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EuGH-Vorlage zum Rechnungsmerkmal "vollständige Anschrift" und zur Berücksichtigung des Gutglaubensschutzes beim Vorsteuerabzug

EuGH-Vorlage zum Rechnungsmerkmal "vollständige Anschrift" und zur Berücksichtigung des Gutglaubensschutzes beim Vorsteuerabzug: Dem EuGH werden folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: - 1. Enthält eine zur Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug nach Art. 168 Buchst. a i.V.m. Art. 178 Buchst. a MwStSystRL erforderliche Rechnung die "vollständige Anschrift" i.S. von Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL, wenn der leistende Unternehmer in der von ihm über die Leistung ausgestellten Rechnung eine Anschrift angibt, unter der er zwar postalisch zu erreichen ist, wo er jedoch keine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt? - 2. Steht Art. 168 Buchst. a i.V.m. Art. 178 Buchst. a MwStSystRL unter Beachtung des Effektivitätsgebots einer nationalen Praxis entgegen, die einen guten Glauben des Leistungsempfängers an die Erfüllung der Vorsteuerabzugsvoraussetzungen nur außerhalb des Steuerfestsetzungsverfahrens im Rahmen eines gesonderten Billigkeitsverfahrens berücksichtigt? Ist Art. 168 Buchst. a i.V.m. Art. 178 Buchst. a MwStSystRL insoweit berufbar? - Urt.; BFH 6.4.2016, XI R 20/14; SIS 16 13 89

Kapitel:
Unternehmensbereich > Umsatzsteuer > Vorsteuerabzug
Fundstellen
  1. BFH 06.04.2016, XI R 20/14
    DStR 2016 S. 1532
    BFHE 254 S. 152
    BFH/NV 2016 S. 1405

    Anmerkungen:
    M. Trinks in NWB 29/2016 S. 2160
    Treiber in DStR 27/2016 S. 1537
    JH in StuB 14/2016 S. 560
    B. Rätke in BBK 15/2016 S. 719
    M. Brill in DStZ 16/2016 S. 598
    W.T in UVR 9/2016 S. 261
    R. Weymüller in MwStR 16/2016 S. 668
    H. F. Lange in BFH/PR 10/2016 S. 314
    Spatscheck/Stenert in MwStR 22/2016 S. 895
Normen
[UStG] § 14 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1, § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
[AO 1977] § 163, § 227
[RL 2006/112/EG] Art. 168 Buchst. a, Art. 178 Buchst. a, Art. 226 Nr. 5
Vorinstanz / Folgeinstanz:
  • nach: EuGH, 15.11.2017, SIS 17 20 47, EG, EU, Umsatzsteuer, Vorsteuerabzug, Rechnung, Name Anschrift, Briefkastenadresse, Internethandel, Vertrauensschutz, Erlass, Billigkeit, Gutglaubensschutz, Billigkeitsverfahren
Zitiert in... / geändert durch...
  • FG Münster 23.1.2024, SIS 24 09 73, Frage eines Erstattungsanspruchs gegen die Finanzbehörde (sog. Reemtsma-Anspruch) von zu viel gezahlter M...
  • FG des Saarlandes 13.11.2023, SIS 24 00 16, Die Festsetzung von Nachzahlungszinsen zur Umsatzsteuer verstößt nicht gegen Unionsrecht: 1. Die Vorschri...
  • OFD Karlsruhe 14.4.2023, SIS 23 07 55, Vorlagen an den EuGH, die seit dem 1.1.2009 ergangen sind: Die OFD Karlsruhe hat ihre Übersicht der seit ...
  • BFH 18.11.2021, SIS 22 03 81, Umsatzsteuerpflicht eines Sportvereins bei Zuschüssen einer Gemeinde zur Bewirtschaftung der selbstgenutz...
  • BFH 20.10.2021, SIS 22 04 70, Versagung des Vorsteuerabzugs aus Altgoldlieferungen, Anforderungen an das "Wissenmüssen" des Steuerpflic...
  • OFD Karlsruhe 3.3.2021, SIS 21 03 65, Umsatzsteuer, EuGH-Vorlagen: Die OFD Karlsruhe hat ihre Übersicht der seit dem 1. Januar 2009 eingegangen...
  • FG Nürnberg 15.6.2020, SIS 20 09 70, Aufhebung oder Abänderung eines Steuerbescheids, wenn die angefochtene, nicht aber die ursprüngliche Steu...
  • FG Berlin-Brandenburg 5.2.2020, SIS 20 09 54, Vorlage zum EuGH, Az beim EuGH C-108/20, Auslegung des Begriffs "Lieferkette" im Zusammenhang mit der Ver...
  • BFH 15.10.2019, SIS 19 19 20, Anforderungen zur Leistungsbeschreibung und zum Leistungszeitpunkt für eine zum Vorsteuerabzug berechtige...
  • OFD Karlsruhe 13.8.2019, SIS 19 13 20, Umsatzsteuer, EuGH-Vorlagen: Die OFD Karlsruhe hat ihre Übersicht der seit dem 1. Januar 2009 eingegangen...
  • BFH 16.5.2019, SIS 19 08 97, AdV, Leistungsbeschreibung bei Waren im Niedrigpreissegment, kein Vorsteuerabzug aus Scheinlieferung, kei...
  • BFH 16.5.2019, SIS 19 10 14, AdV, Leistungsbeschreibung bei Waren im Niedrigpreissegment, kein Vorsteuerabzug aus Scheinlieferung, kei...
  • BFH 5.12.2018, SIS 18 22 05, Zum Rechnungsmerkmal "vollständige Anschrift" bei der Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug: 1. Für die ...
  • FG Nürnberg 15.8.2018, SIS 18 14 79, Voraussetzungen für eine nochmalige Entscheidung über die Aussetzung der Vollziehung auf Antrag eines Bet...
  • BFH 13.6.2018, SIS 18 13 91, Zum Rechnungsmerkmal "vollständige Anschrift" bei der Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug: 1. Die Ausü...
  • FG Bremen 6.6.2018, SIS 18 11 07, Vorsteuerabzug bei Zweifeln an der tatsächlichen Leistungserbringung durch den Rechnungsaussteller, kein ...
  • FG Nürnberg 12.4.2018, SIS 19 01 14, Vorliegen umsatzsteuerrechtlich relevanter Kommissionsgeschäfte bei Kfz-Handel unter Einschaltung von Exp...
  • FG Hamburg 16.1.2018, SIS 18 03 80, Versagung des Vorsteuerabzugs wegen Rechtsmissbrauchs, Kenntnis der Umsatzsteuerhinterziehungsabsicht des...
  • OFD Karlsruhe 31.1.2017, SIS 17 04 33, Umsatzsteuer, EuGH-Vorlagen: Die OFD Karlsruhe hat ihre Übersicht der seit dem 1. Januar 2009 ergangenen ...
  • FG Berlin-Brandenburg 27.1.2017, SIS 17 04 97, Rücknahme eines Antrags auf AdV: 1. Die Rücknahme eines Antrags auf Aussetzung der Vollziehung (AdV) kann...
  • FG Bremen 26.1.2017, SIS 17 07 68, Kein Vorsteuerabzug aus einer von einem Rechnungsaussteller in der nicht existierenden Rechtsform der "UG...
  • BFH 7.12.2016, SIS 17 03 63, Guter Glaube an die Erfüllung der Vorsteuerabzugsvoraussetzungen: Der gute Glaube des Leistungsempfängers...
  • BFH 21.9.2016, SIS 16 25 98, EuGH-Vorlage zum Vorsteuerabzug aus Anzahlung für nicht geliefertes Blockheizkraftwerk: Dem EuGH werden f...
  • BFH 21.9.2016, SIS 16 26 04, EuGH-Vorlage zum Vorsteuerabzug und zur Berichtigung bei Anzahlungen: 1. Sind die Anforderungen an die Si...
  • BMF 13.9.2016, SIS 16 25 04, Anschrift des Leistungsempfängers in der Rechnung: Das Bundesfinanzministerium hat auf eine Anfrage der B...
  • FG Hamburg 12.9.2016, SIS 16 24 26, Vorsteuerabzug aus Rechnungen zu Eingangsleistungen: Es ist nach den Vorlagen des BFH vom 6.4.2016 (V R 2...
  • FG Berlin-Brandenburg 17.8.2016, SIS 16 22 25, Kein Vorsteuerabzug aus Scheinrechnungen im Billigkeitswege: 1. Ein Leistungsempfänger, dem keine Leistun...
  • FG Hamburg 29.7.2016, SIS 16 29 29, Umsatzsteuer, Einkommensteuer, Gewerbesteuer, Betriebsausgaben- und Vorsteuerabzug aus Scheinrechnungen: ...
  • FG Baden-Württemberg 21.4.2016, SIS 16 17 79, Angaben der Anschrift des leistenden Unternehmers in der Rechnung, keine Versagung des Vorsteuerabzugs be...
Fachaufsätze
  • LIT 03 21 76 -/-, MwStR 15/2016 S. 603: EuGH-Vorlage zum Rechnungsmerkmal "vollständige Anschrift" und zur Berücksichtigung des Gutglaubensschutz...
  • LIT 03 26 85 R. Spatscheck/J. Stenert, DStR 40/2016 S. 2313: Ist die bisherige Rechtsprechung zum Vorsteuerabzug europarechtswidrig? - Lit.; R. Spatscheck/J. Stenert,...

Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

 

1. Enthält eine zur Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug nach Art. 168 Buchst. a i.V.m. Art. 178 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem erforderliche Rechnung die „vollständige Anschrift“ i.S. von Art. 226 Nr. 5 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2008 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, wenn der leistende Unternehmer in der von ihm über die Leistung ausgestellten Rechnung eine Anschrift angibt, unter der er zwar postalisch zu erreichen ist, wo er jedoch keine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt?

2. Steht Art. 168 Buchst. a i.V.m. Art. 178 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem unter Beachtung des Effektivitätsgebots einer nationalen Praxis entgegen, die einen guten Glauben des Leistungsempfängers an die Erfüllung der Vorsteuerabzugsvoraussetzungen nur außerhalb des Steuerfestsetzungsverfahrens im Rahmen eines gesonderten Billigkeitsverfahrens berücksichtigt? Ist Art. 168 Buchst. a i.V.m. Art. 178 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem insoweit berufbar?

 

1

I. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens

 

 

2

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine im Dezember 2007 gegründete und sich seit 2015 in Liquidation befindende GmbH, handelte im Jahr 2008 (Streitjahr) mit Kfz. Alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer der GmbH war A, der die Klägerin nunmehr als Liquidator vertritt.

 

 

3

In ihrer Umsatzsteuererklärung für 2008 erklärte die Klägerin u.a. steuerfreie innergemeinschaftliche Kfz-Lieferungen und 122 von der D erworbene Fahrzeuge betreffende Vorsteuerbeträge in Höhe von ... EUR.

 

 

4

Das seinerzeit zuständige Finanzamt folgte den Angaben der Klägerin nicht und setzte die Umsatzsteuer für 2008 mit Bescheid vom 31.8.2010 entsprechend den Feststellungen von zwei Umsatzsteuer-Sonderprüfungen fest. Die als umsatzsteuerfrei erklärten innergemeinschaftlichen Kfz-Lieferungen nach Spanien (X) seien steuerpflichtig, weil die betreffenden Fahrzeuge tatsächlich nicht nach Spanien verbracht, sondern im Inland vermarktet worden seien. Die geltend gemachten Vorsteuerbeträge aus Rechnungen der D seien nicht abziehbar, weil es sich dabei um eine „Scheinfirma“ handele, die unter ihrer Rechnungsanschrift keinen Sitz gehabt habe.

 

 

5

Der Einspruch blieb ohne Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 19.11.2011).

