Mindeststeuer, Verfassungsmäßigkeit: Es wird die Entscheidung des BVerfG darüber eingeholt, ob § 2 Abs. 3 Sätze 2 bis 8, § 10 d Abs. 1 Sätze 2 bis 4, Abs. 2 Sätze 2 bis 4, Satz 5 Halbsatz 2 soweit auf Sätze 2 bis 4 verweisend, und Abs. 3 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 wegen Verletzung des Grundsatzes der Normenklarheit (Art. 20 Abs. 3, Art. 19 Abs. 4 GG) verfassungswidrig sind. - Urt.; BFH 6.9.2006, XI R 26/04; SIS 06 44 12
A.
Gegenstand der Vorlage
Die Kläger und Revisionskläger
(Kläger), zusammenveranlagte Eheleute, erzielten im Streitjahr
1999 Einkünfte aus Gewerbebetrieb, selbständiger Arbeit,
nichtselbständiger Arbeit, Kapitalvermögen und Vermietung
und Verpachtung. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt
- FA - ) ermittelte die Einkünfte lt. Bescheid vom 3.8.2000
wie folgt:
|
Kläger
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Klägerin
|
§ 15 EStG
|
1.368.052 DM
|
-
|
§ 18 EStG
|
26.520 DM
|
-
|
§ 19 EStG
|
95.338 DM
|
110.994 DM
|
§ 20 EStG
|
89.195 DM
|
9.560 DM
|
§ 21 EStG
|
./.
2.056.493 DM
|
-
|
Die (gesondert festgestellten) Verluste aus
Vermietung und Verpachtung erzielte der Kläger als
Gesellschafter einer GbR, die ein Gebäude errichtet hat, in
dem u.a. ein Altenheim betrieben wurde. Die Planungen hierfür
hatten bereits im Jahr 1995 begonnen. Nach den Feststellungen des
Finanzgerichts (FG) entfielen auf den Kläger Einnahmen von
646.261 DM, Schuldzinsen von 1.522.456 DM und (degressive)
Absetzung für Abnutzung (AfA) von 1.231.600 DM.
Das FA ermittelte eine Einkommensteuer nach
der Splittingtabelle von 337.448 DM. Bei Anwendung des § 2
Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes i.d.F. des
Steuerentlastungsgesetzes 1999/ 2000/2002 (EStG) ging es von Summen
der positiven Einkünfte von 1.579.105 DM (Kläger) bzw.
120.554 DM (Klägerin), einer Summe der negativen
Einkünfte von 2.056.493 DM und ausgleichsfähigen
negativen Einkünften von 839.552 DM bzw. 110.277 DM
aus.
Der Einspruch der Kläger, mit dem sie
vortrugen, der beschränkte Verlustausgleich nach § 2 Abs.
3 EStG verletze den Grundsatz der Besteuerung nach der
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und den Vertrauensschutz
für die bereits im Jahr 1995 getroffene
Vermögensdisposition, blieb erfolglos.
Das FG wies die Klage, mit der die
Kläger eine Festsetzung der Einkommensteuer auf 0 DM bzw. eine
Vorlage an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) beantragt hatten,
ab (EFG 2004, 996 = SIS 04 24 01). Der begrenzte Verlustausgleich
nach § 2 Abs. 3 EStG sei verfassungsrechtlich nicht zu
beanstanden.
Mit ihrer Revision rügen die
Kläger Verfassungswidrigkeit des § 2 Abs. 3 EStG. Wenn
der Gesetzgeber sich zur Steuererhöhung gezwungen sehe,
müsse er die Gesetze so gestalten, dass die zur Steuerzahlung
verpflichteten Bürger wirtschaftlich nicht überfordert
oder sogar enteignet würden. Zumindest sei durch
Übergangsregelungen Vertrauensschutz für frühere
Dispositionen zu gewähren. Es sei willkürlich,
Einkommensteuer unter Missachtung der tatsächlichen
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit im Veranlagungszeitraum
festzusetzen. Steuern auf einen Gesamtbetrag der Einkünfte zu
erheben, der tatsächlich nicht erzielt werde, sei ein
enteignungsgleicher, letztlich die Existenz gefährdender
Eingriff. Dies sei mit dem Hinweis auf die künftige
Verrechenbarkeit der Verluste nicht zu rechtfertigen, denn diese
sei keineswegs gesichert (vgl. z.B. mangels Verbesserung der
wirtschaftlichen Situation, Krankheit, Tod). Auch hinter
Abschreibungen stehe wirtschaftlich ein Abfluss an
Liquidität.
Die Kläger beantragen, das Verfahren
auszusetzen und die Entscheidung des BVerfG zur
Verfassungswidrigkeit des § 2 Abs. 3 EStG einzuholen.
Das FA beantragt, die Revision als
unbegründet zurückzuweisen. Eine Streckung der
Verlustverrechnung sei verfassungsrechtlich zulässig. Die
Existenz der Kläger sei nicht gefährdet, eine
unterschiedliche Behandlung von echten und unechten Verlusten
gerechtfertigt (BRDrucks 560/03, S. 13). Der sog.
Halbteilungsgrundsatz gelte nicht für die Einkommensteuer. Die
unechte Rückwirkung sei unter Berücksichtigung des
Rückgangs des Einkommensteueraufkommens verfassungsrechtlich
zulässig.
Während des Revisionsverfahrens sind
Änderungsbescheide ergangen. Dem zuletzt am 18.8.2006
ergangenen liegen folgende Einkünfte zugrunde:
|
Kläger
|
Klägerin
|
§ 15 EStG
|
1.362.954 DM
|
1.093 DM
|
§ 18 EStG
|
26.520 DM
|
-
|
§ 19 EStG
|
95.338 DM
|
110.994 DM
|
§ 20 EStG
|
189.932 DM
|
9.574 DM
|
§ 21 EStG
|
./.
1.282.120 DM
|
-
|
Das FA ermittelte die Einkommensteuer nach
der Splittingtabelle mit 364.073 DM. Dabei geht es nunmehr von
einer Summe der positiven Einkünfte von 1.674.744 DM
(Kläger) bzw. 121.661 DM (Klägerin), einer Summe der
negativen Einkünfte in Höhe von 1.282.120 DM und einem
ausgleichsfähigen Verlust von 887.372 DM bzw. 110.831 DM
aus.
Auf Anfrage hat das Bundesministerium der
Finanzen (BMF) mitgeteilt, dass es dem Verfahren nicht
beitritt.
B.
Entscheidungsgründe
Das Verfahren ist nach Art. 100 Abs. 1 des
Grundgesetzes (GG) auszusetzen. Der erkennende Senat ist der
Auffassung, dass § 2 Abs. 3 Sätze 2 bis 8 und § 10d
Abs. 1 Sätze 2 bis 4 und Abs. 2 Sätze 2 bis 4, Satz 5
Halbsatz 2 und Abs. 3 EStG wegen Verletzung des Grundsatzes der
Normenklarheit verfassungswidrig sind.
I. Gesetzeswortlaut
§ 2 Abs. 3 Sätze 2 bis 8 EStG hat
folgenden Wortlaut:
|
„Bei der Ermittlung der Summe der
Einkünfte sind zunächst jeweils die Summen der
Einkünfte aus jeder Einkunftsart, dann die Summe der positiven
Einkünfte zu ermitteln. Die Summe der positiven Einkünfte
ist, soweit sie den Betrag von 100.000 Deutsche Mark
übersteigt, durch negative Summen der Einkünfte aus
anderen Einkunftsarten nur bis zur Hälfte zu mindern. Die
Minderung ist in dem Verhältnis vorzunehmen, in dem die
positiven Summen der Einkünfte aus verschiedenen
Einkunftsarten zur Summe der positiven Einkünfte stehen.
