlung des
Antragstellers abhängig (Senatsurteil vom 24.5.2012 III R
14/10, BFHE 237, 239, BStBl II 2012, 897 = SIS 12 17 02, Rz 13
ff.). Eine Behandlung nach § 1 Abs. 3 EStG setzt daher voraus,
dass das FA in dem maßgeblichen Einkommensteuerbescheid dem
Antrag des Steuerpflichtigen entsprochen und ihn demnach
gemäß § 1 Abs. 3 EStG veranlagt hat (Senatsurteil
vom 18.7.2013 III R 59/11, BFHE 242, 228, BStBl II 2014, 843 = SIS 13 29 98, Rz 46). Lässt sich eine Behandlung nach § 1
Abs. 3 EStG dem Steuerbescheid nicht eindeutig entnehmen, ist
maßgebend auf seinen durch Auslegung (§§ 133, 157
des Bürgerlichen Gesetzbuchs analog) zu ermittelnden
objektiven Erklärungsinhalt abzustellen. Ein Verwaltungsakt
wird gegenüber dem Betroffenen mit dem Inhalt wirksam, mit dem
er bekanntgegeben wird (§ 124 Abs. 1 Satz 2 der
Abgabenordnung). Bei der Auslegung sind der erklärte Wille der
Behörde und der sich daraus ergebende objektive
Erklärungsinhalt der Regelung, wie ihn der Betroffene nach den
ihm bekannten Umständen unter Berücksichtigung von Treu
und Glauben verstehen konnte, entscheidend. Es können auch
außerhalb des Bescheids liegende Umstände zu
berücksichtigen sein (Senatsurteil in BFHE 242, 228, BStBl II
2014, 843 = SIS 13 29 98, Rz 46, m.w.N.).
|
|
|
16
|
b) Unter Zugrundelegung dieser
Rechtsgrundsätze hat das FG im Streitfall zu Unrecht aus einer
Bescheinigung des FA X vom 12.4.2012, wonach der Kläger ab dem
Jahr 2011 antragsgemäß als nach § 1 Abs. 3 EStG
unbeschränkt einkommensteuerpflichtig gilt, den Schluss
gezogen, dass der Kläger im Streitzeitraum Januar 2013 bis
November 2014 nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt
einkommensteuerpflichtig behandelt wurde.
|
|
|
17
|
Als Nachweis für eine Behandlung als
unbeschränkt steuerpflichtig nach § 1 Abs. 3 EStG sind
nur Beweismittel geeignet, aus denen sich ergibt, dass für den
betreffenden Anspruchszeitraum bereits eine entsprechende
steuerliche Behandlung nach § 1 Abs. 3 EStG durch das
zuständige FA vorgenommen wurde. Da der nach § 1 Abs. 3
Satz 1 EStG erforderliche Antrag für jeden
Veranlagungszeitraum neu zu stellen ist (Tiede in
Herrmann/Heuer/Raupach, § 1 EStG Rz 255; Blümich/Rauch,
§ 1 EStG Rz 261) - in der Regel nach dessen Ablauf (Gosch in
Kirchhof, EStG, 16. Aufl., § 1 Rz 25) -, kann die vom FG
herangezogene Bescheinigung aus dem Jahr 2012 daher
möglicherweise Auskunft darüber geben, wie das FA einen
Steuerfall des Veranlagungszeitraums 2011 behandelt hat, nicht aber
darüber, ob es bei einem Steuerpflichtigen in den
Veranlagungszeiträumen 2013 und 2014 die Voraussetzungen des
§ 1 Abs. 3 EStG bejaht hat. Die fraglichen
Veranlagungszeiträume hatten im Zeitpunkt der Erteilung der
Bescheinigung noch nicht einmal begonnen. Damit ist es
ausgeschlossen, dass das zuständige FA für diese
Veranlagungszeiträume bereits einen auf § 1 Abs. 3 EStG
gestützten Einkommensteuerbescheid erlassen oder den
Steuerpflichtigen anderweitig nach § 1 Abs. 3 EStG behandelt
haben kann.
|
|
|
18
|
Dies gilt umso mehr, als die bislang
getroffenen weiteren Feststellungen des FG nicht dafür
sprechen, dass der Kläger die Voraussetzungen des § 1
Abs. 3 EStG im Streitzeitraum erfüllt hat. Denn dies
würde nach § 1 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 1a Abs. 1 Nr.