 

 

6

Während des anschließenden Klageverfahrens wurde aufgrund eines Organisationsakts der Finanzverwaltung der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA - ) für die Besteuerung der Klägerin zuständig.

 

 

7

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage nur insoweit statt, als die Lieferung eines Porsche 997 S Cabrio besteuert worden war. Im Übrigen wies es die Klage als unbegründet ab.

 

 

8

Hinsichtlich der - was allein Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens ist - im Streit stehenden Vorsteuerbeträge stellte das FG u.a. fest, dass sich unter der von D in ihren Rechnungen angegebenen Anschrift zwar ihr statuarischer Sitz befunden habe, es sich hierbei jedoch um einen „Briefkastensitz“ gehandelt habe. Unter der betreffenden Anschrift sei D lediglich postalisch erreichbar gewesen. Dort habe sich u.a. ein Buchhaltungsbüro befunden, das die Post für D entgegengenommen und für sie Buchhaltungsarbeiten erledigt habe. Geschäftliche Aktivitäten der D hätten dort nicht stattgefunden. D habe ab dem 1.10.2007 Räumlichkeiten (zwei Büroräume, eine Einbauküche, zwei Toiletten und eine Lagerfläche) unter einer anderen Anschrift angemietet; es spreche einiges dafür, dass sich dort auch die von D gehandelten Fahrzeuge befunden hätten.

 

 

9

Es komme nicht darauf an, ob die Klägerin auf die Richtigkeit der in den Rechnungen der D angegebenen Anschrift habe vertrauen dürfen. Denn § 15 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) sehe den Schutz des guten Glaubens an die Erfüllung der Vorsteuerabzugsvoraussetzungen nicht vor, weshalb Vertrauensschutzgesichtspunkte nicht bei der Steuerfestsetzung, sondern ggf. nur im Rahmen einer Billigkeitsmaßnahme gemäß §§ 163, 227 der Abgabenordnung (AO) berücksichtigt werden könnten.

 

 

10

Die Vorentscheidung ist in EFG 2014, 1526 = SIS 14 20 64 veröffentlicht.

 

 

11

Mit ihrer Revision macht die Klägerin hinsichtlich des Vorsteuerabzugs aus den Rechnungen der D geltend, die Anschrift i.S. von § 14 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 UStG und i.S. von Art. 226 Nr. 5 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL) diene der Identifikation des Rechnungsausstellers. Sie setze (nur) postalische Erreichbarkeit voraus, die gegeben sei, wenn - wie hier - Schriftstücke zugestellt werden könnten. Davon gehe auch die Finanzverwaltung in Abschn. 14.5 Abs. 2 Satz 3 des Umsatzsteuer-Anwendungserlasses (UStAE) aus. Das FG habe dagegen rechtsfehlerhaft auf geschäftliche Aktivitäten des leistenden Unternehmers D unter der von ihm in seinen Rechnungen angegebenen Anschrift abgestellt.

 

 

12

Es sei für einen vorsteuerabzugsberechtigten Unternehmer, der grundsätzlich auf die Richtigkeit der Angaben des an ihn leistenden Unternehmers vertrauen dürfe, unzumutbar, wenn er prüfen müsse, ob bzw. inwieweit an der angegebenen Anschrift über die postalische Erreichbarkeit hinaus betriebliche Aktivitäten des leistenden Unternehmers stattfänden. D habe existiert, sei leistende Unternehmerin i.S. von § 2 UStG und unter der angegebenen Anschrift auch postalisch erreichbar gewesen. Die angegebene Anschrift werde auch nicht deshalb unzutreffend, weil der leistende Unternehmer - wie hier die D - auch unter einer weiteren Adresse erreichbar sei und dort betriebliche Aktivitäten entfalte.

 

 

13

Die Klägerin beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und den Umsatzsteuerbescheid 2008 vom 31.8.2010 dahingehend zu ändern, dass die Umsatzsteuer für 2008 wie erklärt festgesetzt wird.

 

 

14

Sinngemäß regt sie hilfsweise an, dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) die Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, ob „... unter den Umständen wie bei der D ... davon auszugehen (ist), dass sie an ihrem Firmensitz ... auch ihre Anschrift im Sinne der Mehrwertsteuersystemrichtlinie (Richtlinie 2006/112/EG) hatte“.

 

 

15

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

 

16

II. Zur Rechtslage nach nationalem Recht

 

 

17

1. Maßgebliche Vorschriften des nationalen Rechts

 

 

18

a) Der Unternehmer kann nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG die gesetzlich geschuldete Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen, die von einem anderen Unternehmer für sein Unternehmen ausgeführt worden sind, als Vorsteuer abziehen. Die Ausübung des Vorsteuerabzugs setzt nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 2 UStG voraus, dass der Unternehmer eine nach den §§ 14, 14a UStG ausgestellte Rechnung besitzt.

 

 

19

b) Eine solche Rechnung muss u.a. gemäß § 14 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 UStG den vollständigen Namen und die vollständige Anschrift des leistenden Unternehmers und des Leistungsempfängers enthalten.

 

 

20

Nach § 31 Abs. 2 der Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung ist den Anforderungen des § 14 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 UStG genügt, wenn sich auf Grund der in die Rechnung aufgenommenen Bezeichnungen der Name und die Anschrift sowohl des leistenden Unternehmers als auch des Leistungsempfängers eindeutig feststellen lassen.

 

 

21

c) Nach § 163 Satz 1 AO können Steuern niedriger festgesetzt werden und einzelne Besteuerungsgrundlagen, die die Steuern erhöhen, bei der Festsetzung der Steuer unberücksichtigt bleiben, wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. Die Entscheidung über die abweichende Festsetzung kann mit der Steuerfestsetzung verbunden werden (§ 163 Satz 3 AO).

 

 

22

Außerdem können die Finanzbehörden nach § 227 AO Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre; unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Beträge erstattet oder angerechnet werden.

 

 

23

2. Rechtliche Würdigung nach nationalem Recht

 

 

24

Die Klägerin ist nach nationalem Recht nicht zu dem von ihr geltend gemachten Vorsteuerabzug aus den Rechnungen der D berechtigt.