Übersteigt die Summe der negativen Einkünfte den nach
Satz 3 ausgleichsfähigen Betrag, sind die negativen Summen der
Einkünfte aus verschiedenen Einkunftsarten in dem
Verhältnis zu berücksichtigen, in dem sie zur Summe der
negativen Einkünfte stehen. Bei Ehegatten, die nach den
§§ 26, 26b zusammen veranlagt werden, sind nicht nach den
Sätzen 2 bis 5 ausgeglichene negative Einkünfte des einen
Ehegatten dem anderen Ehegatten zuzurechnen, soweit sie bei diesem
nach den Sätzen 2 bis 5 ausgeglichen werden können;
können negative Einkünfte des einen Ehegatten bei dem
anderen Ehegatten zu weniger als 100.000 Deutsche Mark ausgeglichen
werden, sind die positiven Einkünfte des einen Ehegatten
über die Sätze 2 bis 5 hinaus um den Unterschiedsbetrag
bis zu einem Höchstbetrag von 100.000 Deutsche Mark durch die
noch nicht ausgeglichenen negativen Einkünfte dieses Ehegatten
zu mindern, soweit der Betrag der Minderungen bei beiden Ehegatten
nach den Sätzen 3 bis 6 den Betrag von 200.000 Deutsche Mark
zuzüglich der Hälfte des den Betrag von 200.000 Deutsche
Mark übersteigenden Teils der zusammengefaßten Summe der
positiven Einkünfte beider Ehegatten nicht übersteigt.
Können negative Einkünfte des einen Ehegatten bei ihm
nach Satz 3 zu weniger als 100.000 Deutsche Mark ausgeglichen
werden, sind die positiven Einkünfte des anderen Ehegatten
über die Sätze 2 bis 6 hinaus um den Unterschiedsbetrag
bis zu einem Höchstbetrag von 100.000 Deutsche Mark durch die
noch nicht ausgeglichenen negativen Einkünfte des einen
Ehegatten zu mindern, soweit der Betrag der Minderungen bei beiden
Ehegatten nach den Sätzen 3 bis 7 den Betrag von 200.000
Deutsche Mark zuzüglich der Hälfte des den Betrag von
200.000 Deutsche Mark übersteigenden Teils der
zusammengefaßten Summe der positiven Einkünfte beider
Ehegatten nicht übersteigt. Die Sätze 4 und 5 geltend
entsprechend.“
|
Der sich auf diese Regelung beziehende §
10d Abs. 1 und 2, jeweils Sätze 2 ff., Abs. 3 EStG lautet:
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„Die negativen Einkünfte sind
zunächst jeweils von den positiven Einkünften derselben
Einkunftsart abzuziehen, die nach der Anwendung des § 2 Abs. 3
verbleiben. Soweit in diesem Veranlagungszeitraum durch einen
Ausgleich nach § 2 Abs. 3 Satz 3 oder einen Abzug nach Absatz
2 Satz 3 die dort genannten Beträge nicht ausgeschöpft
sind, mindern die nach der Anwendung des Satzes 2 verbleibenden
negativen Einkünfte die positiven Einkünfte aus anderen
Einkunftsarten bis zu einem Betrag von 100.000 Deutsche Mark,
darüber hinaus bis zur Hälfte des 100.000 Deutsche Mark
übersteigenden Teils der Summe der positiven Einkünfte
aus anderen Einkunftsarten. Bei Ehegatten, die nach den
§§ 26, 26b zusammen veranlagt werden, gilt § 2 Abs.
3 Satz 6 bis 8 sinngemäß, soweit in diesem
Veranlagungszeitraum durch einen Ausgleich nach § 2 Abs. 3
Satz 6 und 7 oder einen Abzug nach Absatz 2 Satz 4 die dort
genannten Beträge nicht ausgeschöpft sind. ...
|
|
|
|
In jedem folgenden Veranlagungszeitraum
sind die negativen Einkünfte zunächst jeweils von den
positiven Einkünften derselben Einkunftsart abzuziehen, die
nach der Anwendung des § 2 Abs. 3 verbleiben. Soweit in diesem
Veranlagungszeitraum durch einen Ausgleich nach § 2 Abs. 3 die
dort genannten Beträge nicht ausgeschöpft sind, mindern
die nach der Anwendung des Satzes 2 verbleibenden negativen
Einkünfte die positiven Einkünfte aus anderen
Einkunftsarten bis zu einem Betrag von 100.000 Deutsche Mark,
darüber hinaus bis zur Hälfte des 100.000 Deutsche Mark
übersteigenden Teils der Summe der positiven Einkünfte
aus anderen Einkunftsarten. Bei Ehegatten, die nach den
§§ 26, 26b zusammen veranlagt werden, gilt § 2 Abs.
3 Satz 6 bis 8 sinngemäß, soweit in diesem
Veranlagungszeitraum durch einen Ausgleich nach § 2 Abs. 3
Satz 6 und 7 die dort genannten Beträge nicht
ausgeschöpft sind. Der Abzug ist nur insoweit zulässig,
als die Verluste nicht nach Absatz 1 abgezogen worden sind und in
den vorangegangenen Veranlagungszeiträumen nicht nach den
Sätzen 1 bis 4 abgezogen werden konnten. ...
|
|
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|
Für die Anwendung von Absatz 1 Satz 1
und 3 sowie Absatz 2 Satz 3 gilt § 2 Abs. 3 Satz 4 und 5
sinngemäß.“
|
II. Rechtsprechung des BVerfG
Das aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs.
3, Art. 19 Abs. 4 GG) folgende Bestimmtheitsgebot verlangt vom
Gesetzgeber, Vorschriften so genau zu fassen, wie dies nach der
Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte mit Rücksicht auf
den Normzweck möglich ist. Der Betroffene muss die Rechtslage
anhand der gesetzlichen Regelung so erkennen können, dass er
sein Verhalten danach auszurichten vermag. Soweit die praktische
Bedeutung einer Regelung vom Zusammenspiel der Normen
unterschiedlicher Regelungsbereiche abhängt, müssen die
Klarheit des Normeninhalts und die Vorhersehbarkeit der Ergebnisse
der Normanwendung auch im Hinblick auf dieses Zusammenwirken
gesichert sein. Die Anforderungen an die Bestimmtheit und Klarheit
der Norm dienen zugleich dazu, die Verwaltung zu binden und ihr
Verhalten nach Inhalt, Zweck und Ausmaß zu begrenzen und
haben demokratische Funktion. Schließlich sollen sie die
Gerichte in die Lage versetzen, die Verwaltung anhand rechtlicher
Maßstäbe zu kontrollieren, und dienen zugleich
demokratischen Prinzipien. Die verfassungsrechtlich sichergestellte
Gewähr von Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) vermag einer
unbestimmten oder unklaren Norm nicht zur Bestimmtheit oder
Klarheit zu verhelfen. Die Anforderungen im Einzelfall richten sich
nach Art (unten III.) und Schwere (unten IV.) des jeweiligen
Eingriffs. Sie erhöhen sich, wenn die Unsicherheit bei der
Beurteilung der Gesetzeslage die Betätigung von Grundrechten
erschwert. Je schwerwiegendere Auswirkungen ein Gesetz hat, desto
höher sind die an die Gesetzesbestimmtheit und -klarheit zu
stellenden Anforderungen (z.B. BVerfG-Beschlüsse vom 3.3.2004
1 BvF 3/92, BVerfGE 110, 33, 53 ff.; vom 9.4.2003 1 BvL 1/01, 1 BvR
1749/01, BVerfGE 108, 52, 75 = SIS 03 38 38; Urteil vom 19.3.2003 2
BvL 9-12/98, BVerfGE 108, 1, 20, m.w.N.; Beschluss vom 8.1.1981 2
BvL 3, 9/77, BVerfGE 56, 1, 13).
