1
|
I. Der in der Bundesrepublik Deutschland
(Deutschland) wohnende Kläger und Revisionsbeklagte
(Kläger) ist von seiner früheren Ehefrau, die zusammen
mit dem im April 2000 geborenen gemeinsamen Sohn in Polen lebt,
geschieden. Er bezog im streitigen Zeitraum (Januar 2011 bis
Oktober 2012) zunächst Arbeitslosengeld. Von November 2011 bis
zum 11.1.2012 sowie vom 1. bis zum 22.2.2012 war er in Deutschland
nichtselbständig beschäftigt, danach bezog er Leistungen
nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch. Die frühere Ehefrau
ging in Polen einer Erwerbstätigkeit nach. Sie hatte wegen der
nach polnischem Recht bestehenden Einkommensgrenze keinen Anspruch
auf polnische Familienleistungen für den hier streitigen
Zeitraum. Einen Antrag auf Familienleistungen nach deutschem oder
polnischen Recht hat sie nicht gestellt.
|
|
|
2
|
Im August 2012 beantragte der Kläger
Kindergeld für seinen Sohn. Die Beklagte und
Revisionsklägerin (Familienkasse) lehnte den Antrag mit
Bescheid vom 3.9.2012 ab, da die Kindsmutter vorrangig zum Bezug
von Kindergeld nach deutschem Recht berechtigt sei. Der dagegen
gerichtete Einspruch hatte keinen Erfolg (Einspruchsentscheidung
vom 18.10.2012).
|
|
|
3
|
Das Finanzgericht (FG) gab der
anschließend erhobenen Klage statt. Es verpflichtete die
Familienkasse, Kindergeld für den Sohn ab Januar 2011 zu
gewähren. Es war der Ansicht, der Kläger habe einen
Kindergeldanspruch nach deutschem Recht. Er habe seinen Wohnsitz in
Deutschland, sein Kind lebe in einem Land der Europäischen
Union. Für den Zeitraum seiner nichtselbständigen
Beschäftigung (November 2011 bis Februar 2012) ergebe sich die
Anwendbarkeit deutschen Rechts aus Art. 11 Abs. 1 und Abs. 3
Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 zur Koordinierung der
Systeme der sozialen Sicherheit - VO Nr. 883/2004 - (Amtsblatt der
Europäischen Union - ABlEU - 2004 Nr. L 166, S. 1), für
die übrige Zeit aus Art. 11 Abs. 1 und Abs. 3 Buchst. e der VO
Nr. 883/2004. Dem stehe nicht entgegen, dass der Sohn in den
Haushalt der Kindsmutter aufgenommen sei. Eine Anspruchskonkurrenz
nach Art. 68 der VO Nr. 883/2004 bestehe nicht, da die Kindsmutter
wegen des Überschreitens der nach polnischem Recht
maßgeblichen Einkunftsgrenze keinen Anspruch auf polnische
Familienleistungen habe. Die Vorschrift des § 64 Abs. 2 Satz 1
des Einkommensteuergesetzes (EStG) sei nicht einschlägig, weil
die Kindsmutter selbst nicht die Anspruchsvoraussetzungen nach
§§ 62 ff. EStG erfülle. Aus Art. 60 Abs. 1 Satz 2
der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments
und des Rates vom 16.9.2009 zur Festlegung der Modalitäten
für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004
über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit -
VO Nr. 987/2009 - (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) ergebe sich keine
andere Beurteilung. Nach der darin enthaltenen Fiktion sei die
Familie so zu behandeln, als habe sie ihren Wohnsitz in
Deutschland. Dadurch könnten jedoch keine Rechte Dritter
begründet werden, durch die Rechte des Klägers
geschmälert oder ausgeschlossen würden. Die Vorschrift
des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 solle nur den
Rechtsverlust einer aus dem Ausland zugewanderten Person
verhindern. Der Anspruch der im Inland lebenden Person könne
dadurch jedoch nicht begrenzt oder ausgeschlossen werden.
|
|
|
4
|
Zur Begründung der Revision trägt
die Familienkasse vor, Art. 11 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 bestimme,
dass Personen, für die die Verordnung gelte, den
Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats unterlägen. Nach
§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG werde Kindergeld bei mehreren
Berechtigten demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt
aufgenommen habe. Gemäß Art. 67 Satz 1 der VO Nr.