 

 

25

a) Fehlen die für den Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 2 i.V.m. §§ 14, 14a UStG erforderlichen Rechnungsangaben oder sind sie unzutreffend, besteht für den Leistungsempfänger kein Anspruch auf Vorsteuerabzug (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 17.12.2008 XI R 62/07, BFHE 223, 535, BStBl II 2009, 432 = SIS 09 07 00, unter II.2., Rz 21; vom 2.9.2010 V R 55/09, BFHE 231, 332, BStBl II 2011, 235 = SIS 10 36 34, Rz 12; vom 22.7.2015 V R 23/14, BFHE 250, 559, BStBl II 2015, 914 = SIS 15 19 48, Rz 22; jeweils m.w.N.).

 

 

26

b) Der V. Senat des BFH hat entschieden, dass das Merkmal „vollständige Anschrift“ i.S. von § 14 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 UStG nur die Angabe der zutreffenden Anschrift des leistenden Unternehmers erfüllt, unter der er seine wirtschaftlichen Aktivitäten entfaltet (vgl. BFH-Urteil in BFHE 250, 559, BStBl II 2015, 914 = SIS 15 19 48, Leitsatz 1 sowie Rz 25).

 

 

27

Das Urteil in BFHE 250, 559, BStBl II 2015, 914 = SIS 15 19 48 ist in einem Parallel-Verfahren einer „Schwester-GmbH“ der Klägerin ergangen. Es betrifft u.a. ebenfalls den Vorsteuerabzug aus Rechnungen der D und bestätigt die Versagung des Vorsteuerabzugs aus deren Rechnungen.

 

 

28

Die gegen dieses Urteil erhobene Verfassungsbeschwerde hat das Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen (vgl. Beschluss vom 13.2.2016 1 BvR 2419/15, nicht veröffentlicht ).

 

 

29

c) Danach ist die Klägerin hinsichtlich der in Rede stehenden Vorsteuerbeträge nicht im Besitz von zur Ausübung des Vor-steuerabzugs berechtigenden Rechnungen i.S. von § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 2 i.V.m. § 14 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 UStG. D hatte unter der in ihren Rechnungen angegebenen Anschrift keinerlei eigene geschäftliche (wirtschaftliche) Aktivitäten entfaltet.

 

 

30

d) Soweit es die Finanzverwaltung hinsichtlich der nach § 14 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 UStG erforderlichen Angabe der „vollständigen Anschrift“ des Leistungsempfängers in Abschn. 14.5 Abs. 2 Satz 3 UStAE ausreichen lässt, wenn in der Rechnung dessen Postfach oder Großkundenadresse „anstelle der Anschrift angegeben wird“, bindet diese Verwaltungsanweisung die Gerichte nicht (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 13.1.2011 V R 12/08, BFHE 232, 261, BStBl II 2012, 61 = SIS 11 06 14, Rz 68; vom 5.9.2013 XI R 7/12, BFHE 242, 399, BStBl II 2014, 37 = SIS 13 29 91, Rz 20, m.w.N.; vom 16.12.2015 XI R 28/13, zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt, BFH/NV 2016, 695 = SIS 16 04 57, Rz 63, m.w.N.). Sie betrifft überdies den Leistungsempfänger und nicht den leistenden Unternehmer.

 

 

31

e) Die Klägerin kann sich nach der Rechtsprechung des BFH im Rahmen des vorliegenden Steuerfestsetzungsverfahrens nicht auf den Schutz ihres guten Glaubens an die Richtigkeit der Rechnungsangaben der D berufen.

 

 

32

aa) Das nationale Recht (§ 15 UStG) sieht den Schutz des guten Glaubens an die Erfüllung der Vorsteuerabzugsvoraussetzungen im Steuerfestsetzungsverfahren nicht vor.

 

 

33

bb) Vertrauensschutz ist nach nationaler Rechtslage nicht im Rahmen der Steuerfestsetzung nach §§ 16, 18 UStG, sondern nur im Rahmen eines gesonderten Billigkeitsverfahrens gemäß §§ 163, 227 AO aufgrund besonderer Verhältnisse des Einzelfalls zu gewähren (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Urteile vom 30.4.2009 V R 15/07, BFHE 225, 254, BStBl II 2009, 744 = SIS 09 21 18, unter II.3.a, Rz 46; vom 8.7.2009 XI R 51/07, BFH/NV 2010, 256 = SIS 10 01 88, unter II.2., Rz 17; vom 12.8.2009 XI R 48/07, BFH/NV 2010, 259 = SIS 10 01 90, unter II.1.c bb, Rz 40; in BFHE 231, 332, BStBl II 2011, 235 = SIS 10 36 34, Rz 16 f.; in BFHE 250, 559, BStBl II 2015, 914 = SIS 15 19 48, Rz 31).

 

 

34

cc) Macht der Steuerpflichtige Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes bereits im Festsetzungsverfahren - vor Bekanntgabe der Steuerfestsetzung - geltend, ist die Entscheidung über die Billigkeitsmaßnahme gemäß § 163 Satz 3 AO regelmäßig mit der Steuerfestsetzung zu verbinden (vgl. BFH-Urteil in BFHE 250, 559, BStBl II 2015, 914 = SIS 15 19 48, Rz 32, 46). Dies ist hier nicht der Fall.

 

 

35

III. Zur Anrufung des EuGH

 

 

36

Es ist aus den nachfolgenden Gründen fraglich, ob die Versagung des Vorsteuerabzugs in einem Fall wie diesem gegen Unionsrecht verstößt.

 

 

37

1. Maßgebliche Vorschriften des Unionsrechts

 

 

38

a) Der Steuerpflichtige, der Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet, ist nach Art. 168 Buchst. a der im Streitjahr 2008 maßgeblichen Fassung der MwStSystRL berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden, abzuziehen.