Für den Bereich des Steuerrechts
müssen nach der Rechtsprechung des BVerfG die
steuerbegründenden Tatbestände so bestimmt sein, dass der
Steuerpflichtige (unten V.) die auf ihn entfallende Steuerlast
vorausberechnen kann (z.B. BVerfG-Beschlüsse vom 23.10.1986 2
BvL 7, 8/84, BVerfGE 73, 388, 400; vom 12.10.1978 2 BvR 154/74,
BVerfGE 49, 343, 362, jeweils m.w.N.). An dem rechtsstaatlichen
Gebot der Voraussehbarkeit und Berechenbarkeit der Steuerlasten hat
das BVerfG - entgegen im Schrifttum geäußerter Zweifel
(vgl. z.B. Holdorf, BB 2001, 2085; Werner, Die Mindestbesteuerung
im deutschen und US-amerikanischen Einkommensteuerrecht, 2000, S.
75 f.) - stets festgehalten und seine Beachtung in jüngerer
Zeit zunehmend häufiger angemahnt (vgl. z.B. BVerfG-Beschluss
des Zweiten Senats vom 10.11.1998 2 BvR 1057/91 u.a., BVerfGE 99,
216, 243, BStBl II 1999, 182, 191 = SIS 99 04 06; Urteil in BVerfGE
108, 1, 20; Beschluss in BVerfGE 110, 33, 53; vgl. auch zum
Zusammenwirken von Sozial- und Steuernorm in BVerfGE 108, 52, 75 =
SIS 03 38 38; vgl. auch Papier/Möller, Archiv des
öffentlichen Rechts - AöR - 122, S. 177, 185, 197;
Heintzen, Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft - DStJG - 28
(2005), S. 163, 177).
III. Art des Eingriffs
1. § 2 Abs. 3 Sätze 2 ff. EStG und
der hierauf Bezug nehmende § 10d Abs. 1 bis 3 EStG sind als
Fiskalzwecknormen - wie das Polizeirecht - Eingriffsnormen
(BVerfG-Beschluss vom 18.1.2006 2 BvR 2194/99, HFR 2006, 507,
BFH/NV 2006, Beilage 3, 368 = SIS 06 16 42), für die besondere
Anforderungen an Klarheit, Verständlichkeit,
Praktikabilität und Justiziabilität zu stellen sind (vgl.
z.B. Birk, DStJG 27 (2004), S. 9, 14; Benda, DStZ 1984, 159, 162).
Sie bezwecken eine Mindestbesteuerung durch eine Begrenzung der
Verrechnung der positiven und negativen Einkünfte
verschiedener Einkunftsarten, d.h. der sog. vertikalen
Verlustverrechnung (BTDrucks 14/442, S. 2; 14/443, S. 15). Geregelt
wird die Verrechnung im Jahr des Erzielens von negativen
Einkünften, der sog. Verlustausgleich, und ihre Verrechnung in
früheren und späteren Veranlagungszeiträumen, der
sog. Verlustabzug (Verlustrück- und -vortrag). Letztlich nicht
betroffen sind die Steuerpflichtigen, die in keiner Einkunftsart
Einkünfte von mehr als 100.000 DM (ab 2002: 51.500 EUR)
erzielen.
Diese sog. Mindeststeuer bewirkt eine
Verluststreckung über mehrere Veranlagungszeiträume und
erhöht jeweils bis zur vollständigen Verrechnung der
negativen Einkünfte die Steuerlast. Sie ist rechtssystematisch
keine Einschränkung einer Steuerbegünstigung (vgl. hierzu
BVerfG-Beschluss vom 19.4.1978 2 BvL 2/75, BVerfGE 48, 210, 222 =
SIS 78 03 10), sondern eine (weitere) Abkehr von dem dem deutschen
Ertragsteuerrecht zugrunde liegenden Prinzip der synthetischen
Gesamteinkommensteuer (vgl. § 2 Abs. 3 EStG in der bis
einschließlich 1998 geltenden Fassung z.B. Lang in
Tipke/Lang, Steuerrecht, 18. Aufl., § 9 Rz. 1; Hey
Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, S. 488; Werner,
a.a.O., S. 61). Die gestreckte Verlustverrechnung kann zwar im
Einzelfall durch zusätzliche Ausnutzung von Freibeträgen
und erhöhte Progressionsauswirkung im Rahmen des Verlustabzugs
auch die Steuerlast senken. Diese indirekten Rechtsfolgen des
begrenzten Verlustausgleichs waren aber ebenso wenig Zweck der sog.
Mindeststeuer wie z.B. die mittelbare Einschränkung
abziehbarer außergewöhnlicher Belastungen (vgl. §
33 Abs. 3 EStG).
2. Die
„Mindeststeuer“-Regelung dient - im Gegensatz
zum ursprünglichen Gesetzesplan (BTDrucks 14/23, S. 167) -
nicht der Abwehr sog. Abschreibungsmodelle o.Ä. und ist keine
Reaktion auf komplexe Sachverhaltsgestaltungen der
Steuerpflichtigen, die spiegelbildlich regelmäßig eine
vergleichbare komplexe Gesetzesantwort verlangen (vgl. Birk, DStJG
27 (2004), S. 9, 14; Hey, a.a.O., S. 556; Heintzen, DStJG 28
(2005), S. 163, 187). Sie beruht auf der Dritten
Beschlussempfehlung des Finanzausschusses und führt zu einer
allgemeinen Begrenzung der Verlustverrechungsmöglichkeiten
(BTDrucks 14/442, S. 2; Dritter Bericht des Finanzausschusses,
BTDrucks 14/443, S. 15). Anlass für die rechnerische
Beschränkung der Verrechnung tatsächlich entstandener
Verluste war ein rapider Rückgang des Aufkommens aus der
Einkommensteuer, insbesondere veranlasst durch die Inanspruchnahme
von Sonderabschreibungen nach dem Fördergebietsgesetz -
FördG - (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs - BFH - vom
9.5.2001 XI B 151/00, BFHE 195, 314, BStBl II 2001, 552 = SIS 01 09 49, m.w.N.; vgl. auch BTDrucks 15/1518, S. 13).
IV. Schwere des Eingriffs
Die Mindeststeuer berührt den
Schutzbereich der Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 14, Art. 20
Abs. 1 i.V.m. Art. 1 GG.
1. Nach überwiegender Auffassung im
Schrifttum verletzt die Beschränkung des Verlustausgleichs in
§ 2 Abs. 3 EStG die durch Art. 3 Abs. 1 GG garantierte
Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, das
sog. Nettoprinzip und das Gebot der Folgerichtigkeit und führt
letztlich aufgrund der Differenzierung nach Einkunftsarten zu einer
„Zwei-Klassen-Gesellschaft“ (Eckhoff, DStJG 28 (2005),
S. 11, 36; vgl. z.B. Stapperfend, DStJG 24 (2001), S. 329, 363;
Herzig/ Briesemeister, DStR 1999, 1377, 1382; Offerhaus, DStZ 2000,
9, 11; Raupach/Böckstiegel, FR 1999, 617, 621; Wendt, DStJG 28
(2005), S. 41, 71 ff.; Schmidt/Seeger, EStG, 22. Aufl., § 2 Rz
78; Hallerbach in Herrmann/Heuer/Raupach - HHR -, Steuerreform I,
§ 2 EStG Anm. R 9; Holdorf, BB 2001, 2085; Lang in Tipke/Lang,
a.a.O., § 9 Rz. 67; Kirchhof in Kirchhof, EStG, 3. Aufl.,
§ 2 Rn 129; Kirchhof/Geserich, in:
Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 2 Rdnr. D 250, 257;
Blümich/Stuhrmann, § 2 EStG Rz. 20; Handzik in
Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 2
Rn 210; Lehner, in: Lehner, Verluste im nationalen und
internationalen Steuerrecht, S. 20; Nolte, Mindestbesteuerung -
Verlustrechnung in der Praxis, S. 22 f.; Palm, DStR 2002, 152;
Arndt/Jenzen, DStR 1998, 1818, 1820; Ritzer, Die Mindestbesteuerung
nach dem Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002, S. 18 f.; vgl.
auch Beschlüsse des FG Münster vom 15.11.2000 4 V 1612,
1617/00 E, EFG 2001, 77 = SIS 01 78 73, und des FG München vom
12.10.2004 15 V 2431/04, EFG 2005, 175 = SIS 05 05 52).