2 Satz 3 EStG voraussetzen, dass die Einkünfte des
Klägers und seiner Ehefrau zu 90 % der deutschen
Einkommensteuer unterlegen haben. Das bedeutet zugleich, dass die
der Versteuerung in Großbritannien unterliegenden
nichtselbständigen Einkünfte des Klägers maximal 10
% der Welteinkünfte der Eheleute umfasst haben
dürfen.
|
|
|
19
|
Der Senat ist auch nicht nach § 118 Abs.
2 FGO an die abweichende Auslegung der Bescheinigung durch das FG
gebunden, da die Auslegung des in einer Urkunde Erklärten
nicht zu den Tatsachenfeststellungen, sondern zur Rechtsanwendung
gehört (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 6.5.2010 IV R
52/08, BFHE 229, 279, BStBl II 2011, 261 = SIS 10 19 12, Rz 15;
Lange in Hübschmann/ Hepp/Spitaler, § 118 FGO Rz
213).
|
|
|
20
|
c) Das FG wird daher im zweiten Rechtsgang
anhand der für die Veranlagungszeiträume 2013 und 2014
ergangenen Einkommensteuerbescheide unter ergänzender
Heranziehung der Einkommensteuerakten einschließlich der
Einkommensteuererklärungen zu ermitteln haben, ob das
zuständige FA den Kläger tatsächlich aufgrund eines
entsprechenden Antrags nach § 1 Abs. 3 EStG als
unbeschränkt steuerpflichtig behandelt hat. Dabei wäre
gegebenenfalls auch zu beachten, dass eine Bindungswirkung der
Behandlung des Steuerfalls durch das FA dann entfallen kann, wenn
der Steuerbescheid auf unzutreffenden Tatsachenangaben des
Antragstellers beruht (vgl. BFH-Urteil vom 14.5.2002 VIII R 67/01,
BFH/NV 2002, 1294 = SIS 02 93 84, Rz 22).
|
|
|
21
|
2. Sollte sich im zweiten Rechtsgang ergeben,
dass das FA den Kläger nach § 1 Abs. 3 EStG behandelt
hat, weist der Senat im Hinblick auf die sich dann ergebenden
weiteren Fragen zur Verfahrensbeschleunigung auf Folgendes hin:
|
|
|
22
|
a) Zu Recht ist das FG davon ausgegangen, dass
nach Art. 2 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 zur
Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der
Europäischen Union - ABlEU - 2004 Nr. L 166, S. 1) in der
für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung - VO Nr.
883/2004 (Grundverordnung) - der persönliche und nach Art. 3
Abs. 1 Buchst. j i.V.m. Art. 1 Buchst. z auch der sachliche
Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004 eröffnet ist.
|
|
|
23
|
Revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist
ferner die Annahme, dass der Kläger aufgrund seiner in
Großbritannien ausgeübten Beschäftigung den
Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats unterliegt (Art. 11 Abs. 3
Buchst. a der VO Nr. 883/2004).
|
|
|
24
|
b) Hinsichtlich der nach Art. 68 der VO Nr.