 

 

39

b) Um das Recht auf Vorsteuerabzug nach Art. 168 Buchst. a MwStSystRL in Bezug auf die Lieferung von Gegenständen oder das Erbringen von Dienstleistungen ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige nach Art. 178 Buchst. a dieser Richtlinie eine gemäß Titel XI Kap. 3 Abschn. 3 bis 6 (Art. 220 bis Art. 236 sowie Art. 238, 239 und 240 MwStSystRL) ausgestellte Rechnung besitzen.

 

 

40

c) Eine derartige Rechnung muss u.a. gemäß Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL den vollständigen Namen und die vollständige Anschrift des Steuerpflichtigen und des Erwerbers oder Dienstleistungsempfängers enthalten.

 

 

41

2. Zur ersten Vorlagefrage

 

 

42

Unionsrechtlich klärungsbedürftig ist nach Auffassung des Senats, ob für die in ausgestellten Rechnungen anzugebende „vollständige Anschrift“ des leistenden Unternehmers i.S. von Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL die Angabe einer Anschrift ausreicht, unter der dieser zwar postalisch zu erreichen ist, wo er jedoch keine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt.

 

 

43

a) Das Recht auf Vorsteuerabzug setzt auch unionsrechtlich neben den sonstigen Anforderungen als formelle Ausübungsvoraussetzung gemäß Art. 178 Buchst. a MwStSystRL den Besitz einer Rechnung voraus, die alle gemäß Titel XI Kap. 3 Abschn. 3 bis 6 (Art. 220 bis Art. 236 sowie Art. 238, 239 und 240 MwStSystRL) erforderlichen Angaben enthält (vgl. EuGH-Urteil Mahagebén und Dávid vom 21.6.2012 C-80/11 und C-142/11, EU:C:2012:373, UR 2012, 591 = SIS 12 19 39, Rz 52).

 

 

44

Dazu gehören gemäß Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL auch der vollständige Name und die vollständige Anschrift des Steuerpflichtigen. Dabei muss die Rechnung alle in Art. 226 MwStSystRL genannten Informationen enthalten (vgl. EuGH-Urteile Pannon Gép Centrum vom 15.7.2010 C-368/09, EU:C:2010:441, UR 2010, 693 = SIS 10 22 16, Rz 40 ff.; Dankowski vom 22.12.2010 C-438/09, EU:C:2010:818, UR 2011, 435 = SIS 11 01 66, Rz 29, zu der im Wesentlichen inhaltsgleichen Regelung in Art. 22 Abs. 3 Buchst. b der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17.5.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Richtlinie 77/388/EWG - ).

 

 

45

b) Der EuGH hat im Urteil Planzer Luxembourg vom 28.6.2007 C-73/06 (EU:C:2007:397, UR 2007, 654 = SIS 07 28 65) zum Sitz einer wirtschaftlichen Tätigkeit i.S. von Art. 1 Nr. 1 der Dreizehnten Richtlinie 86/560/EWG des Rates vom 17.11.1986 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Verfahren der Erstattung der Mehrwertsteuer an nicht im Gebiet der Gemeinschaft ansässige Steuerpflichtige (Richtlinie 86/560/EWG) entschieden, dass sich eine fiktive Ansiedlung in der Form, wie sie für eine „Briefkastenfirma“ oder für eine „Strohfirma“ charakteristisch sei, nicht als derartiger Sitz ansehen lasse (vgl. EuGH-Urteil Planzer Luxembourg, EU:C:2007:397, UR 2007, 654 = SIS 07 28 65, Rz 62, m.w.N.).

 

 

46

Er hat in diesem Urteil daran erinnert, dass die Berücksichtigung der wirtschaftlichen Realität ein grundlegendes Kriterium für die Anwendung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems ist (vgl. Urteil Planzer Luxembourg, EU:C:2007:397, UR 2007, 654 = SIS 07 28 65, Rz 43). Ein bloßer „Briefkastensitz“ bildet aber die wirtschaftliche Realität gerade nicht ab, sondern verschleiert sie (so BFH-Urteil in BFHE 250, 559, BStBl II 2015, 914 = SIS 15 19 48, Rz 28).

 

 

47

c) Der Senat hält es nach Ergehen des EuGH-Urteils PPUH Stehcemp vom 22.10.2015 C-277/14 (EU:C:2015:719, UR 2015, 917 = SIS 15 25 75) für zweifelhaft, ob diese Auslegung des Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL der Auffassung des EuGH entspricht.

 

 

48

aa) Der EuGH hat in seinem Urteil PPUH Stehcemp (EU:C:2015:719, UR 2015, 917 = SIS 15 25 75) u.a. festgestellt, dass ein etwaiger Verstoß des Lieferers der Gegenstände gegen die Pflicht, die Aufnahme seiner steuerbaren Tätigkeit anzuzeigen, das Abzugsrecht des Empfängers der gelieferten Gegenstände in Bezug auf die dafür entrichtete Mehrwertsteuer nicht in Frage stellen könne. Selbst wenn der Lieferer der Gegenstände ein Steuerpflichtiger sei, der nicht für mehrwertsteuerliche Zwecke registriert sei, stehe dem Empfänger daher das Recht zum Vorsteuerabzug zu, wenn die Rechnungen über die gelieferten Gegenstände alle nach Art. 22 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 77/388/EWG - nunmehr Art. 226 MwStSystRL - vorgeschriebenen Angaben enthielten, insbesondere diejenigen, die zur Bestimmung des Ausstellers der Rechnungen und der Art der Gegenstände erforderlich seien (vgl. EuGH-Urteil PPUH Stehcemp, EU:C:2015:719, UR 2015, 917 = SIS 15 25 75, Rz 40, m.w.N.).