Dem ist der erkennende Senat zwar in mehreren
summarischen Verfahren nach § 69 Abs. 2 und 3 der
Finanzgerichtsordnung (FGO) wegen der die
Veranlagungszeiträume übergreifenden Wirkung des Art. 3
Abs. 1 GG nicht gefolgt (vgl. Beschluss in BFHE 195, 314, BStBl II
2001, 552 = SIS 01 09 49; Beschlüsse vom 6.3.2003 XI B 7/02,
BFHE 202, 141, BStBl II 2003, 516 = SIS 03 23 67, und XI B 76/02,
BFHE 202, 147, BStBl II 2003, 523 = SIS 03 23 68; vgl. zum
abschnittsübergreifenden Nettoprinzip auch BVerfG-Beschluss
vom 22.7.1991 1 BvR 313/88, HFR 1992, 423; zustimmend Werner, Der
Steuerberater 2001, 379; krit. Hergarten, DStR 2001, 1876; Holdorf,
BB 2001, 2085; Hallerbach, FR 2001, 780). Gleichwohl verkennt er
nicht, dass die Begrenzung des vertikalen Verlustausgleichs trotz
der Streckung der Verlustverrechnung nicht nur bei einer kleinen
Zahl von Steuerpflichtigen (vgl. hierzu BVerfG-Beschlüsse vom
14.6.1994 1 BvR 1022/88, BVerfGE 91, 93 = SIS 94 17 06, und vom
8.10.1991 1 BvL 50/86, BVerfGE 84, 348 = SIS 91 24 36) mit gleicher
wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit zu nennenswerten
Belastungsunterschieden führen kann. Auch besteht
naturgemäß keine Gewissheit, die Verluste in Zukunft
verrechnen zu können (vgl. auch Vorlage des erkennenden Senats
an den Großen Senat des BFH vom 28.7.2004 XI R 54/99, BFHE
207, 404, BStBl II 2005, 262 = SIS 05 03 66, zur Frage der
Nichtvererbbarkeit von Verlusten). Bei konstanter
Einkünftestruktur bleibt zudem die Verlustverrechnung
rechtssystematisch in Zukunft ausgeschlossen (vgl. Ritzer, a.a.O.,
S. 21). Da der sog. horizontale Verlustausgleich zwischen den
Einkünften derselben Einkunftsart nach wie vor unbegrenzt
zulässig ist, sind ferner Bezieher gleichartiger
Einkünfte bessergestellt als Steuerpflichtige mit
Einkünften aus verschiedenen Einkunftsarten, obgleich die
systematische Zuordnung zu verschiedenen Einkunftsarten
grundsätzlich noch keine steuerliche Schlechterstellung
rechtfertigt (BVerfG-Beschluss vom 30.9.1998 2 BvR 1818/91, BVerfGE
99, 88 = SIS 98 23 05); so sind z.B. „unechte“
Verluste innerhalb großer Immobilienvermögen unbegrenzt,
„echte“ Verluste eines Start-up-Unternehmers mit
positiven Einkünften aus einer Immobilie nur begrenzt
auszugleichen (z.B. Sachverhalt in BFHE 202, 147, BStBl II 2003,
523 = SIS 03 23 68; Nolte, a.a.O., S. 23).
2. Die begrenzte Verlustverrechung
berührt zudem Art. 14 GG. Wie der 2. Senat des BVerfG mit
Beschluss in HFR 2006, 507, BFH/NV 2006, Beilage 3, 368 = SIS 06 16 42 entschieden hat, fällt die Steuerbelastung in den
Schutzbereich der Eigentumsgarantie. Die Gestaltungsfreiheit des
Gesetzgebers wird durch die allgemeinen Grundsätze der
Verhältnismäßigkeit begrenzt. Nach der
Rechtsprechung des 1. Senats des BVerfG ist das Eigentumsgrundrecht
zumindest dann verletzt, wenn die Geldleistungspflichten den
Betroffenen übermäßig belasten und seine
Vermögensverhältnisse so grundlegend
beeinträchtigen, dass sie erdrosselnde Wirkung haben (Urteil
vom 8.4.1997 1 BvR 48/94, BVerfGE 95, 267, 300 = SIS 98 22 10). Da
nach der Systematik der Mindeststeuer, eine Einkommensteuer auch
dann zu erheben ist, wenn nach Saldierung der tatsächlich
erzielten Einkünfte keine Einkünfte verbleiben, die
rechnerisch verbleibenden Einkünfte nicht mehr die Steuerlast
decken oder nach Saldierung und Abzug der Steuerlast dem
Steuerpflichtigen nur noch ein geringer Betrag vom Hinzuerworbenen
verbleibt, kann die Mindeststeuer je nach Sachlage erdrosselnd oder
unverhältnismäßig sein. Auch bei hohem Einkommen
muss dem Steuerpflichtigen ein - absolut und im Vergleich zu
anderen Einkommensgruppen betrachtet - hohes, frei verfügbares
Einkommen bleiben, das die Privatnützigkeit des Einkommens
sichtbar macht (BVerfG-Beschluss in HFR 2006, 507, 511, BFH/NV
2006, Beilage 3, 368, 374 = SIS 06 16 42). Zur Veranschaulichung
der Problematik wird auf den im Streitfall ergangenen Bescheid vom
3.8.2000 verwiesen, in dem sich bei positiven Einkünften von
1.699.659 DM und negativen Einkünften von 2.056.493 DM, also
einem Saldo von minus 356.834 DM nach der Splittingtabelle eine
Einkommensteuer von 337.448 DM errechnete.
3. Diese Begrenzung des Verlustausgleichs
berührt zudem den aus Art. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG
abzuleitenden Schutz des Existenzminimums. Der Staat muss dem
Steuerpflichtigen sein Einkommen mindestens insoweit steuerfrei
belassen, als es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für
ein menschenwürdiges Dasein benötigt wird. Der
existenznotwendige Aufwand ist in angemessener und
realitätsgerechter Höhe von der Einkommensteuer
freizustellen (vgl. z.B. BVerfG-Beschlüsse vom 25.9.1992 2 BvL
5/91 u.a., BVerfGE 87, 153, BStBl II 1993, 413 = SIS 92 21 01; vom
10.11.1998 2 BvL 42/93, BVerfGE 99, 246, BStBl II 1999, 174 = SIS 99 04 07). Diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben wird infolge der
Mindestbesteuerungsregelung nur noch entsprochen, wenn die
positiven Einkünfte die negativen Einkünfte anderer
Einkunftsarten in einem Ausmaß übersteigen, dass dem
Steuerpflichtigen von seinem Erworbenen nach Erfüllung der
Einkommensteuerpflicht noch ausreichende Mittel zur
Existenzsicherung verbleiben. Steuerpflichtigen, deren negative
bzw. positive Einkünfte verschiedener Einkunftsarten den sog.
Bagatellbetrag von 100.000 DM bzw. 51.500 EUR und deren echte
Verluste zugleich die positiven Einkünfte übersteigen,
verbleibt von ihrem Erworbenen nichts mehr. Dasselbe Ergebnis kann
auch bei Steuerpflichtigen eintreten, deren positive Einkünfte
zwar die Verluste übersteigen, bei denen die wegen der
Mindeststeuer festzusetzende Steuer aber den Überschuss
aufzehrt.
