Auf die Revision der Klägerin werden das
Urteil des Finanzgerichts Köln vom 17.05.2017 - 9 K 3140/14
und der Umsatzsteuerbescheid 2013 in Gestalt der
Einspruchsentscheidung vom 29.09.2014 aufgehoben und die
Umsatzsteuer auf 0 EUR festgesetzt.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Beklagte zu tragen.
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I. Streitig ist, ob die Umsätze der
Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) aus ihrer
Tätigkeit als Verfahrensbeistand steuerfrei sind.
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Die Klägerin, eine Diplom-Psychologin,
Heilpraktikerin für Psychotherapie, Mediatorin und Systemische
Beraterin, betreibt seit 2003 eine eigene Praxis. Im Streitjahr
(2013) erbrachte sie u.a. Leistungen als Verfahrensbeistand nach
§ 158 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen
und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit
(FamFG). In ihrer Umsatzsteuer-Voranmeldung für das II.
Quartal 2013 erklärte sie zunächst Ausgangsumsätze
zum Regelsteuersatz von 15.966 EUR, legte gegen diese Voranmeldung
aber Einspruch ein und beantragte unter Berufung auf die
Steuerfreiheit nach Unionsrecht die Herabsetzung der Umsatzsteuer
auf 0 EUR.
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Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das
Finanzamt - FA - ) wies den Einspruch als unbegründet
zurück (Einspruchsentscheidung vom 29.09.2014). Im Laufe des
Klageverfahrens erließ das FA einen
Umsatzsteuer-Jahresbescheid 2013, in dem es hinsichtlich der
streitgegenständlichen Leistungen von umsatzsteuerpflichtigen
Umsätzen ausging. Die Klage vor dem Finanzgericht (FG) hatte
keinen Erfolg. Nach dem in EFG 2017, 1556 = SIS 17 17 41
veröffentlichten Urteil sind die Leistungen der Klägerin
weder nach nationalem Umsatzsteuerrecht (§ 4 Nr. 25 des
Umsatzsteuergesetzes in der im Streitjahr geltenden Fassung - UStG
- ) noch nach Unionsrecht (Art. 132 Abs. 1 Buchst. g, h und i der
Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das
gemeinsame Mehrwertsteuersystem - MwStSystRL - )
steuerfrei.
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Mit ihrer Revision rügt die
Klägerin Verletzung materiellen Rechts.
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Die Tätigkeit als Verfahrensbeistand
sei nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL steuerfrei. Der
Verfahrensbeistand werde in für das Kind existenziellen
Verfahren tätig, die den Kernbereich der staatlichen
Schutzpflicht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) sowie
die völkerrechtliche Schutzverpflichtung aus Art. 12 des
Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte des
Kindes beträfen. Damit erfülle der Verfahrensbeistand
eine staatlich und völkerrechtlich begründete
Schutzverpflichtung für Kinder, seine Tätigkeit sei
mithin Ausfluss einer sozialen Fürsorgeverpflichtung.
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Die Klägerin sei auch eine vom
Mitgliedstaat anerkannte Einrichtung, da der Verfahrensbeistand
durch das Gericht ausgewählt und bestellt werde. Der
Verfahrensbeistand werde nach den in § 158 Abs. 7 FamFG
festgelegten „Preisen“ vergütet und unterliege
daher ebenso strengen Kriterien der „öffentlichen
Kontrolle“ wie die Einrichtung des betreuten Wohnens im
Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH)
„Les Jardins de Jouvence“ vom 21.01.2016 - C-335/14
(EU:C:2016:36).
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Die Klägerin beantragt, das Urteil des
FG und den Umsatzsteuerbescheid 2013 zuletzt geändert durch
Bescheid vom 24.02.2016 und in Gestalt der Einspruchsentscheidung
vom 29.09.2014 aufzuheben und die Umsatzsteuer auf 0 EUR
festzusetzen.
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Das FA beantragt, die Revision als
unbegründet zurückzuweisen.