883/2004 habe eine Person auch für Familienangehörige,
die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch nach den
Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die
Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnten.
Ergänzend bestimme Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009,
dass bei der Anwendung von Art. 67 und Art. 68 der VO Nr. 883/2004,
insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines
Leistungsanspruchs anbelange, die Situation der gesamten Familie in
einer Weise zu berücksichtigen sei, als würden alle
beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden
Mitgliedstaats fallen und dort wohnen. Damit sei nicht nur
geregelt, dass Familienleistungen auch für
Familienangehörige zu zahlen seien, die in anderen
Mitgliedstaaten lebten (Ausschluss von Wohnsitzklauseln), sondern
auch, dass die in anderen Mitgliedstaaten vorliegenden
Tatbestände so zu behandeln seien, als lägen sie im
zuständigen Mitgliedstaat vor (Sachverhaltsgleichstellung,
vgl. Art. 5 der VO Nr. 883/2004). Kindergeld könne somit nur
demjenigen gewährt werden, der nach den nationalen
Vorschriften vorrangig Berechtigter wäre, wenn sich alle
Beteiligten im Inland aufhielten. Im vorliegenden Fall sei deshalb
gemäß Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 zu
unterstellen, dass auch die Kindsmutter mit dem Kind in Deutschland
lebe. Dann wäre sie jedoch gemäß § 64 Abs. 2
Satz 1 EStG vorrangig kindergeldberechtigt, da sie das Kind in
ihren Haushalt aufgenommen habe. Ein gemeinsamer Familienhaushalt
mit dem Kläger bestehe nicht, so dass für eine
Berechtigtenbestimmung nach § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG kein Raum
bleibe. Das Kindergeld könne daher gemäß § 64
Abs. 1, Abs. 2 EStG nicht an den Kindsvater ausgezahlt
werden.
|
|
|
5
|
Auch entspreche es der ständigen
Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH),
dem Elternteil das Kindergeld zu zahlen, der nach den nationalen
Vorschriften der Kindergeldberechtigte sei, auch wenn dieser selbst
nicht den deutschen Rechtsvorschriften unterliege. So habe der EuGH
in der Rechtssache Hoever und Zachow mit Urteil vom 10.10.1996
C-245/94 und C-312/94 (Slg. 1996, I-4895) entschieden, dass der
Ehegatte eines Arbeitnehmers, der den Rechtsvorschriften eines
Mitgliedstaats (des Beschäftigungsstaates) unterliege und mit
seiner Familie in einem anderen Mitgliedstaat lebe, im
Beschäftigungsstaat Anspruch auf Familienleistungen geltend
machen könne. Ansonsten wäre der Anspruch auf
Erziehungsgeld daran gescheitert, dass keiner der Ehegatten
sämtliche Anspruchsvoraussetzungen in seiner Person
erfüllt habe. In der Entscheidung in der Rechtssache Dodl und
Oberhollenzer vom 7.6.2005 C-543/03 (Slg. 2005, I-5049, Rdnr. 61
und 62) habe der EuGH hervorgehoben, dass der Umstand, dass der
Vater eines Kindes nicht die nach den deutschen Rechtsvorschriften
vorgesehenen Anspruchsvoraussetzungen erfüllte, für die
Anwendung des Art. 10 Abs. 1 Buchst. b lit. i der Verordnung Nr.