883/2004 weiter zu prüfenden Frage, ob es für die beiden
Kinder des Klägers aufgrund eines Leistungsanspruchs in
Großbritannien zu einem Zusammentreffen von Leistungen
für denselben Zeitraum kommt, hat das FG jedoch zu Unrecht
nicht auf eine Entscheidung der zuständigen Behörde in
Großbritannien abgestellt.
|
|
|
25
|
Anders als im Falle der Anwendbarkeit der
Konkurrenzregelung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG (dazu
Senatsurteile vom 13.6.2013 III R 63/11, BFHE 242, 34, BStBl II
2014, 711 = SIS 13 25 79, Rz 17 ff., und vom 13.6.2013 III R 10/11,
BFHE 241, 562, BStBl II 2014, 706 = SIS 13 25 78, Rz 22 ff.) bedarf
es im Anwendungsbereich des Art. 68 der VO Nr. 883/2004
regelmäßig keiner eigenen Feststellungen des FG zum
Inhalt des ausländischen Rechts. Denn insoweit ist vorrangig
das auf dem Prinzip der vertrauensvollen Zusammenarbeit der
Mitgliedstaaten basierende Koordinierungsverfahren (dazu
insbesondere Art. 60 Abs. 3 der VO Nr. 883/2004 und Art. 59 f. der
Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und
des Rates vom 16.9.2009 zur Festlegung der Modalitäten
für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004
über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit
(ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum
maßgeblichen Fassung - VO Nr. 987/2009
(Durchführungsverordnung) - ) zwischen den jeweils
zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten
durchzuführen (im Einzelnen Senatsurteil vom 26.7.2017 III R
18/16, BFHE 259, 98, BStBl II 2017, 1237 = SIS 17 18 95, Rz 18
ff.). Dies bedeutet, dass mittels eines Auskunftsersuchens
gegenüber der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats
Großbritannien zu klären ist, ob und in welchem Umfang
dort ein Anspruch auf Familienleistungen für die Kinder des
Klägers bestand. Dabei wäre auch einer rechtlichen
Bewertung der zuständigen ausländischen Stelle über
das Verhältnis zwischen der Besteuerung der Familienleistung
(„Higher Income Child Benefit Charge ...“) und
dem Anspruch auf die Familienleistung („... has no effect
on UK Child Benefit Entitlement“), wie sie in dem von der
Familienkasse im Revisionsverfahren vorgelegten Schreiben des HM
Revenue & Customs vom 20.2.2013 zum Ausdruck kommt, zu folgen.
|
|
|
26
|
c) Ergibt sich danach ein konkurrierender
Anspruch auf Familienleistungen in Großbritannien, ist dieser
Anspruch - wovon auch das FG ausgegangen ist - nach Art. 68 Abs. 1
Buchst. a der VO Nr. 883/2004 vorrangig. Besteht hingegen kein
konkurrierender Anspruch in Großbritannien, ist Deutschland
als allein zuständiger Mitgliedstaat zur Zahlung von
Kindergeld in Höhe der vollen in § 66 Abs. 1 EStG
vorgesehenen Beträge verpflichtet.
|
|
|
27
|
d) Besteht ein vorrangiger Anspruch in
Großbritannien, würde dieser im Streitfall nach Art. 68
Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 auch einen Anspruch auf die
Zahlung eines Unterschiedsbetrags in Deutschland
ausschließen.
|
|
|
28
|
aa) Nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 der VO Nr.
883/2004 werden die Familienleistungen bei Zusammentreffen von
Ansprüchen nach den Rechtsvorschriften gewährt, die nach
Art. 68 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 Vorrang haben. Ansprüche
auf Familienleistungen nach anderen widerstreitenden
Rechtsvorschriften werden bis zur Höhe des nach den vorrangig
geltenden Rechtsvorschriften vorgesehenen Betrags ausgesetzt;
erforderlichenfalls ist ein Unterschiedsbetrag in Höhe des
darüber hinausgehenden Betrags der Leistungen zu gewähren
(Art. 68 Abs. 2 Satz 2 der VO Nr. 883/2004). Ein derartiger
Unterschiedsbetrag muss jedoch nicht für Kinder gewährt
werden, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, wenn der
entsprechende Leistungsanspruch ausschließlich durch den
Wohnort ausgelöst wird (Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr.