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Die Klägerin erbringe mit ihrer
Tätigkeit als Verfahrensbeistand keine eng mit der
Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundenen
Leistungen, da sie lediglich in Gerichtsverfahren auftrete und dort
die Interessen der betroffenen Kinder zur Geltung bringe (Abschn.
4.25.2 Abs. 9 des Umsatzsteuer-Anwendungserlasses - UStAE - ). Eine
umfassende Personen- oder Vermögenssorge werde hingegen nicht
wahrgenommen. Bei Kindern könne keine generelle
Schutzbedürftigkeit i.S. von Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der
MwStSystRL unterstellt werden, vielmehr sei für Leistungen
gegenüber Kindern die - im Streitfall nicht einschlägige
- unionsrechtliche Steuerbefreiungsvorschrift des Art. 132 Abs. 1
Buchst. h MwStSystRL zu prüfen.
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§ 158 FamFG stelle keine
„spezifische“ Vorschrift i.S. der EuGH-Rechtsprechung
dar, da eine gesetzliche Vorgabe hinsichtlich der fachlichen und
persönlichen Anforderungen an einen geeigneten
Verfahrensbeistand fehle und somit spezielle Anforderungen an die
Person des Verfahrensbeistands nicht geregelt seien.
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Auch der Gesetzgeber gehe von der
Steuerpflicht der Leistungen eines Verfahrensbeistands aus. In
§ 158 Abs. 7 Satz 2 und 4 FamFG sei für die Fälle
der berufsmäßigen Tätigkeit als Verfahrensbeistand
ausdrücklich eine Vergütung „incl. der auf die
Vergütung entfallenden Umsatzsteuer“ vorgesehen
(BTDrucks 16/9733, S. 294 zur Neuregelung des § 158 Abs. 7
FamFG).
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II. Die Revision der Klägerin ist
begründet. Das Urteil des FG ist aufzuheben und der Klage
stattzugeben (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ). Das FG hat die Voraussetzungen der
Steuerfreiheit nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL zu eng
ausgelegt und die Leistungen der Klägerin als
Verfahrensbeistand daher zu Unrecht nicht als steuerfrei
behandelt.
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1. Die Leistungen der Klägerin sind
allerdings - wie zwischen den Beteiligten zu Recht nicht umstritten
ist - nicht nach § 4 Nr. 25 UStG steuerfrei. Sie erbringt
weder Leistungen der Jugendhilfe nach § 2 Abs. 2 des Achten
Buches Sozialgesetzbuch (SGB VIII) oder nach § 2 Abs. 3 Nr. 6
i.V.m. § 50 SGB VIII (Mitwirkung in Verfahren vor den
Familiengerichten) noch die in § 4 Nr. 25 Satz 3 unter a bis c
im Einzelnen bezeichneten Leistungen.
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2. Das FG hat aber zu Unrecht eine
Umsatzsteuerbefreiung nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL
ausgeschlossen. Entgegen dem Urteil des FG erbringt die
Klägerin steuerbegünstigte Leistungen und ist auch als
Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannt.
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Nach dieser Vorschrift befreien die
Mitgliedstaaten „eng mit der Sozialfürsorge und der
sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen ...,
einschließlich derjenigen, die durch ... Einrichtungen des
öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden
Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte
Einrichtungen bewirkt werden“. Die Steuerbefreiung
knüpft an leistungs- und an personenbezogene Voraussetzungen
an: Es muss sich um eng mit der Sozialfürsorge oder der
sozialen Sicherheit verbundene Leistungen handeln, die von
Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder anderen
Einrichtungen erbracht werden, die von dem betreffenden
Mitgliedstaat als Einrichtungen mit im Wesentlichen sozialem
Charakter anerkannt worden sind (Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH
- vom 18.08.2005 - V R 71/03, BFHE 211, 543, BStBl II 2006, 143 =
SIS 06 01 79, Rz 45 und 46, und vom 7.12.2016 - XI R 5/15 = SIS 17 04 47, BFHE 256, 550, BFH/NV 2017, 863; EuGH-Urteil Kingscrest
Associates Ltd. und Montecello Ltd. vom 26.5.2005 - C-498/03,
EU:C:2005:322, UR 2005, 453 = SIS 05 30 13, Rz 34).