Für diese Fälle hat der erkennende
Senat, obgleich die Einkommensteuer nicht aufgrund einer
Liquiditäts- oder Verbrauchsrechnung festgesetzt wird, eine
Veranlagungszeitraum übergreifende Betrachtung abgelehnt und
wiederholt die Aussetzung der Vollziehung (AdV) der
Einkommensteuerbescheide angeordnet, weil das Existenzminimum im
aktuellen Veranlagungszeitraum verfügbar sein muss und mit der
Fiktion eines verbliebenen Ertrags faktisch die Vorgaben der
Rechtsprechung des BVerfG zum Verbleiben des Existenzminimums
unterlaufen werden. Auch die Finanzverwaltung gewährt in
diesen Fällen nunmehr AdV (vgl. BFH-Beschlüsse in BFHE
202, 147, BStBl II 2003, 523 = SIS 03 23 68; in BFHE 202, 141,
BStBl II 2003, 516 = SIS 03 23 67; vom 25.2.2005 XI B 78/02, BFH/NV
2005, 1279 = SIS 05 31 87; vom 7.7.2004 XI B 231/02, BFH/NV 2005,
178 = SIS 05 07 52; vom 25.6.2004 XI B 20/03, BFH/NV 2005, 176 =
SIS 05 07 51; Oberfinanzdirektion Magdeburg, Verfügung vom
27.8.2003 S 2117 A -2- St 214, Steuererlasse in Karteiform, AO
1977, § 361 Nr. 268 = SIS 03 50 26; z.B. Stapperfend, DStJG 24
(2001), S. 329, 365; Herzig/Briesemeister, DStR 1999, 1377,
1381).
4. Die Unsicherheit in der Beurteilung der
Mindestbesteuerungsregeln erschwert ferner unmittelbar die
Betätigung der Freiheitsgrundrechte (Art. 2, 12 GG; zum Aspekt
der Rechtssicherheit vgl. auch Papier/Möller, AöR 122, S.
177, 179). Begünstigt ist letztlich jene kleine Zahl von
Steuerpflichtigen, die eine „Spitzenberatung“
zur Quantifizierung und Vermeidung der stets individuellen Folgen
der Mindestbesteuerung in Anspruch nehmen können.
Schließlich eröffnet das EStG zur Vermeidung oder
Minimierung der Mindeststeuer vielfältige - keineswegs des
Missbrauchs verdächtige - Handlungsspielräume (für
den Streitfall vgl. z.B. zur Umqualifizierung von negativen
Einkünften aus Vermietung und Verpachtung in negative
Einkünfte aus Gewerbebetrieb: Werner, a.a.O., S. 164; im
Übrigen siehe z.B. Ritzer, a.a.O., S. 9, 20, 36; Altfelder, FR
2000, 18, 23; Raupach/ Böckstiegel, FR 1999, 487, 492;
Herzig/Briesemeister, DStR 1999, 1377, 1381; HHR/Hallerbach, §
2 EStG Anm. R 37; Günkel/ Hörger/Thömmes, DStR 1999,
1873, 1877). Bei jeder Investition mit vorhersehbaren Verlustphasen
sind die Verlustverrechnungsmöglichkeiten integraler
Bestandteil wirtschaftlichen Kalkulierens (vgl. Hey, a.a.O., S.
489; zur Rückwirkung siehe z.B. BVerfG-Beschluss vom 5.2.2002
2 BvR 305/93, BVerfGE 105, 17 = SIS 02 09 34).
Auch die Ausübung steuerlicher Wahlrechte
(vgl. § 10d Abs. 1 Sätze 7, 8, §§ 26 ff. EStG)
beeinflusst aufgrund der Mindeststeuerregelung die Höhe des
Gesamtbetrags der Einkünfte und setzt folglich ein
vollumfängliches Verständnis vom - gleichzeitigen und
späteren - Ineinandergreifen von § 10d Abs. 1, 2 und
§ 2 Abs. 3 EStG voraus (vgl. insbesondere Ritzer, a.a.O., S.
103 ff.; zur günstigen Verlagerung von Einkunftsquellen
zwischen zusammenveranlagten Ehegatten z.B. HHR/Hallerbach, §
2 EStG Anm. R 37; aber auch Ritzer, a.a.O., S. 48 ff.).
5. Die Mindeststeuerregelung besitzt zudem in
Verbindung mit der Blankettnorm des § 370 der Abgabenordnung
(AO 1977) strafrechtliche Relevanz (vgl. z.B. Beschluss des
Bundesgerichtshofs - BGH - vom 9.6.2004 5 StR 579/03, BFH/NV 2005,
Beilage 2, 122 = SIS 05 04 52; Klein/Gast-de Haan, AO, 9. Aufl.,
§ 370 Rz. 5). § 370 AO 1977 stellt zusammen mit der
jeweils auszufüllenden Steuernorm (hier: § 2 Abs. 3,
§ 10d Abs. 1, 2 EStG) die Vorschrift dar, die der strengen
Fassung der Gesetzesbestimmtheit in Art. 103 Abs. 2 GG genügen
muss (vgl. BVerfG-Beschlüsse vom 8.5.1974 2 BvR 636/72,
BVerfGE 37, 201, 208; vom 11.8.1997 2 BvR 2334/96, Neue Zeitschrift
für Strafrecht 1998, 103). Konnte nach der bis 1998 geltenden
Gesetzeslage - von Ausnahmevorschriften abgesehen - die
Erklärung tatsächlich erzielter negativer oder positiver
Einkünfte gleich welcher Einkunftsart mangels
Steuerverkürzung nicht den Tatbestand einer
Steuerhinterziehung erfüllen, kommt nunmehr der
Erklärung, welcher Einkunftsart diese zuzuordnen sind, ggf.
erhebliche steuerrelevante Bedeutung zu.
V. Normadressat
Der Inhalt von Steuerrechtsnormen muss sich in
Tatbestand und Rechtsfolge aus der - objektivierten - Sicht der
Steuerpflichtigen erschließen.
1. Der von einer Vorschrift des EStG
„Betroffene“ (vgl. z.B. Beschluss in BVerfGE
110, 33, 53; Urteile in BVerfGE 108, 1, 20; vom 27.7.2005 1 BvR
668/04, BVerfGE 113, 348, und vom 12.4.2005 2 BvR 581/01, BVerfGE
112, 304) ist der Steuerpflichtige, nicht sein Steuerberater (Hey,
a.a.O., S. 559 ff.). Es reicht nicht aus, dass sich die
Rechtsfolgen einer Norm allenfalls Experten erschließen
(BVerfGE 110, 33, 64). Ebenso wie sich der Steuerpflichtige
persönlich durch unrichtige oder unvollständige Angaben
strafbar macht, muss er grundsätzlich anhand des ihm
zugehenden Steuerbescheids dessen Rechtmäßigkeit
beurteilen können. Der Schluss, bei Steuergesetzen könne
die Feststellung, ob eine Vorschrift noch dem Gebot der Klarheit
entspreche, nicht mehr aus der Sicht des Steuerpflichtigen
getroffen werden (Werner, a.a.O., S. 74; Tipke, Die
Steuerrechtsordnung, 2. Aufl., Bd. 1, S. 136), steht mit der
Rechtsprechung des BVerfG nicht im Einklang. Diese fordert für
die Voraussehbarkeit und Berechenbarkeit der Steuerlasten eine
Einfachheit und Klarheit der gesetzlichen Regelung, die es dem
„nicht steuerrechtskundigen Pflichtigen“
(Beschluss in BVerfGE 99, 216, 243 = SIS 99 04 06) erlaubt, seinen
Erklärungspflichten nachzukommen. Der Betroffene muss anhand
der gesetzlichen Regelung die Rechtslage so erkennen können,
dass er sein Verhalten danach auszurichten vermag (Beschlüsse
in BVerfGE 113, 348, und BVerfGE 112, 304, m.w.N.), denn die einmal
entstandene Steuer ist unumkehrbar. Auch Rechtsanwendungsgleichheit
und Sozialstaatsprinzip stehen der Annahme entgegen, von
Verfassungs wegen reiche es aus, wenn der Inhalt eines Gesetzes
für den Fachmann unter Aufbietung aller juristischen
Interpretationsmöglichkeiten irgendwie verständlich ist
(vgl. Hey, a.a.O., S. 559 ff.; Herzog, NJW 1999, 25, 26). Ausnahmen
sind möglicherweise zu machen, wenn der Normadressat
typischerweise steuerlich beraten ist (vgl. z.B. §§ 27
ff. des Körperschaftsteuergesetzes - KStG - ;
Missbrauchsbekämpfungsnormen). Hierzu gehören § 2
Abs. 3, § 10d EStG nicht (vgl. z.B. Stapperfend, DStJG 24
(2001), S. 329, 355; Raupach/Böckstiegel, FR 1999, 487, 488;
Böckstiegel/Betz, FR 2000, 793, 795; HHR/Hallerbach, §
10d EStG Anm. R 9; Hüsing, DB 2000, 1149 f.; a.A. Werner,
a.a.O., S. 76). Die Mindeststeuer differenziert allein nach der
Höhe der Einkünfte, nicht nach dem betroffenen
Personenkreis. Inländische Kapitalgesellschaften, die nach
§ 8 Abs. 2 KStG nur Einkünfte aus Gewerbebetrieb
erzielen, sind von der Verrechnungsbeschränkung ohnehin nicht
betroffen.