 

 

49

(1) In Bezug auf den Lieferer („Finnet“) erschien dem EuGH in seinem Urteil PPUH Stehcemp eine wirtschaftliche Tätigkeit nicht deshalb ausgeschlossen, weil nach Ansicht des vorlegenden Gerichts der heruntergekommene Zustand des Gebäudes, in dem sich der Gesellschaftssitz von „Finnet“ befinde, keinerlei wirtschaftliche Tätigkeit gestatte, „da eine solche Feststellung nicht ausschließt, dass diese Tätigkeit an anderen Orten als dem Gesellschaftssitz ausgeführt wurde“ (vgl. EuGH-Urteil PPUH Stehcemp, EU:C:2015:719, UR 2015, 917 = SIS 15 25 75, Rz 35).

 

 

50

(2) In den Rechnungen, die dem Ausgangsverfahren zum EuGH-Urteil PPUH Stehcemp vorlagen, waren u.a. die Art der gelieferten Gegenstände und der Betrag der geschuldeten Mehrwertsteuer wie auch der Name des Lieferers, dessen Steueridentifikationsnummer und die Anschrift des Gesellschaftssitzes ausgewiesen. Daher konnte nach Ansicht des EuGH aufgrund der vom vorlegenden Gericht aufgezeigten Umstände weder der Schluss gezogen werden, dass der Lieferer nicht die Eigenschaft eines Steuerpflichtigen aufweist, noch dem Leistungsempfänger infolgedessen das Recht auf Vorsteuerabzug versagt werden (vgl. EuGH-Urteil PPUH Stehcemp, EU:C:2015:719, UR 2015, 917 = SIS 15 25 75, Rz 42).

 

 

51

(3) Der Vorsteuerabzug ist dagegen nach diesem Urteil nur zu versagen, wenn aufgrund objektiver Anhaltspunkte und ohne von dem Steuerpflichtigen ihm nicht obliegende Überprüfungen zu fordern dargelegt wird, dass dieser Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass diese Lieferung im Zusammenhang mit einer Mehrwertsteuerhinterziehung steht (vgl. EuGH-Urteil PPUH Stehcemp, EU:C:2015:719, UR 2015, 917 = SIS 15 25 75, Leitsatz, Rz 49, m.w.N.).

 

 

52

Dies lässt möglicherweise den Schluss zu, dass der EuGH die von „Finnet“ ausgestellten Rechnungen als ordnungsgemäß ansieht, obwohl an der angegebenen Anschrift keine wirtschaftliche Tätigkeit stattfand.

 

 

53

bb) Danach ist nach Ansicht des Senats im Hinblick auf das Vorsteuerabzugsrecht des Leistungsempfängers nach Art. 168 Buchst. a MwStSystRL möglicherweise nicht entscheidend, ob unter der in der Rechnung angegebenen Adresse i.S. von Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL eine wirtschaftliche Tätigkeit des Leistenden ausgeübt wird. Ob der Lieferer unter der angegebenen Rechnungsadresse eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt oder nicht, könnte mithin keine Voraussetzung für den Vorsteuerabzug sein (vgl. dazu von Streit/Luther, Der Umsatz-Steuer-Berater - UStB - 2016, 51 [56 f.]). Trifft dies zu, dürfte bezogen auf den Streitfall der Vorsteuerabzug der Klägerin nicht deshalb versagt werden, weil D unter der von ihr angegebenen Rechnungsadresse, an der sich zudem ihr statuarischer Sitz befand, keine eigene wirtschaftliche Tätigkeit entfaltet hat.

 

 

54

c) Überdies dürfte in Anbetracht der technischen Fortentwicklung und der Änderung von Geschäftsgebaren die Anforderung, dass unter der vom Lieferer angegebenen Anschrift geschäftliche Aktivitäten stattfinden, in vielen Fällen nicht (mehr) der wirtschaftlichen Realität entsprechen (vgl. dazu FG Köln, Urteil vom 28.4.2015 10 K 3803/13, EFG 2015, 1655 = SIS 15 22 03, Rz 28). Der klassische Unternehmer mit Büro und Personal, dessen Firma immer einen Sitz hatte, an dem eigene wirtschaftliche Tätigkeit entfaltet wurde, existiert heute vielfach nicht mehr. Das Berufsbild des Einzelunternehmers wird tatsächlich oftmals durch minimale Betriebsstrukturen geprägt, die weder ein herkömmliches Geschäftslokal noch einen Geschäftsbetrieb benötigen, sondern - wie z.B. im Fall eines Online-Händlers - Laptop und Mobiltelefon zur Abwicklung der Geschäfte ausreichen lassen (vgl. dazu Weymüller, Mehrwertsteuerrecht - MwStR - 2015, 816 [821]).

 

 

55

Möglicherweise ist deshalb für die Anforderungen an die Angabe der vollständigen Anschrift i.S. von Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL nach dem Gegenstand und/oder Umfang des Unternehmens des Steuerpflichtigen bzw. des Erwerbers oder Dienstleistungsempfängers zu unterscheiden.

 

 

56

3. Zur zweiten Vorlagefrage

 

 

57

Im Streitfall stellt sich ferner die Frage, ob Art. 168 Buchst. a i.V.m. Art. 178 Buchst. a MwStSystRL unter Beachtung des Effektivitätsgebots einer nationalen Praxis entgegensteht, die einen guten Glauben des Leistungsempfängers an die Erfüllung der Vorsteuerabzugsvoraussetzungen nur außerhalb des Steuerfestsetzungsverfahrens im Rahmen eines gesonderten Billigkeitsverfahrens berücksichtigt. Möglicherweise kann sich der Unternehmer insoweit auf Art. 168 Buchst. a i.V.m. Art. 178 Buchst. a MwStSystRL berufen.

 

 

58

Wäre dies der Fall, könnte die Klägerin - unter Gewährung von Vertrauensschutz im Steuerfestsetzungsverfahren - den streitigen Vorsteuerabzug bereits dann beanspruchen, wenn sie - wie sie geltend macht - weder wusste noch hätte wissen können, dass D unter der angegebenen Rechnungsanschrift nur einen „Briefkastensitz“ unterhalten hat.