574/72 des Rates vom 21.3.1972 über die Durchführung der
VO Nr. 1408/71 irrelevant sei. Es sei nicht erforderlich, dass die
Erwerbstätigkeit von der Person ausgeübt werde, die
persönlich Anspruch auf Familienleistungen habe. Es
genüge, dass der Anspruch auf Leistungen in diesem Staat
für einen Elternteil, hier die Mutter, erworben werde. Unter
Berufung auf diese Entscheidung habe der EuGH in der Rechtssache
Weide vom 7.7.2005 C-153/03 (Slg. 2005, I-6017, Rdnr. 32 f.)
entschieden, dass eine in Luxemburg vorgesehene Erziehungszulage
auch dann bis zur Höhe des im Wohnmitgliedstaat (Deutschland)
vorgesehenen Erziehungsgelds ausgesetzt werde, wenn dieses dem zum
Bezug der luxemburgischen Erziehungszulage Berechtigten und nicht
dessen Ehegatten geschuldet werde. Augenscheinlich gehe der EuGH
davon aus, dass nicht nur zwischen der vorrangigen oder
nachrangigen Zuständigkeit der beteiligten Mitgliedstaaten zu
unterscheiden sei, sondern auch danach, welcher Elternteil
tatsächlich Anspruch auf die jeweilige Familienleistung habe.
In Fortführung dieser Rechtsprechung habe der EuGH in der
Rechtssache Slanina durch Urteil vom 26.11.2009 C-363/08 (Slg.
2009, I-11111 = SIS 10 02 36) entschieden, dass grundsätzlich
auch der im Ausland lebende Elternteil die Ansprüche auf
Familienleistungen im Inland geltend machen könne. Aus dieser
Entscheidung folge, übertragen auf § 64 EStG, dass
derjenige Elternteil, der der vorrangig Kindergeldberechtigte
wäre, wenn er in Deutschland leben würde, diesen Anspruch
auch dann geltend machen könne, wenn er in einem anderen
Mitgliedstaat lebe. Hierbei könne es nicht darauf ankommen, ob
zuvor bereits ein Anspruch in Deutschland bestanden habe und nun
nur wegen eines Umzugs in einen anderen Mitgliedstaat in Frage
stehe. Vielmehr sei die Situation der Familie für die
Festsetzung von Kindergeld von Anfang an unter Einbeziehung des in
einem anderen Mitgliedstaat zusammen mit dem Kind lebenden
Elternteils zu beurteilen. Grund für die Regelung des §
64 Abs. 2 Satz 1 EStG sei, dass nach allgemeiner Lebenserfahrung
derjenige, der das Kind in seiner Obhut habe, es betreue und
erziehe, die höchste Unterhaltslast trage. Dem sei auch bei
grenzüberschreitenden Sachverhalten Rechnung zu tragen. Zudem
könnten dem Kind erhebliche Nachteile entstehen, wenn das
Kindergeld grundsätzlich an den in Deutschland wohnhaften
Elternteil ausgezahlt werde. Zwar bestehe die Möglichkeit
einer Abzweigung, diese sei jedoch nach Art. 68a der VO Nr.
883/2004 mit einem zusätzlichen und in der Regel aufwendigen
Verwaltungsverfahren verbunden. Diese Nachteile könnten
vermieden werden, wenn das Kindergeld an die vorrangig berechtigte
Person nach Art. 64 Abs. 2 Satz 1 EStG gezahlt werde.
|
|
|
6
|
Die Familienkasse beantragt, das
angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
|
|
|
7
|
Der Kläger beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
|
|
|
8
|
Er hält die Entscheidung des FG
für zutreffend.
|
|
|
9
|
II. Der Senat setzt das Revisionsverfahren
gemäß § 121 i.V.m. § 74 der
Finanzgerichtsordnung aus und legt dem EuGH gemäß Art.