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a) Die Leistungen der Klägerin als
Verfahrensbeistand sind „eng mit der Sozialfürsorge
und der sozialen Sicherheit verbundene
Dienstleistungen“.
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aa) Hierbei handelt es sich um einen
eigenständigen Begriff des Unionsrechts, der eine
unionsrechtliche Definition erfordert (vgl. EuGH-Urteil Kingscrest
Associates Ltd. und Montecello Ltd., EU:C:2005:322, Rz 22, m.w.N.).
Gleichwohl hat der EuGH diesen Begriff in seiner bisherigen
Rechtsprechung weder definiert noch näher umschrieben, sondern
sich darauf beschränkt, für die jeweils
streitgegenständlichen Tätigkeiten zu entscheiden, ob
diese unter die Steuerbefreiung nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. g
MwStSystRL fallen. Zu den nach bisheriger EuGH-Rechtsprechung
befreiten Umsätzen gehören die Kinderbetreuung
einschließlich der Vermittlung von Tageseltern (EuGH-Urteile
Kinderopvang Enschede vom 09.02.2006 - C-415/04, EU:C:2006:95,
BFH/NV 2006, Beilage 3, 256 = SIS 06 14 58, Rz 27), der Betrieb von
Heimen für betreutes Wohnen (Kingscrest Associates Ltd. und
Montecello Ltd., EU:C:2005:322) sowie die Leistungen der
Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung für
körperlich oder wirtschaftlich hilfsbedürftige Personen
(EuGH-Urteil Ambulanter Pflegedienst Kügler GmbH vom
10.09.2002 - C-141/00, EU:C:2002:473, BFH/NV 2003, Beilage 1, 30 =
SIS 02 97 10, Rz 44).
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Die Klägerin erbrachte zwar keine
derartigen oder vergleichbaren Betreuungs- oder Pflegeleistungen.
Bei der Prüfung der leistungsbezogenen Voraussetzung der
unionsrechtlichen Steuerbefreiung ist allerdings zu
berücksichtigen, ob der Personenkreis der
Leistungsempfänger im Hinblick auf deren Bedürftigkeit
dem Personenkreis der Sachverhalte entspricht, bei denen die
Rechtsprechung das Merkmal der mit der Fürsorge oder der
sozialen Sicherheit eng verbundenen Leistungen bereits bejaht hat
(BFH-Urteil vom 01.12.2010 - XI R 46/08, BFHE 232, 232 = SIS 11 05 50, Rz 30).
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bb) Die Aufgabe des Verfahrensbeistands
besteht darin, das Interesse des Kindes festzustellen und im Rahmen
eines gerichtlichen Verfahrens zur Geltung zu bringen. Dabei hat er
das Kind über Gegenstand, Ablauf und möglichen Ausgang
des Verfahrens in geeigneter Weise zu informieren (§ 158 Abs.
4 Satz 1 und 2 FamFG).
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(1) Kinder gehören nach der o.g.
EuGH-Rechtsprechung zu dem begünstigten Personenkreis. Ihre
Schutzbedürftigkeit ergibt sich nicht nur aus der staatlichen
Schutzpflicht (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG), sondern auch aus der
Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EuGRCh). Nach
Art. 24 Abs. 1 EuGRCh haben Kinder Anspruch auf den Schutz und die
Fürsorge, die für ihr Wohlergehen notwendig sind,
gemäß Art. 24 Abs. 2 EuGRCh muss das Wohl des Kindes bei
allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen
oder privater Einrichtungen eine vorrangige Erwägung sein.
Hinzu kommt, dass die Bundesrepublik Deutschland als Vertragsstaat
der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) in der Pflicht steht,
für Minderjährige einen „besonderen Schutz und
Beistand“ sicherzustellen (Art. 20 Abs. 1 UN-KRK).