 

 

59

a) Zwar sind mangels einer einschlägigen Unionsregelung Verfahrensmodalitäten, die den Schutz der dem Bürger aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung eines jeden Mitgliedstaats (vgl. BFH-Urteil in BFHE 250, 559, BStBl II 2015, 914 = SIS 15 19 48, Rz 32, m.w.N. zur Rechtsprechung des EuGH). Auch ist das der Finanzverwaltung in § 163 AO eingeräumte Ermessen auf Null reduziert, wenn - wie beim Schutz des guten Glaubens an die Erfüllung der Vorsteuerabzugsvoraussetzungen - unionsrechtliche Regelungen eine Billigkeitsmaßnahme erfordern (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 8.3.2001 V R 61/97, BFHE 194, 517, BStBl II 2004, 373 = SIS 01 08 84, unter II.5., Rz 30; vom 30.7.2008 V R 7/03, BFHE 223, 372, BStBl II 2010, 1075 = SIS 09 03 42, unter II.5., Rz 49; in BFHE 250, 559, BStBl II 2015, 914 = SIS 15 19 48, Rz 32).

 

 

60

b) Der Senat hält es jedoch nicht für ausgeschlossen, dass unionsrechtlichen Belangen nur dadurch ausreichend Rechnung getragen wird, wenn - abweichend von der nationalen Praxis - der Vorsteuerabzug trotz des Fehlens einzelner materieller oder formeller Merkmale wegen des guten Glaubens des Leistungsempfängers an deren Vorliegen im Rahmen der Steuerfestsetzung zu gewähren ist (vgl. den in diesem Rechtsstreit ergangenen Senatsbeschluss vom 26.9.2014 XI S 14/14, BFH/NV 2015, 158 = SIS 14 34 36; für die Berücksichtigung von Vertrauensschutz im Festsetzungsverfahren FG Berlin-Brandenburg, Urteile vom 3.4.2014 7 V 7027/14, EFG 2014, 1445 = SIS 14 17 55, Rz 33 ff.; vom 27.8.2014 7 V 7147/14, EFG 2014, 2096 = SIS 14 29 00, Rz 30; Wagner in Sölch/Ringleb, Umsatzsteuer, § 15 Rz 96; Stadie in Rau/ Dürrwächter, UStG, § 15 Rz 882; Drüen, DB 2010, 1847; von Streit, UStB 2012, 288; Stapperfend, UR 2013, 321; Hassa, UR 2015, 809; Weymüller, MwStR 2015, 816; Grube, MwStR 2015, 964; Neeser, UVR 2015, 331; von Streit/Luther, UStB 2016, 51; ablehnend Heuermann, MwStR 2015, 798; ders. Deutsches Steuer-Recht 2015, 2077; Bunjes/Heidner, UStG, 14. Aufl., § 15 Rz 30).

 

 

61

aa) Aus der jüngeren Rechtsprechung des EuGH (vgl. z.B. EuGH-Urteile Dankowski, EU:C:2010:818, UR 2011, 435 = SIS 11 01 66; Mahagebén und Dávid, EU:C:2012:373, UR 2012, 591 = SIS 12 19 39; Tóth vom 6.9.2012 C-324/11, EU:C:2012:549, UR 2012, 851 = SIS 12 25 10; Bonik vom 6.12.2012 C-285/11, EU:C:2012:774, UR 2013, 195 = SIS 13 07 66; Maks Pen vom 13.2.2014 C-18/13, EU:C:2014:69, UR 2014, 861 = SIS 14 04 39; PPUH Stehcemp, EU:C:2015:719, UR 2015, 917 = SIS 15 25 75) könnte sich ergeben, dass ein nicht vorliegendes Tatbestandsmerkmal des Vorsteuerabzugs durch den guten Glauben des Leistungsempfängers an dessen Vorliegen ersetzt werden kann. Der EuGH sah im Kern die materiellen und formellen Voraussetzungen für die Entstehung und die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug als erfüllt an, obwohl nach den zu beurteilenden Sachverhalten dieser Entscheidungen die Vorsteuerabzugsvoraussetzungen nicht vorlagen bzw. zumindest zweifelhaft waren.

 

 

62

bb) Es ist klärungsbedürftig, ob der EuGH das Recht auf Vorsteuerabzug durch Vertrauensschutzgesichtspunkte inzwischen auch erweitert hat oder - wie der V. Senat des BFH in seinem Urteil in BFHE 250, 559, BStBl II 2015, 914 = SIS 15 19 48, Rz 36 meint - nach wie vor (nur) begrenzt, indem er den Vorsteuerabzug, wie bereits in seinem Urteil Kittel und Recolta Recycling vom 6.7.2006 C-439/04 und C-440/04 (EU:C:2006:446, UR 2006, 594 = SIS 06 33 36), selbst dann versagt, wenn dessen Voraussetzungen zwar tatsächlich vorliegen, jedoch aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Erwerb an einem Umsatz beteiligt, der in eine vom Lieferer oder von einem anderen Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden oder nachfolgenden Umsatzstufe der Lieferkette begangene Steuerhinterziehung einbezogen war (vgl. dazu auch Heuermann, MwStR 2015, 798).

 

 

63

cc) Der Senat weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass nach seinem Verständnis in der Rechtssache PPUH Stehcemp (EU:C:2015:719, UR 2015, 917 = SIS 15 25 75) nicht alle materiellen Voraussetzungen für die Entstehung des Rechts auf Vorsteuerabzug vorgelegen haben; denn nach Rz 46 war nicht „Finnet“ leistende Unternehmerin und es war nicht zu ermitteln, wer die Lieferung tatsächlich ausgeführt hat.

 

 

64

Wenn jedoch der (tatsächliche) Lieferer unbekannt ist, steht z.B. nicht fest, dass - wie für die Gewährung des Vorsteuerabzugs erforderlich - die Lieferung überhaupt von einem Steuerpflichtigen (Unternehmer) ausgeführt wurde und dass die Lieferung steuerpflichtig war und z.B. keine steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung vorgelegen hat.