267 Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der
Europäischen Union die im Leitsatz bezeichneten Fragen zur
Vorabentscheidung vor. Die Entscheidung über den Streitfall
hängt von der Beantwortung der vorgelegten Fragen ab.
|
|
|
10
|
1. Zur ersten Vorlagefrage:
|
|
|
11
|
a) Nach deutscher Rechtslage haben
freizügigkeitsberechtigte Personen mit Wohnsitz oder
gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland nach § 62 Abs. 1
Nr. 1 EStG Anspruch auf Kindergeld für Kinder, die in
Deutschland, in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union
oder in einem EWR-Staat ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen
Aufenthalt haben (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG). Dieser
Kindergeldanspruch steht in erster Linie den Eltern für Kinder
zu, die mit ihnen im ersten Grad verwandt sind (§ 63 Abs. 1
Satz 1 Nr. 1, § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG). Darüber hinaus
können auch Pflegeelternteile, der Ehegatte oder
gleichgeschlechtliche Lebenspartner des Elternteils oder
Großelternteile anspruchsberechtigt sein. Nach § 64 Abs.
1 EStG wird das Kindergeld nur einem Berechtigten gezahlt, d.h. in
der Regel einem der beiden Elternteile. Bei einem gemeinsamen
Haushalt bestimmen die Eltern untereinander den Berechtigten
(§ 64 Abs. 2 Satz 2 EStG). Leben die Eltern in verschiedenen
Haushalten, dann wird das Kindergeld an den Elternteil gezahlt, der
das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz
1 EStG). Eine Aufteilung des in einem Betrag auszuzahlenden
Kindergelds auf mehrere Berechtigte ist im deutschen Recht nicht
vorgesehen. Aus deutscher Sicht muss der Kindergeldberechtigte
eindeutig bestimmbar sein, weil die Zahlung an einen nicht
Berechtigten die Familienkassen nicht von ihrer
Zahlungsverpflichtung befreit. Die Frage, wer
Kindergeldberechtigter ist, darf daher nicht offenbleiben. Bei
ausschließlicher Anwendbarkeit deutschen Rechts wäre das
Kindergeld im Streitfall an den Kläger zu zahlen.
|
|
|
12
|
b) Der nach deutschem Recht zunächst
begründete Kindergeldanspruch des Klägers könnte
wegen der Anwendbarkeit von Unionsrecht entfallen. Nach Art. 2 Abs.
1 der VO Nr. 883/2004 gilt die Verordnung für
Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, Staatenlose und
Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die
die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten
oder galten, sowie für ihre Familienangehörigen und
Hinterbliebenen.
|
|
|
13
|
c) Der Umstand, dass die geschiedene Ehefrau
des Klägers keinen Anspruch auf Familienleistungen nach
polnischem Recht hat, steht nach Ansicht des Senats der Anwendung
der VO Nr. 883/2004 nicht entgegen, obwohl im Streitfall nicht die
Familienleistungen verschiedener Mitgliedstaaten zu koordinieren
sind. So hat der EuGH in der Rechtssache Schwemmer
Koordinierungsrecht angewandt, obwohl wegen der im Ausland
(Schweiz) fehlenden Antragstellung dort kein Anspruch auf
Familienleistungen bestand und somit nicht die Familienleistungen
verschiedener Staaten zu koordinieren waren (EuGH-Urteil vom
14.10.2010 C-16/09, Slg. 2010, I-9717 = SIS 10 33 42).
|
|
|
14
|
d) Zum sachlichen Geltungsbereich der
Verordnung gehören unter anderem Familienleistungen (Art. 3
Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004), somit auch das nach den
Vorschriften der §§ 62 ff. EStG zu gewährende
deutsche Kindergeld.
|
|
|
15
|
e) Zuständig für die Erbringung von
Familienleistungen gegenüber dem Kläger ist nach Art. 11
Abs. 3 der VO Nr. 883/2004 Deutschland, ohne dass zwischen den
Zeiten zu unterscheiden wäre, in denen der Kläger
nichtselbständig beschäftigt und in denen er arbeitslos
war.
|
|
|
16
|
f) Nach Art. 7 der VO Nr. 883/2004
dürfen, sofern in der Verordnung nichts anderes bestimmt ist,
Geldleistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer
Mitgliedstaaten oder nach dieser Verordnung zu zahlen sind, nicht
aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen
gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, dass der Berechtigte
oder seine Familienangehörigen in einem anderen als dem
Mitgliedstaat wohnt bzw. wohnen, in dem der zur Zahlung
verpflichtete Träger seinen Sitz hat. Von dieser sog.