883/2004).
|
|
|
29
|
bb) Im Streitfall wären die
Voraussetzungen des Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004
erfüllt; insoweit schließt sich der Senat der
Rechtsprechung mehrerer Finanzgerichte an (Niedersächsisches
FG, Urteil vom 15.12.2011 3 K 154/11, EFG 2012, 1071 = SIS 12 05 35, Rz 29; FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 16.5.2012 12 K
12134/11 = SIS 13 05 21, Rz 20; FG Köln, Urteil vom 30.1.2013
15 K 3230/11, EFG 2013, 795 = SIS 13 12 34, Rz 24;
Schleswig-Holsteinisches FG, Urteil vom 21.6.2017 5 K 179/16 = SIS 17 14 89, Rz 38). Denn die Kinder wohnen in dem anderen
(vorrangigen) Mitgliedstaat Großbritannien. Zudem wird der
(nachrangige) Leistungsanspruch in Deutschland durch den Wohnort
ausgelöst.
|
|
|
30
|
Letzterem steht nicht entgegen, dass die
Anspruchsberechtigung nicht auf § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG,
sondern auf § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG gestützt
wird. Denn zum einen ersetzt die fiktive unbeschränkte
Steuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG in nationalrechtlicher
Hinsicht nur das Kriterium des Wohnsitzes, an dem sich die
grundsätzliche Ausrichtung der Kindergeldberechtigung nach dem
Territorialitätsprinzip widerspiegelt. Zum anderen
unterscheidet auch das EU-Recht in Art. 68 Abs. 1 Buchst. a der VO
Nr. 883/2004 nur zwischen den vier Anknüpfungspunkten
Beschäftigung, selbständige Erwerbstätigkeit, Rente
und Wohnsitz. Da der Kläger in Deutschland keiner
Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit
nachging und er auch keine Rente bezog, kommt auch in
unionsrechtlicher Hinsicht nur eine Zuordnung zur
Anspruchsauslösung durch den Wohnort in Betracht.
|
|
|
31
|
e) Soweit das FG einen Anspruch auf Kindergeld
in voller Höhe daraus ableiten will, dass die Familienkasse
eine Verpflichtung zur Weiterleitung des Antrags an die für
Familienleistungen zuständige Behörde in
Großbritannien verletzt hat, wäre Folgendes zu
beachten:
|
|
|
32
|
aa) Art. 68 Abs. 3 der VO Nr. 883/2004
enthält eine Bestimmung für den Fall, dass nach Art. 67
der VO Nr. 883/2004 beim zuständigen Träger eines
Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften gelten, aber nach den
Prioritätsregeln des Art. 68 Abs. 1 und 2 der VO Nr. 883/2004
des vorliegenden Artikels nachrangig sind, ein Antrag auf
Familienleistungen gestellt wird. Danach leitet der nachrangig
zuständige Träger den Antrag unverzüglich an den
vorrangig zuständigen Träger des Mitgliedstaats weiter,
teilt dies der betroffenen Person mit und zahlt unbeschadet der
Bestimmungen der Durchführungsverordnung über die
vorläufige Gewährung von Leistungen erforderlichenfalls
den in Art. 68 Abs. 2 der VO Nr. 883/2004 genannten
Unterschiedsbetrag. Der zuständige Träger des vorrangigen
Mitgliedstaats bearbeitet den Antrag, als ob er direkt bei ihm
gestellt worden wäre; der Tag der Einreichung des Antrags beim
ersten Träger gilt als der Tag der Einreichung bei dem
Träger, der vorrangig zuständig ist.
|
|
|
33
|
Näheres hinsichtlich des Verfahrens bei
der Anwendung von Art. 68 der Grundverordnung enthält Art. 60
der Durchführungsverordnung. Danach werden die
Familienleistungen bei dem zuständigen Träger beantragt
(Art. 60 Abs. 1 Satz 1 der VO Nr. 987/2009). Der nach Art. 60 Abs.
1 der VO Nr. 987/2009 in Anspruch genommene Träger prüft
den Antrag anhand der detaillierten Angaben des Antragstellers und
berücksichtigt dabei die gesamten tatsächlichen und
rechtlichen Umstände, die die familiäre Situation des
Antragstellers ausmachen (Art. 60 Abs. 2 Satz 1 der VO Nr.