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(2) Der erkennende Senat kann offen lassen, ob
Kinder „generell“ als schutzbedürftig
anzusehen sind und jegliche Leistungen ihnen gegenüber als
„eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen
Sicherheit verbundenen Dienstleistungen“ qualifiziert
werden könnten. Denn ein Verfahrensbeistand ist nur zu
bestellen, soweit dies zur Wahrnehmung der Interessen des Kindes
„erforderlich“ ist. Hierzu zählt § 158
Abs. 2 FamFG fünf Regelbeispiele auf, in denen dies
grundsätzlich zu bejahen ist und in denen daher von einer
besonderen Schutzbedürftigkeit des Kindes auszugehen ist. Eine
Bestellung ist erforderlich, wenn das Interesse des Kindes zu dem
seiner gesetzlichen Vertreter in erheblichem Gegensatz steht, also
wenn die Eltern das Verfahren zur Wahrung ihrer eigenen Interessen
führen und die eigenen Interessen vor die des Kindes stellen
(§ 158 Abs. 2 Nr. 1 FamG), bei teilweiser oder
vollständiger Entziehung der Personensorge wegen
Gefährdung des Kindeswohls (§ 158 Abs. 2 Nr. 2 FamFG),
bei einer Trennung des Kindes von der Obhutsperson (§ 158 Abs.
2 Nr. 3 FamFG), bei einer Anordnung der Herausgabe oder Verbleibens
des Kindes (§ 158 Abs. 2 Nr. 4 FamFG) sowie beim Ausschluss
oder einer wesentlichen Beschränkung des Umgangsrechts (§
158 Abs. 2 Nr. 5 FamFG).
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cc) Hinzu kommt, dass sich - wie das FG zu
Recht festgestellt hat - die Tätigkeit der Klägerin als
Verfahrensbeistand zwar von den Aufgaben der Jugendhilfe nach
§§ 2 Abs. 3, 50 SGB VIII unterscheidet. Zu den Aufgaben
der Jugendhilfe gehört die Mitwirkung in Familiensachen und in
den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (z.B.
Kindschaftssachen, Abstammungssachen, Adoptionssachen,
Gewaltschutzsachen), während der Verfahrensbeistand das
Interesse des Kindes festzustellen und im gerichtlichen Verfahren
zur Geltung zu bringen hat. Die Tätigkeit des
Verfahrensbeistands steht jedoch im Regelfall in unmittelbarem
Zusammenhang mit der Tätigkeit des Jugendamts in
Jugendhilfesachen und ist daher als „eng“ mit
der Sozialfürsorge verbundene Leistung zu qualifizieren.
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Dem steht nicht entgegen, dass der
Verfahrensbeistand als „Anwalt des Kindes“
bezeichnet wird (vgl. Salgo, „Der Anwalt des
Kindes“, Köln 1996; Schlemm in Bahrenfuss, FamFG, 3.
Aufl. 2017, § 158 Rz 1) und die Bestellung eines
Verfahrensbeistands unterbleiben oder aufgehoben werden soll, wenn
die Interessen des Kindes von einem Rechtsanwalt angemessen
vertreten werden (§ 158 Abs. 5 FamFG). Denn der
Verfahrensbeistand wird mit dem Akt der Bestellung zum
„Beteiligten“ (§ 158 Abs. 3 Satz 2 i.V.m.
§ 7 FamFG) und hat damit die Aufgabe, die Rechte des
Betroffenen wahrzunehmen, ohne an dessen Weisungen gebunden zu
sein. Es handelt sich daher weder um ein rechtsanwaltliches
Mandatsverhältnis (Schruth in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB
VIII, 2. Aufl. 2018, § 50 SGB VIII Rz 70) noch um eine
anwaltsspezifische Tätigkeit (Schumann in Münchener
Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 4, Gesetz über das
Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der
freiwilligen Gerichtsbarkeit, § 158, Rz 34).
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b) Entgegen der Ansicht des FG ist der
Verfahrensbeistand auch als soziale Einrichtung anerkannt.