Im Übrigen ist der vorlegende Senat nach
eingehender Auseinandersetzung mit Wortlaut und Systematik des
§ 2 Abs. 3 Sätze 2 ff., § 10d Abs. 1 Sätze 2
ff. und Abs. 2 Satz 2 ff. EStG zu der Überzeugung gelangt,
dass die Gesetzeslage selbst für den Fachmann nicht mehr
hinreichend verständlich ist (ebenso z.B. Stapperfend, DStJG
24 (2001), S. 329, 371; Nolte, a.a.O., S. 109;
Raupach/Böckstiegel, FR 1999, 487, 495;
Günkel/Hörger/Thömmes, DStR 1999, 1873, 1877; Leis,
FR 2004, 53, 54; Holdorf, BB 2001, 2085, 2092). Zu den
typischerweise berufsmäßig abverlangten Pflichten eines
steuerlichen Beraters gehört die Beachtung geltenden Rechts,
nicht aber die - hier notwendige - wissenschaftliche Aufarbeitung,
teilweise Verwerfung und „Rekonstruktion“
(Altfelder, FR 2000, 18, 19) des Gesetzeswortlauts, mit dem - in
Anbetracht der hohen Fehleranfälligkeit nicht zu
vernachlässigenden - Risiko, für eine unvollständige
und/oder unzutreffende Beratung persönlich zu haften (vgl.
BGH-Urteil vom 20.11.1997 IX ZR 62/97, HFR 1998, 763 = SIS 98 07 70). Mit der Regelung der Mindestbesteuerung wird der
Höhepunkt einer Entwicklung erreicht, die die beratenden
Berufe zunehmend veranlasst, nicht mehr unmittelbar die Gesetze,
sondern nur noch die Erlasse der Finanzverwaltung zu beachten.
2. Nicht „Betroffener“ im
Sinne der Rechtsprechung des BVerfG ist die die Steuergesetze
vollziehende Finanzverwaltung (vgl. BVerfG-Beschluss vom 31.5.1988
1 BvR 520/83, BVerfGE 78, 214, 216 = SIS 88 22 02). Der Annahme,
der im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens erkannten Kompliziertheit
der gesetzlichen Regelung (dokumentiert z.B. in BRDrucks 475/4/99,
S. 3; Nolte, a.a.O., S. 110) könne mit der Möglichkeit
einer EDV-technischen Umsetzung durch die Verwaltung begegnet
werden, liegt ein grundlegender Irrtum über den Normadressaten
zugrunde.
VI. Verletzung des Gebots der
Normenklarheit
Gemessen an Art und Schwere der durch die
Mindeststeuerregelung betroffenen Grundrechte entsprechen § 2
Abs. 3 Sätze 2 ff., § 10d Abs. 1 Sätze 2 bis 4, Abs.
2 Sätze 2 bis 4, Satz 5 Halbsatz 2 und Abs. 3 EStG nicht mehr
dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit. Inhalt und
Systematik der Vorschrift erschließen sich bei hoher
Fehleranfälligkeit allenfalls „mit subtiler
Sachkenntnis, außerordentlichen methodischen Fähigkeiten
und einer gewissen Lust zum Lösen von
Denksport-Aufgaben“ (Erkenntnis des Österreichischen
Verfassungsgerichts vom 29.6.1990 G 81/82/90 u.a., Sammlung
12420/1990; wiedergegeben z.B. bei Kanzler, FR 2003, 665).
1. Im Schrifttum wird ausnahmslos die
Auffassung vertreten, dass die Mindeststeuerregelung
unverständlich, widersprüchlich, unpraktikabel und nicht
mehr justiziabel ist. Der „chaotische“ Wortlaut
sei ein „Paradebeispiel“ für die Verletzung
des Gebots der Normenklarheit, eine „Meisterleistung an
Verschleierungskunst“ (Handzik in Littmann/Bitz/Pust,
a.a.O., § 2 Rn 205, bzw. Altfelder, FR 2000, 18; vgl. z.B.
Kirchhof, AöR 128, S. 1, 39; Kirchhof/Geserich, in:
Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, a.a.O., § 2 Rdnr. D 281;
Kirchhof in Kirchhof, a.a.O., § 2 Rn 130; Stapperfend, DStJG
24 (2001), S. 329, 371; Böckstiegel/Betz, FR 2000, 793, 795;
Werner, a.a.O., S. 37; Raupach/Böckstiegel, FR 1999, 487, 492,
494; dies., FR 1999, 617, 621; Schmidt/Seeger, a.a.O., § 2 Rz
79; HHR/Hallerbach, § 2 EStG Anm. R 9; Blümich/
Stuhrmann, § 2 EStG Rz. 20; Lang in Tipke/Lang, a.a.O., §
9 Rz. 66; Birk, DStJG 27 (2004), S. 9, 14; Ritzer/Stangl, DStR
1999, 1, 8; Heintzen, DStJG 28 (2005), S. 163, 167 ff., 176;
Herzig/Briesemeister, DStR 1999, 1377, 1382; Eckhoff, DStJG 28
(2005), S. 11, 25; vgl. auch FG Berlin, Beschluss vom 4.3.2002 6 B
6333/01, EFG 2002, 597 = SIS 02 71 25).
Der erkennende Senat schließt sich
dieser Auffassung an und hält in Übereinstimmung mit der
Mehrzahl der genannten Autoren und abweichend von der Auffassung
des FG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 1.6.2006 3 K 2331/01, EFG 2006,
1253 = SIS 06 32 52; anders z.B. aber FG Berlin, Beschluss in EFG
2002, 597 = SIS 02 71 25) die Gesamtregelung wegen Verstoßes
gegen den Grundsatz der Normenklarheit für verfassungswidrig.
Gesetzestechnisch stand einer klaren Anleitung zur Berechnung
verrechenbarer Verluste im Prinzip nichts entgegen; ggf. hätte
der Gesetzgeber im Interesse der Normenklarheit ein einfacheres
Konzept entwickeln müssen.