987/2009). Kommt dieser Träger zu dem Schluss, dass seine
Rechtsvorschriften nach Art. 68 Abs. 1 und 2 der Grundverordnung
prioritär anzuwenden sind, so zahlt er die Familienleistungen
nach den von ihm angewandten Rechtsvorschriften (Art. 60 Abs. 2
Satz 2 der VO Nr. 987/2009). Ist dieser Träger der Meinung,
dass aufgrund der Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats
ein Anspruch auf einen Unterschiedsbetrag nach Art. 68 Abs. 2 der
Grundverordnung bestehen könnte, so übermittelt er den
Antrag unverzüglich dem zuständigen Träger des
anderen Mitgliedstaats und informiert die betreffende Person;
außerdem unterrichtet er den Träger des anderen
Mitgliedstaats darüber, wie er über den Antrag
entschieden hat und in welcher Höhe Familienleistungen gezahlt
wurden (Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der VO Nr. 987/2009).
|
|
|
34
|
bb) Aus der Gesamtschau dieser Regelungen
ergibt sich, dass die in Art. 68 Abs. 3 Buchst. a der VO Nr.
883/2004 bestimmte Verpflichtung des nachrangig zuständigen
Trägers zur Weiterleitung des Antrags an den Träger des
vorrangig zuständigen Mitgliedstaats auf den Fall ausgerichtet
ist, dass der Anspruchsteller den Antrag nur beim nachrangig
zuständigen Träger, nicht hingegen beim vorrangig
zuständigen Träger gestellt hat. Hat der Anspruchsteller
den Antrag beim nachrangig zuständigen Träger dagegen zu
einem Zeitpunkt gestellt, zu dem er bereits einen Antrag beim
vorrangig zuständigen Träger gestellt hat, bedarf es der
Antragsweiterleitung weder im Hinblick darauf, dass dem vorrangig
zuständigen Träger die Antragsbearbeitung ermöglicht
wird, noch im Hinblick darauf, dass ein Antragseingang beim
vorrangig zuständigen Träger und der Eingangszeitpunkt
gemäß Art. 68 Abs. 3 Buchst. b der VO Nr. 883/2004
fingiert werden. Denn der Zweck der Regelung über die
Antragsweiterleitung durch den nachrangigen Träger besteht
darin, den Antragsteller davor zu bewahren, dass ihm durch die
Antragstellung bei der nur nachrangig zuständigen Stelle und
durch die sich aus der Weiterleitung ergebende zeitliche
Verzögerung des Antragseingangs bei der vorrangig
zuständigen Behörde materielle Nachteile entstehen. Das
Koordinierungsverfahren erfordert in dieser Konstellation vielmehr
nur für den Fall eines möglichen Differenzanspruchs eine
Mitteilung des vorrangig zuständigen Trägers an den
nachrangigen Träger, wie er über den Antrag entschieden
hat und in welcher Höhe Familienleistungen gezahlt wurden
(Art. 60 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 987/2009).
|
|
|
35
|
cc) Nichts anderes ergibt sich in diesem
Zusammenhang aus der vom FG herangezogenen Rechtsprechung des
Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) und des BFH. Der
EuGH hat zwar im Urteil Schwemmer vom 14.10.2010 C-16/09
(EU:C:2010:605 = SIS 10 33 42, Rz 52) entschieden, dass eine
Kumulierung von Ansprüchen auf Familienleistungen nicht schon
dann vorliegt, wenn derartige Leistungen in dem Mitgliedstaat, in
dem das Kind wohnt, geschuldet werden und zugleich in einem anderen
Mitgliedstaat, in dem ein Elternteil dieses Kindes arbeitet,
lediglich geschuldet werden können. Er begründete dies
damit, dass Familienleistungen nur dann als nach den
Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats geschuldet gelten
können, wenn das Recht dieses Staats dem
Familienangehörigen, der dort arbeitet, einen Anspruch auf
Gewährung von Leistungen verleiht. Der Betroffene muss
folglich alle in den internen Rechtsvorschriften dieses Staats
aufgestellten - formellen und materiellen -
Anspruchsvoraussetzungen erfüllen, zu denen gegebenenfalls
auch die Voraussetzung gehören kann, dass ein Antrag auf
Gewährung dieser Leistungen gestellt wird (EuGH-Urteil
Schwemmer, EU:C:2010:605 = SIS 10 33 42, Rz 53).