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aa) Einer Anerkennung als Einrichtung steht
nicht entgegen, dass es sich bei der Klägerin um eine
natürliche Person handelt. Denn der Begriff
„Einrichtung“ ist weit genug, um auch
natürliche Personen (vgl. EuGH-Urteil Gregg vom 07.09.1999 -
C-216/97, EU:C:1999:390, UR 1999, 419 = SIS 00 01 53, Rz 21) und
private Einheiten mit Gewinnerzielungsabsicht (vgl. dazu
EuGH-Urteile Kingscrest Associates Ltd. und Montecello Ltd.,
EU:C:2005:322, Rz 35 und 40; MDDP vom 28.11.2013 - C- 319/12,
EU:C:2013:778, HFR 2014, 177, Rz 28 und 31) zu erfassen.
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bb) Nach ständiger Rechtsprechung des
EuGH legt Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL die Voraussetzungen
und Modalitäten der Anerkennung nicht fest. Vielmehr ist es
Sache des innerstaatlichen Rechts jedes Mitgliedstaats, die Regeln
aufzustellen, nach denen Einrichtungen die erforderliche
Anerkennung gewährt werden kann. Dabei haben die nationalen
Behörden im Einklang mit dem Unionsrecht und unter der
Kontrolle der nationalen Gerichte die für die Anerkennung
maßgeblichen Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Zu
diesen gehören
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- das Bestehen spezifischer Vorschriften, bei
denen es sich um nationale oder regionale Rechts- oder
Verwaltungsvorschriften, Steuervorschriften oder Vorschriften im
Bereich der sozialen Sicherheit handeln kann,
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- das mit den Tätigkeiten des
betreffenden Steuerpflichtigen verbundene Gemeinwohlinteresse,
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- die Tatsache, dass andere Steuerpflichtige
mit den gleichen Tätigkeiten bereits in den Genuss einer
ähnlichen Anerkennung kommen, und
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- die Übernahme der Kosten der fraglichen
Leistungen zum großen Teil durch Krankenkassen oder durch
andere Einrichtungen der sozialen Sicherheit (EuGH-Urteile
Kügler vom 10.09.2002 - C-141/00, EU:C:2002:473, Rz 54 und 58,
und Zimmermann vom 15.11.2012 C-174/11, EU:C:2012:716, Rz 26).
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cc) Im Streitfall folgt die Anerkennung der
Klägerin als soziale Einrichtung aus dem Bestehen einer
spezifischen Vorschrift für Verfahrensbeistände, deren
Tätigkeit im Gemeinwohlinteresse sowie dem
Neutralitätsprinzip.
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(1) Die Anerkennung der Klägerin ergibt
sich insbesondere aus § 158 Abs. 1 FamFG als einer
spezifischen Vorschrift i.S. der EuGH-Rechtsprechung. Danach hat
das Gericht dem minderjährigen Kind einen
„geeigneten“ Verfahrensbeistand zu bestellen,
soweit dies zur Wahrnehmung seiner Interessen erforderlich ist.
Eine besondere fachliche Qualifikation ist zwar nicht gesetzlich
geregelt, nach der Gesetzesbegründung zu § 158 FamFG soll
aber eine Person bestellt werden, die „persönlich und
fachlich geeignet ist, das Interesse des Kindes festzustellen und
sachgerecht in das Verfahren einzubringen“ (BTDrucks
16/6308, S. 238). Durch den Hinweis auf die
„Geeignetheit“ des Verfahrensbeistands wird
klargestellt, dass bestimmte Mindestanforderungen im Hinblick auf
Aus- und Vorbildung des Verfahrensbeistands und die von ihm bei der
Arbeit zu beachtenden Standards einzuhalten sind (vgl.