 

 

65

Die Rechnung von „Finnet“ war eine Rechnung i.S. des Art. 203 MwStSystRL (§ 14c UStG), die kein Recht zum Vorsteuerabzug eröffnet, weil das Recht auf Vorsteuerabzug nur für diejenigen Steuern besteht, die geschuldet werden - d.h. mit einem der Mehrwertsteuer unterworfenen Umsatz in Zusammenhang stehen - oder die entrichtet worden sind, soweit sie geschuldet wurden (EuGH-Urteile Genius Holding vom 13.12.1989 C-342/87, EU:C:1989:635, NJW 1991, 632, Rz 13; Schmeink & Cofreth und Strobel vom 19.9.2000, C-454/98, EU:C:2000:469, UR 2000, 470 = SIS 00 12 77, Rz 53; Fatorie vom 6.2.2014 C-424/12, EU:C:2014:50, HFR 2014, 383 = SIS 14 04 45, Rz 39 f.).

 

 

66

dd) Falls bereits auf Tatbestandsebene des Art. 168 Buchst. a MwStSystRL Vertrauensschutzgesichtspunkte berücksichtigt werden müssen, könnte außerdem von Bedeutung sein, dass nach der Rechtsprechung des EuGH die Voraussetzungen für die Entstehung und der Umfang des Rechts auf Vorsteuerabzug so klar, genau und unbedingt geregelt sind, dass sich ein Einzelner gegenüber einem Mitgliedstaat vor einem innerstaatlichen Gericht darauf berufen kann (vgl. EuGH-Urteile Stockholm Lindöpark vom 18.1.2001 C-150/99, EU:C:2001:34, BFH/NV Beilage 2001, 44 = SIS 01 05 42, Rz 31 ff., m.w.N.; PARAT Automotive Cabrio vom 23.4.2009 C-74/08, EU:C:2009:261, UR 2009, 452 = SIS 09 18 52, Rz 32 ff.). Der Unternehmer könnte sich dann vor den nationalen Gerichten auf Vertrauensschutzgesichtspunkte bereits im Verfahren der Steuerfestsetzung berufen dürfen. Von einem Berufungsrecht bereits im Festsetzungsverfahren geht der BFH aus, soweit es um andere Voraussetzungen des Art. 168 MwStSystRL geht (vgl. BFH-Beschlüsse vom 22.7.2010 V R 19/09, BFHE 231, 280, BStBl II 2010, 1090 = SIS 10 33 58, Rz 33; vom 16.6.2015 XI R 15/13, BFHE 250, 276, BStBl II 2015, 865 = SIS 15 15 81, Rz 49).

 

 

67

c) Die Verweisung der Steuerpflichtigen in Fällen der vorliegenden Art auf den Billigkeitsweg könnte außerdem dem unionsrechtlichen Effektivitätsgebot widersprechen (so z.B. Drüen, DB 2010, 1847, 1850, m.w.N.; von Streit/Luther, UStB 2016, 51).

 

 

68

aa) Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH dürfen die Modalitäten der Verfahren, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, nicht ungünstiger sein als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte innerstaatlicher Art regeln - Äquivalenzgrundsatz - und sie dürfen die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren - Effektivitätsgrundsatz - (vgl. z.B. EuGH-Urteil Surgicare vom 12.2.2015 C-662/13, EU:C:2015:89, UR 2015, 359 = SIS 15 03 27, Rz 26, m.w.N.).

 

 

69

bb) Der Senat hält es für möglich, dass das Festhalten an der Zweistufigkeit des Verfahrens bei Gutgläubigkeit des vorsteuerabzugsberechtigten Unternehmers in Bezug auf die Rechnungsangaben des Lieferers die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte i.S. dieser EuGH-Rechtsprechung übermäßig erschwert.

 

 

70

Denn die in Fällen der vorliegenden Art praktizierte verfahrenstechnische Aufspaltung verzögert eine effektive Durchsetzung des Gutglaubensschutzes und erschwert den Rechtsschutz des Unternehmers (vgl. Drüen, DB 2010, 1847, 1850). Insbesondere wird dem Steuerpflichtigen mit dieser nationalen Praxis ggf. zugemutet, zwei gerichtliche Verfahren mit dem doppelten Prozessrisiko zu führen (vgl. dazu Weymüller, MwStR 2015, 816; von Streit/Luther, UStB 2016, 51, m.w.N). Hinsichtlich des vorläufigen Rechtsschutzes kommt nach Ablehnung einer Billigkeitsmaßnahme nach § 163 oder § 227 AO ausschließlich ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung i.S. von § 114 der Finanzgerichtsordnung (FGO) in Betracht, die anders als eine Aussetzung der Vollziehung eines angefochtenen Umsatzsteuerbescheids nach § 69 FGO strengere Voraussetzungen („höhere Hürden“) hat (vgl. Weymüller, MwStR 2015, 816; Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 114 FGO Rz 18, m.w.N.; Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, § 114 FGO Rz 11, m.w.N.).

 

 

71

cc) Andererseits könnte eine eindeutige und leicht nachprüfbare Feststellung der Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs es erfordern, das Steuerfestsetzungsverfahren weitgehend von subjektiven Merkmalen und Prüfungsgegenständen freizuhalten und den guten Glauben des den Vorsteuerabzug begehrenden Unternehmers in einem gesonderten Verfahren zu prüfen.

 

 

72

dd) Zwar ist es Sache des Senats, festzustellen, ob diese nationale Praxis mit dem Effektivitätsgebot vereinbar ist. Der EuGH kann dem vorlegenden Gericht hierzu allerdings im Rahmen der Vorabentscheidung alle zweckdienlichen Hinweise geben (vgl. z.B. EuGH-Urteil Surgicare, EU:C:2015:89, UR 2015, 359 = SIS 15 03 27, Rz 27, m.w.N.).

 

 

73

4. Rechtsgrundlage für die Anrufung des EuGH ist Art. 267 Abs. 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union.

 

 

74

IV. Das Revisionsverfahren wird bis zu einer Entscheidung des EuGH ausgesetzt (§ 121 Satz 1 i.V.m. § 74 FGO).