|
|
|
36
|
Zum einen betraf diese Entscheidung aber nicht
den Fall, dass der Antragsteller in beiden Mitgliedstaaten einen
Antrag auf Familienleistungen gestellt hat. Zum anderen erging
diese Entscheidung noch zur Regelung des Art. 10 der VO (EWG) Nr.
574/72 des Rates vom 21.3.1972 über die Durchführung der
VO (EWG) Nr. 1408/71 über die Anwendung der Systeme der
sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie
deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu-
und abwandern. Im zeitlichen Anwendungsbereich dieser Regelung galt
aber noch nicht eine Regelung wie die des Art. 68 Abs. 3 Buchst. b
der VO Nr. 883/2004, die dazu führt, dass ohnehin bereits die
Antragstellung in einem Mitgliedstaat die entsprechende formelle
Anspruchsvoraussetzung im anderen Mitgliedstaat wahrt.
Entsprechendes gilt für den Hinweis des BFH in den Urteilen
vom 5.9.2013 XI R 52/10 (BFH/NV 2014, 33 = SIS 13 32 91, Rz 43) und
vom 18.7.2013 III R 51/09 (BFHE 242, 222, BStBl II 2016, 947 = SIS 13 28 37, Rz 24). Soweit der EuGH im Urteil Trapkowski vom
22.10.2015 C-378/14 (EU:C:2015:720 = SIS 15 28 09, Rz 32) ebenfalls
auf diese Aussage aus dem Urteil Schwemmer Bezug nimmt, betraf dies
hingegen - wie sich aus dem Vorlagebeschluss des Senats vom
8.5.2014 III R 17/13 (BFHE 245, 522, BStBl II 2015, 329 = SIS 14 20 92, Rz 1) ergibt - nicht den Fall einer fehlenden formellen,
sondern den Fall einer - in Form der Überschreitung der
Einkommensgrenze - fehlenden materiellen Voraussetzung des
Anspruchs auf Familienleistungen.
|
|
|
37
|
dd) Übertragen auf die Verhältnisse
des Streitfalls bedeutet dies, dass die deutsche Familienkasse
nicht zu einer Antragsweiterleitung an die Familienkasse in
Großbritannien verpflichtet ist, wenn sie davon ausgehen
kann, dass bereits ein Antrag auf Familienleistungen im vorrangig
zuständigen Mitgliedstaat gestellt wurde. Hierfür
könnten nach Aktenlage die entsprechenden Angaben des
Klägers zum Vorliegen eines Verfahrens auf Gewährung von
Familienleistungen in Großbritannien in den
Kindergeldanträgen vom 25.8.2011 und 6.3.2012, das Schreiben
der HM Revenue vom 5.12.2012 und die Angaben des Klägers im
Fragebogen vom 2.5.2013 sprechen.
|
|
|
38
|
ee) Im Übrigen könnte sich der Senat
auch nicht der Auffassung anschließen, dass die Verletzung
einer Verfahrensvorschrift zur Begründung eines materiellen
Anspruchs führen kann. Denn dies liefe auf die Anerkennung
eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs hinaus, dessen
Geltung der Senat für das Kindergeldrecht nach den
§§ 62 ff. EStG in ständiger Rechtsprechung abgelehnt
hat (Senatsurteil vom 9.2.2012 III R 68/10, BFHE 236, 421, BStBl II
2012, 686 = SIS 12 11 05, Rz 14 f., m.w.N.).
|
|
|
39
|
3. Die Übertragung der Kostenentscheidung
auf das FG folgt aus § 143 Abs. 2 FGO.
|