Kammergericht Berlin, Senat für Familiensachen, Beschluss vom
19.02.2014 - 17 UF 5/14, Zeitschrift für Kindschaftsrecht und
Jugendhilfe 2014, 285, Rz 24, m.w.N.). Diese Anforderungen umfassen
Kenntnisse auf den Gebieten des Familien- und Kindschaftsrechts,
des SGB VIII, des Familienverfahrensrechts und der
Entwicklungspsychologie. Die Person soll über Techniken und
Kompetenzen verfügen, um Minderjährige zu verstehen und
mit ihnen kommunizieren zu können; sie muss ferner über
Vermittlungskompetenzen verfügen (Ahlert, Der
Verfahrensbeistand nach § 158 FamFG, Marburg, 2010). Dem
entspricht, dass der Verfahrensbeistand gemäß § 158
Abs. 1 i.V.m. Abs. 6 FamFG entlassen werden kann, wenn er
nachträglich als nicht mehr geeignet erscheint (Hammer in
Prütting/Helms, Kommentar zum FamFG, 4. Aufl. 2018, § 158
Rz 54; Oberlandesgericht - OLG - Karlsruhe, Beschluss vom
01.08.2013 - 5 UF 62/13, Zeitschrift für das gesamte
Familienrecht - FamRZ - 2014, 1136, Rz 7; OLG Hamburg vom
14.04.2016 - 12 UF 140/15, FamRZ 2016, 1694; OLG Hamm vom
16.07.2007 - 4 UF 9/07, FamRZ 2007, 2002).
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Entgegen der Ansicht des FA steht einer
Qualifikation als „spezifische“ Vorschrift i.S.
der EuGH-Rechtsprechung nicht entgegen, dass die Anforderungen an
die Person des Verfahrensbeistands i.S. beruflicher Qualifikation
nicht im Einzelnen gesetzlich geregelt sind (vgl. BFH-Urteil vom
25.04.2013 - V R 7/11, BFHE 241, 475, BStBl II 2013, 976 = SIS 13 20 29, unter II.2.c bb (1), Rz 23 zur „Eignung“
des Berufsbetreuers nach § 1897 Abs. 1 des Bürgerlichen
Gesetzbuchs). Es genügt insoweit die gerichtliche Bestellung
und Überwachung der Qualifikation eines
„geeigneten“ Verfahrensbeistands.
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(2) An der Tätigkeit eines
Verfahrensbeistands in Kindschaftssachen besteht ein besonderes
Gemeinwohlinteresse. Die Pflege und Erziehung der Kinder und
Jugendlichen obliegt zwar primär den Eltern (Art. 6 Abs. 2
Satz 1 GG). Verfolgen diese jedoch gegensätzliche Interessen,
die mit denen ihrer Kinder in Konflikt geraten, muss den Kindern
die Möglichkeit eingeräumt werden, ihr eigenes Interesse
in einer den Anforderungen des rechtlichen Gehörs (Art. 103
Abs. 1 GG) entsprechenden Eigenständigkeit im Verfahren
geltend zu machen. Wird ein solcher Beistand nicht bestellt,
verletzt dies die Grundrechte der betreffenden Kinder aus Art. 6
Abs. 2 und Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 103 Abs. 1 GG (Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts vom 29.10.1998 - 2 BvR 1206/98, BVerfGE
99, 145, Rz 78, zum Verfahrenspfleger nach § 50 des Gesetzes
über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit als
Vorgänger des Verfahrensbeistands). Denn aus der
verfassungsrechtlichen Verankerung des Kindeswohls in Art. 6 Abs. 2
und Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Anspruch auf rechtliches Gehör
(Art. 103 Abs. 1 GG) ergibt sich die Pflicht, das Kindeswohl
verfahrensrechtlich dadurch zu sichern, dass den Kindern bereits im
familiengerichtlichen Verfahren ein Pfleger zur Wahrung ihrer
Interessen zur Seite gestellt wird.
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(3) Darüber hinaus wäre ein
Ausschluss der Klägerin von der Steuerfreiheit im Hinblick auf
die für Betreuungsvereine bestehende Steuerfreiheit nicht mit
dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität zu vereinbaren.