Exportpflicht sind Familienleistungen nicht ausgenommen, da sie
nicht in Anhang X zur VO Nr. 883/2004 aufgeführt sind (s. Art.
70 Abs. 2 Buchst. c, Abs. 4 der VO Nr. 883/2004).
|
|
|
17
|
g) In Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 ist
vorgesehen, dass eine Person auch für Familienangehörige,
die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf
Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen
Mitgliedstaats hat, als ob die Familienangehörigen in diesem
Mitgliedstaat wohnen würden.
|
|
|
18
|
aa) Nach Art. 1 Buchst. i Nr. 1 lit. i der VO
Nr. 883/2004 ist Familienangehöriger jede Person, die in den
Rechtsvorschriften, nach denen die Leistungen gewährt werden,
als Familienangehöriger bestimmt oder anerkannt oder als
Haushaltsangehöriger bezeichnet wird. Es obliegt somit dem
zuständigen Mitgliedstaat, die Eigenschaft als
Familienangehöriger zu bestimmen.
|
|
|
19
|
bb) Die Vorschriften der §§ 62 ff.
EStG enthalten keine ausdrückliche Bestimmung darüber,
wer Familienangehöriger ist. Sie regeln, für welche
Kinder Kindergeld gewährt wird und welche Person
anspruchsberechtigt ist. Darauf, ob die Eltern verheiratet sind
oder nicht, kommt es nach deutschem Recht nicht an. Wegen dieser
eigenen Anspruchsberechtigung sind die Eltern eines Kindes im
Hinblick auf das nach §§ 62 ff. EStG zu gewährende
Kindergeld auch dann Familienangehörige, wenn sie nicht (mehr)
verheiratet sind.
|
|
|
20
|
cc) In der Rechtssache Slanina (EuGH-Urteil in
Slg. 2009, I-11111), in der es darum ging, ob eine zusammen mit dem
Kind in das EU-Ausland ausgewanderte Person einen Anspruch auf
Familienleistungen geltend machen kann, der nach dem Recht des
früheren Wohnstaats an den dortigen Mittelpunkt der
Lebensinteressen anknüpft, hat der EuGH darauf abgestellt, ob
das Kind in den persönlichen Anwendungsbereich der damals
einschlägigen VO (EG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14.6.1971
über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf
Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu-
und abwandern, fällt. Warum es darauf ankommen soll, geht aus
der Entscheidung des EuGH nicht hervor. Im Streitfall ist der in
Polen lebende Sohn des Klägers nach § 32 Abs. 1 Nr. 1
EStG dessen Familienangehöriger. Möglicherweise
genügt dies dem EuGH, um den persönlichen
Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004 auf die geschiedene Ehefrau
des Klägers zu erstrecken.
|
|
|
21
|
h) Nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr.
987/2009 ist bei der Anwendung von Art. 67 und Art. 68 der VO Nr.
883/2004, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung
eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten
Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden
alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des
betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen. Die genannte
Vorschrift gilt somit auch dann, wenn nur Art. 67 der VO Nr.
883/2004 zur Anwendung kommt. Die letztgenannte Vorschrift ist nach
ihrem Wortlaut anwendbar, und zwar in Bezug auf den Kläger.
Allerdings wird zu Art. 67 der VO Nr. 883/2004 auch die Auffassung
vertreten, dass die Regelung nicht die Funktion habe, dem
Familienangehörigen einer im Inland (Deutschland) lebenden
Person einen eigenen Anspruch auf Kindergeld nach deutschem Recht
einzuräumen (Urteil des FG Rheinland-Pfalz vom 23.3.2011 2 K
2248/10, EFG 2011, 1323 = SIS 11 20 86).