2. Zum Zweck der begrifflichen Abgrenzung
schickt der vorlegende Senat voraus, dass er die Forderung des
BVerfG nach „Gesetzesbestimmtheit“ als eine
solche nach begrifflicher Präzision bei der Abfassung von
Normen, die Forderung nach „Normenklarheit“ als
eine solche nach möglichst übersichtlichem,
widerspruchsfreiem und verständlichem Recht versteht (zur
Abgrenzung vgl. z.B. Jehke, Bestimmtheit und Klarheit im
Steuerrecht, 2005, S. 28 ff., 180 ff.; Sandrock, in Festschrift
für Knut Ipsen, S. 781, 795). Dementsprechend geht er in
Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BVerfG davon aus,
dass die Auslegungsbedürftigkeit der in einer Norm verwendeten
unbestimmten Rechtsbegriffe allein dem rechtsstaatlichen
Erfordernis nach Normenbestimmtheit grundsätzlich nicht
entgegensteht (z.B. BVerfG-Beschluss vom 14.3.1967 1 BvR 334/61,
BVerfGE 21, 209, 215 = SIS 67 62 58). Die grundsätzliche
Zulässigkeit unbestimmter Gesetzesbegriffe entbindet aber den
Gesetzgeber nicht davon, die Vorschriften so zu fassen, dass sie
verständlich, d.h. insbesondere ohne innere Widersprüche
und nicht fehleranfällig und redaktionell genau sind
(Beschlüsse in BVerfGE 110, 33, 64, 72, 73; vom 7.7.1971 1 BvR
775/66, BVerfGE 31, 255, 264; in BVerfGE 78, 214, 226 = SIS 88 22 02). Der Anspruch des Betroffenen an die Informationsfunktion der
Norm wird umso größer je mehr Begriffe zur Beschreibung
der Regelung nötig werden, je komplexer die Begriffe sind und
je mehr Verknüpfungen zwischen ihnen bestehen (Kreppel, in
Festschrift für Werner von Simson, 1983, S. 119).
3. Der vorlegende Senat hält es in
Anbetracht der sachlichen Zusammenhänge für zwingend, die
Regelung der Verlustverrechnung insgesamt unter dem Gesichtspunkt
der Normenklarheit zu beurteilen. Die §§ 2 Abs. 3, 10d
EStG sind aufgrund der mit der Mindestbesteuerung beabsichtigten
Verluststreckung und des durch die Verweisungen dokumentierten
Zusammenspiels ein „untrennbares Ganzes“
(Beschluss in BVerfGE 110, 33, 76; s.o. unter B. IV.; Senat in BFHE
195, 314, BStBl II 2001, 552 = SIS 01 09 49). Die Vorschriften
über den Verlustausgleich und -abzug sind zudem
rechtssystematisch - anders als nach alter Rechtslage - bis zum
Verbrauch der einzelnen negativen Einkunftsarten in einem
Veranlagungszeitraum nebeneinander anzuwenden.
4. Gemessen an den vom BVerfG aufgestellten
Grundsätzen verletzen die streitgegenständlichen
Vorschriften den Grundsatz der Normenklarheit, denn sie sind
sprachlich unverständlich, widersprüchlich,
irreführend, unsystematisch aufgebaut und damit in
höchstem Maße fehleranfällig.
a) Die sprachliche Unverständlichkeit der
streitgegenständlichen Normen ist evident. Auf die Wiedergabe
des Gesetzeswortlauts unter B. I. wird zur Vermeidung von
Wiederholungen Bezug genommen.
Allein in § 2 Abs. 3 Sätze 2 ff.
EStG kumulieren sämtliche Merkmale einer dem Gebot der
Klarheit widersprechenden Norm: Eine gehäufte Verwendung
sprachlich kaum abgrenzbarer unbestimmter Rechtsbegriffe, eine
umfangreiche Textlänge, ein unübersichtlicher
Gesetzesaufbau, ein unklarer Satzbau, eine Häufung und Stufung
von Regel-Ausnahme-Techniken, Mehrfachverweisungen und
widersprüchliche Rechtsfolgenanordnungen (Handzik in
Littmann/Bitz/Pust, a.a.O., § 2 Rn 204). Die Komplexität
dieser Vorschriften kann sich zudem noch durch die zusätzliche
absolute Begrenzung des Verlustrücktrags in § 10d Abs. 1
Satz 1 EStG, durch § 2b (heute § 15b) EStG i.V.m. §
2 Abs. 3 EStG, die einen besonderen mehrstufigen Verrechnungskreis
bilden, und andere Verlustverrechnungsbeschränkungen i.V.m.
§ 10d EStG (§ 2a, § 15 Abs. 4, § 15a, § 22
Nr. 3 Sätze 3 und 4, § 23 Abs. 3 Sätze 6 und 7 EStG)
erhöhen.
aa) § 2 Abs. 3 EStG verwendet sprachlich
ungenaue bzw. unzutreffende, selbst vom Fachmann kaum noch zu
differenzierende Begriffe bzw. Wortkombinationen für
unterschiedliche Berechnungsgrößen, so: „Summe
der Einkünfte“, „die Summen der
Einkünfte aus jeder Einkunftsart“, „Summe
der positiven Einkünfte“, „negative Summen
der Einkünfte aus anderen Einkunftsarten“,
„negativen Summen der Einkünfte“,
„Summe der negativen Einkünfte“,
„positiven Summen der Einkünfte aus verschiedenen
Einkunftsarten“, „zusammengefassten Summe der
positiven Einkünfte“. Dabei treffen einige dieser
Formulierungen nicht den Wortsinn, so „negative Summen der
Einkünfte aus anderen Einkunftsarten“ statt
„Summe der negativen Einkünfte aus anderen
Einkunftsarten“ oder „negativen Summen der
Einkünfte“ statt „Summe der negativen
Einkünfte“ (vgl. Altfelder, FR 2000, 18, 40). Teil
und Ganzes verschwimmen, so bei „Summe der
Einkünfte“ und „Summen der
Einkünfte“ (Werner, a.a.O., S. 51). Hinzu kommt,
dass bereits der Kernbegriff „Einkünfte“
keineswegs eindeutig ist. Er kann in entscheidungsrelevanter Weise
als Ergebnis einer Einkunftsquelle oder als Summe oder Saldo der
Ergebnisse einer Einkunftsart verstanden werden. Diese
Unschärfe wirkt sich schon auf verständlich erscheinende
Begriffe wie „Summe der positiven
Einkünfte“ steuerwirksam aus (vgl. hierzu z.B.
Ritzer, a.a.O., S. 25 ff., m.w.N.; Werner, a.a.O., S. 51 f.).
Soweit das EStG an anderer Stelle einzelne dieser Begriffe
verwendet (§§ 24a, 39a Abs. 1 Nr. 5 Buchst. b EStG),
haben sie einen anderen Sinngehalt (Stapperfend, DStJG 24 (2001),
S. 329, 353). Der Mangel an verständlicher sprachlicher
Abgrenzung hat zudem in Steuerbescheiden, wie dem Senat aus
anhängigen Parallelverfahren bekannt ist, zu sprachlichen
Neuschöpfungen wie „Summen der positiven
Einkünfte aus jeder Einkunftsart“ oder
„ausgleichsfähige negative Summen der
Einkünfte“ geführt.
bb) Der Gesetzesaufbau ist unvollständig,
unübersichtlich und unsystematisch. Inhaltlich ist die
Regelung unvollständig. Es fehlt bereits eine Anleitung,
welche der vielfältig zu ermittelnden Größen den
letztlich maßgeblichen „Gesamtbetrag der
Einkünfte“ i.S. des § 2 Abs. 3 Satz 1 EStG
ergeben. In Anlehnung an die herkömmliche Ermittlung wäre
der Gesamtbetrag der Einkünfte als Saldo der positiven
Einkünfte abzüglich des ausgleichsfähigen Verlustes
zu verstehen. Da § 2 Abs. 3 Satz 4 EStG eine Minderung bei
jeder positiven Einkunftsart vorschreibt, kann der Gesamtbetrag
auch - höchst fehleranfällig - als Summe dieser
verhältnismäßig geminderten positiven
Einkünfte verstanden werden. Dieser Regelung liegt letztlich
ein Fehler in der gewählten Gesetzessystematik zugrunde: Die
Sätze 4 und 5 betreffen nicht die Ermittlung des Gesamtbetrags
der Einkünfte, wie es nach dem Gesetzesaufbau zu erwarten
wäre, sondern den rechtssystematisch erst nach Ermittlung des
Gesamtbetrags der Einkünfte anschließenden Verlustabzug
(vgl. § 10d Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 EStG). Soweit sie den
erst ab § 2 Abs. 3 Satz 6 ff. EStG geregelten
Ehegattenausgleich betreffen, sind sie rechtssystematisch ebenfalls
„verfrüht“ (vgl. auch Satz 8).