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Neben freiberuflich tätigen
Rechtsanwälten, Pädagogen sowie Kinder- und
Jugendpsychologen werden auch Mitarbeiter von Betreuungsvereinen
vom Familiengericht zum Verfahrensbeistand in Kindschaftssachen
bestellt (Hammer in Prütting/Helms, FamFG, 4. Aufl. 2018,
§ 158 Rz 27; Schumann in Münchener Kommentar zur
Zivilprozessordnung, § 158 FamFG Rz 18). In diesem Fall steht
der Vergütungsanspruch in entsprechender Anwendung des §
277 Abs. 4 FamFG dem Betreuungsverein zu (Beschluss des
Bundesgerichtshofs vom 27.11.2013 - XII ZB 682/12, FamRZ 2014,
373). Soweit der Betreuungsverein - wie im Regelfall - einem
anerkannten Verband der freien Wohlfahrtspflege (z.B.
Caritasverband) angeschlossen ist, sind die von ihm erbrachten
Leistungen steuerfrei (vgl. hierzu FG Niedersachsen, Urteil vom
14.01.2010 - 5 K 162/09, Betreuungsrechtliche Praxis 2010, 141;
FamRZ 2010, 1477, Leitsatz).
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(4) Das FG ist zwar zu Recht davon
ausgegangen, dass keine Übernahme der Kosten durch
Krankenkassen oder andere Einrichtungen der sozialen Sicherheit
erfolgt, da die Kosten des Verfahrensbeistands lediglich Auslagen
des Gerichts darstellen, die dem Kostenschuldner nach Maßgabe
von §§ 81, 83 FamFG aufzuerlegen sind; soweit § 158
Abs. 7 Satz 5 FamFG regelt, dass der Aufwendungsersatz und die
Vergütung stets aus der Staatskasse zu zahlen sind, folgt
daraus nur, dass die Beteiligten keine Vorschüsse zu leisten
haben.
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Die fehlende Kostenübernahme steht -
entgegen der Auffassung des FG - einer Steuerfreiheit aber nicht
entgegen, da die Anerkennung als soziale Einrichtung im Rahmen
einer Gesamtwürdigung aus § 158 Abs. 1 FamFG als einer
spezifischen Vorschrift für Verfahrensbeistände, deren
Tätigkeit im Gemeinwohlinteresse sowie dem
Neutralitätsprinzip folgt. Es entspricht ständiger
Rechtsprechung, dass bei der Prüfung der Anerkennung mehrere
Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind und die Anerkennung
nicht voraussetzt, dass alle für die Anerkennung in Betracht
kommenden Kriterien kumulativ vorliegen müssen (EuGH-Urteil
Zimmermann, EU:C:2012:716, Rz 31; BFH-Urteile in BFHE 241, 475,
BStBl II 2013, 976 = SIS 13 20 29, Rz 28, sowie vom 08.06.2011- XI
R 22/09, BFHE 234, 448, BFH/NV 2011, 1804 = SIS 11 27 64).
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dd) Unerheblich ist insoweit auch, dass der
EuGH im Urteil Ordre des barreaux francophones et germanophone u.a.
vom 28.07.2016 - C-543/14 (EU:C:2016:605) die Berufsgruppe der
Rechtsanwälte von der Befreiung nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. g
MwStSystRL ausgeschlossen hat, weil sie im Hinblick auf ihr
Gesamtziel und die fehlende Dauerhaftigkeit eines etwaigen sozialen
Engagements nicht als gemeinnützig angesehen werden kann
(EuGH-Urteil Ordre des barreaux francophones et germanophone u.a.,
EU:C:2016:605, Leitsatz 3 Satz 3 sowie Rz 62 bis 65). Dieses Urteil
betrifft die fehlende Anerkennung von Anwälten für ihre
Tätigkeit in Prozesskostenhilfeverfahren. Die Klägerin
ist jedoch weder als Anwältin tätig noch übt sie
eine anwaltsspezifische Tätigkeit aus (vgl. Ausführungen
unter II.2.a bb (3)). Im Übrigen ist zu berücksichtigen,
dass der Gesetzgeber mit der Rechtsfigur des Verfahrensbeistands
kein neues Berufsbild schaffen wollte (Schumann in Münchener
Kommentar zur Zivilprozessordnung, § 158 FamFG Rz 18, m.w.N.).