|
|
|
22
|
aa) Da die geschiedene Ehefrau als
Familienangehörige anzusehen ist, muss - bei Anwendbarkeit des
Art. 67 der VO Nr. 883/2004 - unterstellt werden, dass alle
beteiligten Personen in Deutschland wohnen (Art. 60 Abs. 1 Satz 2
der VO Nr. 987/2009). Wegen der Ehescheidung kann im Streitfall
allerdings nicht fingiert werden, dass beide Elternteile und der
Sohn in einem gemeinsamen Haushalt leben. Vielmehr ist zu
unterstellen, dass die frühere Ehefrau des Klägers
zusammen mit dem Sohn in einem eigenen Haushalt lebt, so wie dies
in Polen der Fall ist. Bei dieser Sichtweise könnte § 64
Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 EStG zur Anwendung kommen mit der Folge,
dass das Kindergeld dem Elternteil gezahlt wird, der das Kind in
seinen Haushalt aufgenommen hat. Bei einem fingierten Wohnsitz der
geschiedenen Ehefrau in Deutschland würde der Anspruch auf
Kindergeld somit ihr zustehen.
|
|
|
23
|
bb) Sollte die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz
2 der VO Nr. 987/2009 einschlägig sein, so wäre
möglicherweise danach zu unterscheiden, ob Eltern eines
Kindes, für das Kindergeld begehrt wird, trotz der -
insbesondere durch eine Erwerbstätigkeit bedingten -
räumlichen Trennung eine Gemeinschaft bilden. Ist dies der
Fall, so ist zu fingieren, dass bei einem unterstellten Wohnsitz
des anderen Elternteils und des Kindes ein gemeinsamer Haushalt in
Deutschland besteht, was zur Folge hätte, dass die Elternteile
den Kindergeldberechtigten untereinander bestimmen könnten.
Stellt in einem derartigen Fall der im Inland lebende Elternteil
einen Antrag auf Kindergeld nach deutschem Recht, erhält er
nur dann Kindergeld, wenn der andere Elternteil seiner vorrangigen
Berechtigung zustimmt. Bei Eltern, die keine Gemeinschaft bilden,
wäre dagegen - wie ausgeführt - zu fingieren, dass der im
Ausland lebende Elternteil in Deutschland zusammen mit dem Kind in
einer eigenen Wohnung lebt, was zur Folge hätte, dass nach
deutschem Recht nur dieser Elternteil das Kindergeld beanspruchen
könnte.
|
|
|
24
|
i) Eine Auslegung der Art. 7 und 67 der VO Nr.
883/2004 und des Art. 60 der VO Nr. 987/2009 dahingehend, dass dem
im Ausland mit dem Kind lebenden Elternteil der Anspruch auf
Kindergeld nach deutschem Recht zusteht, scheint in Einklang zu
stehen mit dem EuGH-Urteil in der Rechtssache Slanina in Slg. 2009,
I-11111. Zwar ist in dieser Entscheidung die Rede davon, dass die
in das Ausland verzogene Person den Anspruch auf Familienleistungen
nach dem Recht des Herkunftslands
„beibehält“. Allerdings hat der EuGH in
dieser Rechtssache einen Anspruch auf Familienleistungen nach
österreichischem Recht auch für Zeiträume bejaht,
die dem Wegzug der Anspruchsinhaberin nachfolgten. Es kann somit
nicht entscheidungserheblich sein, ob der zusammen mit dem Kind im
Ausland lebende Elternteil schon immer dort gewohnt hat oder erst
später dorthin verzogen ist, nachdem er sich von dem im Inland
lebenden anderen Elternteil getrennt hatte.
|
|
|
25
|
j) Gegen eine Auslegung des Art. 60 Abs. 1
Satz 2 der VO Nr. 987/2009 dahingehend, dass der nach deutschem
Recht begründete Anspruch des Klägers durch die Anwendung
von Unionsrecht entfällt, könnte allerdings sprechen,
dass Art. 68a der VO Nr. 883/2004 die Möglichkeit vorsieht,
die Familienleistungen mit befreiender Wirkung an diejenige Person
zu zahlen, welche tatsächlich für das Kind sorgt. Durch
eine derartige Abzweigung wäre sichergestellt, dass die
Familienleistungen bei der Person ankommen, die durch
Unterhaltsaufwendungen belastet ist. Allerdings hat die
Familienkasse auf den erheblichen Verwaltungsaufwand hingewiesen,
der nach ihrer Ansicht mit einem Abzweigungsverfahren verbunden
ist.