Gegen die Anerkennung eines Verfahrenspflegers als soziale
Einrichtung kann daher nicht geltend gemacht werden, dass diese
Tätigkeit nur eines der Ziele einer weitergehenden
freiberuflichen Tätigkeit darstellt.
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ee) Die Steuerfreiheit der Leistungen als
Verfahrensbeistand scheitert nicht an Art. 133 Buchst. c
MwStSystRL.
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Danach können die Mitgliedstaaten die
Steuerbefreiung davon abhängig machen, dass die von den
Einrichtungen verlangten Preise von den zuständigen
Behörden genehmigt sein müssen oder die genehmigten
Preise nicht übersteigen; bei Umsätzen, für die eine
Preisgenehmigung nicht vorgesehen ist, müssen die verlangten
Preise unter den Preisen liegen, die der Mehrwertsteuer
unterliegende gewerbliche Unternehmen für entsprechende
Umsätze fordern. Unabhängig von der Frage, ob das UStG
die durch Art. 133 MwStSystRL eingeräumte Ermächtigung
wirksam ausgeübt hat (vgl. hierzu BFH-Urteil in BFHE 241, 475,
BStBl II 2013, 976 = SIS 13 20 29, Rz 33) liegen im Streitfall
behördlich genehmigte Preise vor. Die Festsetzung der
Vergütung (sog. Fallpauschalen) richtet sich aufgrund der
Verweisung in § 158 Abs. 7 Satz 6 nach § 168 Abs. 1, Abs.
4 FamFG und erfolgt durch Anweisung der Zahlung durch den
Kostenbeamten oder nach § 168 Abs. 1 Satz 1 durch
förmliche Festsetzung durch den Rechtspfleger (Hammer in
Prütting/Helms, FamFG, § 158 Rz 63, m.w.N.). In beiden
Varianten handelt das die Vergütung festsetzende
Familiengericht damit funktional als zuständige
Behörde.
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c) Einer Steuerfreiheit nach Unionsrecht kann
nicht entgegengehalten werden, dass der Gesetzgeber in § 158
Abs. 7 Satz 4 FamFG von der Umsatzsteuerpflicht der Vergütung
des Verfahrensbeistands ausgeht. Die Gesetzesformulierung
(„… die auf die Vergütung anfallende
Umsatzsteuer …“) ist dahingehend auslegbar, dass
die Umsatzsteuer nur dann als Bestandteil der Vergütung
anzusehen ist, wenn sie nach geltendem Umsatzsteuerrecht geschuldet
wird.
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3. Das von anderen Grundsätzen ausgehende
Urteil des FG verletzt Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL und ist
daher aufzuheben.
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a) Die Klägerin übt als
Verfahrensbeistand eine eng mit der sozialen Fürsorge
verbundene Tätigkeit aus und ist aufgrund einer
Gesamtwürdigung der maßgeblichen Kriterien auch als
soziale Einrichtung anerkannt. Für die Steuerfreiheit ihrer
Leistungen kann sich die Klägerin mangels hinreichender
Umsetzung in nationales Recht auf die für sie günstige
Befreiungsnorm des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL unmittelbar
berufen (BFH-Urteile vom 18.08.2015 - V R 13/14, BFHE 251, 282 =
SIS 15 23 06, Rz 15, und in BFHE 241, 475, BStBl II 2013, 796, Rz
19 ff.).
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b) Soweit sich aus Abschn. 4.25.2 UStAE
ergeben sollte, dass für gerichtlich bestellte
Verfahrensbeistände auch die Berufung auf die Steuerbefreiung
nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL ausgeschlossen wird,
folgt der Senat dem nicht.
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4. Die Sache ist i.S. einer Klagestattgabe
spruchreif. Sind die Leistungen der Klägerin als
Verfahrensbeistand steuerfrei, bleiben diese bei der Berechnung der
Umsatzgrenze des § 19 Abs. 1 UStG außer Betracht. Der
Gesamtumsatz des Vorjahres übersteigt dann nicht 17.500 EUR
und der des Streitjahres nicht 50.000 EUR. Die Umsatzsteuer ist
daher antragsgemäß auf 0 EUR herabzusetzen.
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