|
|
|
26
|
2. Zur zweiten Vorlagefrage:
|
|
|
27
|
Sollte die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2
der VO Nr. 987/2009 anwendbar sein und die geschiedene Ehefrau
deshalb so zu behandeln sein, als würde sie mit dem Sohn in
einem gemeinsamen Haushalt in Deutschland leben, so stellt sich die
weitere Frage, ob die Vorschrift des Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der VO
Nr. 987/2009 anzuwenden ist. Hiernach hat der Mitgliedstaat, dessen
Rechtsvorschriften anzuwenden sind (hier: Deutschland), den vom
anderen Elternteil gestellten Kindergeldantrag „zu
berücksichtigen“, wenn die Person, die berechtigt
ist, den Anspruch auf die Familienleistungen zu erheben, dieses
Recht nicht wahrnimmt. Die Vorschrift geht offensichtlich von einem
Verhältnis von Vor- und Nachrangigkeit aus. Ein nachrangig
Anspruchsberechtigter soll berechtigt sein, Familienleistungen zu
beantragen, wenn der vorrangig Berechtigte dieses Recht nicht
wahrnimmt. Nach deutschem Recht hat jedoch bei getrennt lebenden
Eltern nur derjenige Elternteil, in dessen Haushalt das Kind lebt,
Anspruch auf Kindergeld. Der Elternteil, in dessen Haushalt das
Kind nicht aufgenommen ist, hat auch dann keinen Anspruch auf
Kindergeld, wenn der andere Elternteil, der das Kind in seinen
Haushalt aufgenommen hat, das Kindergeld nicht beantragt. Es stellt
sich somit die Frage, ob Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der VO Nr. 987/2009
insoweit zur Unanwendbarkeit des nationalen Rechts führt, das
die Anspruchsberechtigung von im Inland lebenden
Kindergeldberechtigten an die Haushaltsaufnahme des Kindes
knüpft. Möglicherweise lässt jedoch Art. 60 Abs. 1
Satz 3 der VO Nr. 987/2009 die ursprüngliche
Anspruchsberechtigung unberührt und führt lediglich zu
einem Wechsel der Antragsberechtigung. Dies hätte im
Streitfall zur Folge, dass der Antrag des Klägers auf
Kindergeld nach deutschem Recht bewirkt, dass das Kindergeld nicht
ihm, sondern der Ehefrau zu gewähren ist.
|
|
|
28
|
3. Zur dritten Vorlagefrage:
|
|
|
29
|
Sollte Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der VO Nr.
987/2009 dahin auszulegen sein, dass bei einer unterbliebenen
Antragstellung des mit dem Kind im EU-Ausland lebenden Elternteils
sowohl die Anspruchs- als auch die Antragsberechtigung auf den im
Inland lebenden Elternteil übergehen, so stellt sich die
Frage, nach welchem Zeitraum dies der Fall ist. Nach deutschem
Recht verjährt der Anspruch auf Kindergeld in vier Jahren.
Beantragt der im EU-Ausland lebende Elternteil das Kindergeld
zunächst nicht und wird dieses deshalb in Anwendung des Art.
60 Abs. 1 Satz 3 der VO Nr. 987/2009 dem im Inland lebenden
Elternteil ausgezahlt, so hätte dies wegen des Grundsatzes,
dass Kindergeld nur an einen (einzigen) Elternteil zu zahlen ist,
aus der Sicht der Familienkasse befreiende Wirkung gegenüber
dem im EU-Ausland lebenden Elternteil, dessen Anspruch auf
Kindergeld durch die Zahlung des Kindergeldes an den im Inland
lebenden Elternteil erloschen wäre.
|