Auch die Anknüpfung des Satzes 4 an Satz
3 ist unverständlich; nach Satz 3 ist die Summe der positiven
Einkünfte zu mindern, Satz 4 schreibt hingegen eine
verhältnismäßige Minderung bei den einzelnen
Einkunftsarten vor (Altfelder, FR 2000, 18, 20). Satz 4 regelt
zudem mit einer äußerst schwerfälligen, daher auch
von der Finanzverwaltung nicht angewandten Methode (vgl. z.B. zu
Richtlinie 3 der Einkommensteuer-Richtlinien 1999, Hinweis 3,
Beispiel 1, Zeilen 27 ff.; Werner, a.a.O., S. 52) die Ermittlung
der für einen Verlustvortrag aus vorangegangenen
Veranlagungszeiträumen (§ 10d Abs. 2 EStG) oder einen
Verlustrücktrag aus dem folgenden Veranlagungszeitraum (§
10d Abs. 1 EStG) wesentlichen verbleibenden positiven
Einkünfte, Satz 5 die Ermittlung der für einen
Verlustrücktrag in das dem Veranlagungszeitraum vorangegangene
und/oder einen Verlustvortrag in die folgenden
Veranlagungszeiträume verbleibenden negativen Einkünfte
der verschiedenen Einkunftsarten (vgl. Altfelder, FR 2000, 18, 20;
Ritzer, a.a.O., S. 32; Blümich/Stuhrmann, § 2 EStG Rz.
18; Stapperfend, DStJG 24 (2001), S. 329, 334).
Abgesehen von dieser durch die fehlende
Gesetzessystematik verstärkten Verwirrung, ist Satz 5
unvollständig. Zum einen fehlt eine Satz 2 vergleichbare und
daher gebotene Anordnung, die Summe der negativen Einkünfte zu
berechnen, zum anderen eine Regelung für den Fall, dass die
Summe der negativen Einkünfte mangels positiver Einkünfte
nicht ausgeglichen werden kann (Ritzer, a.a.O., S. 31 f.). Auch
erschließt sich der Sinn der Berechnungen nach den
Sätzen 4 und 5 nur schwer, denn entgegen ihrer zwingend
erscheinenden Anordnungen können sie gänzlich
überflüssig sein (z.B. für den Verlustausgleich
einzeln Veranlagter; für § 10d EStG bei positiven und
negativen Einkünften von jeweils unter 100.000 DM oder
positiven und negativen Einkünften jeweils nur einer
Einkunftsart. Satz 4 bei voll ausgeglichenen positiven
Einkünften von weniger als 100.000 DM; Satz 5 bei voll
ausgeglichenen negativen Einkünften von unter 100.000 DM; vgl.
Ritzer, a.a.O., S. 32; vgl. auch die umfangreichen, aber letztlich
für den Verlustausgleich unnötigen Berechnungen bei
Schmidt/Seeger, a.a.O., § 2 Rz 70 bis 72). Nur wenn positive
und negative Einkünfte über 100.000 DM bzw. 51.500 EUR
vorliegen, machen die beiden
Verhältnismäßigkeitsrechnungen letztlich Sinn.
cc) Ab § 2 Abs. 3 Satz 6 EStG bedient
sich die Vorschrift einer unübersichtlichen
Verweisungstechnik. Die Sätze 6 und 7 erschließen sich
aufgrund der vielfältigen Verweisungen auf mehrgliedrige
Sätze, der verschiedenartigen Verfahren zur
Verlustberücksichtigung und der unterschiedlichen sprachlichen
Ausgestaltung (vgl. „Zurechnung“ von negativen
Einkünften; „Ausgleich“ von negativen
Einkünften; „Minderung ... durch negative
Einkünfte“) selbst dem ausgewiesenen Fachmann
„erst nach stundenlangen Überlegungen in
Umrissen“ (so Raupach/Böckstiegel, FR 1999, 487,
495; vgl. auch Stapperfend, DStJG 24 (2001), S. 329, 354). Die
Sätze 6 und 7 bedienen sich zudem einer das
Gesetzesverständnis erschwerenden Selbstbezüglichkeit:
Satz 6 verweist - in Halbsatz 6 - auf Satz 6 und Satz 7 verweist -
in Halbsatz 3 - auf Satz 7.
Zur Ermittlung der Auswirkungen eines
horizontalen Verlustausgleichs, d.h. der Verrechnung von negativen
und positiven Einkünften der selben Einkunftsart zwischen den
Ehegatten, der nach überwiegender Meinung im Schrifttum
aufgrund des § 2 Abs. 3 Satz 6 i.V.m. Satz 2 EStG als
weiterhin zulässig angesehen wird (vgl. aber auch
Raupach/Böckstiegel, FR 1999, 487, 496;
Günkel/Hörger/Thömmes, DStR 1999, 1873, 1877), auf
das vertikale Verlustausgleichsvolumen stehen aufgrund der
gesetzlichen Verweisungstechnik zwei sich denkgesetzlich
ausschließende sprachliche Alternativen zur Verfügung.
Die Formulierung in Satz 6 Halbsatz 2 „sind nicht nach den
Sätzen 2 bis 5 ausgeglichene negative Einkünfte des einen
Ehegatten dem anderen Ehegatten zuzurechnen“ spricht
dafür, dass bei dem „einen“ Ehegatten die
Sätze 2 bis 5 abschließend durchlaufen wurden, bevor
eine Übertragung der Verluste des anderen Ehegatten
stattfindet. Der Wortlaut des Satzes 6 Halbsatz 3 hingegen
„soweit sie bei diesem nach den Sätzen 2 bis 5
ausgeglichen werden können“ spricht für eine
originäre Berücksichtigung des horizontalen Ausgleichs
beim jeweils anderen Ehegatten im ersten Durchgang (vgl. z.B.
HHR/Hallerbach, § 2 EStG Anm. R 37, und Ritzer, a.a.O., S. 48
f.; Stapperfend, DStJG 24 (2001), S. 329, 336 f.).
dd) In den Sätzen 6 und 7 bedient sich
das Gesetz zudem ständiger Regel-Ausnahme-Techniken. Davon
ausgehend, dass der Verlustausgleich für jeden Ehegatten
zunächst gesondert zu ermitteln ist, regelt Satz 6 eine
Ausnahme hiervon, wobei er sich anschließend erneuter
Regel-Ausnahme-Techniken bedient. Ab Satz 6 setzen praktisch
ständige „Pendelbewegungen“ zwischen den
Einkünften von zusammenveranlagten Ehegatten ein, sei es
gleicher oder unterschiedlicher Art (vgl. Darstellungen z.B. bei
Altfeder, FR 2000, 18 ff.; Ritzer, a.a.O., S. 45 ff.; Stapperfend,
DStJG 24 (2001), S. 329, 336). Jeweils neue Obergrenzen für
die Ermittlung des vertikalen Verlustausgleichspotenzials
entstehen, deren Berechnung sich wiederum nicht dem Gesetz mit der
in Anbetracht der Komplexität zu erwartenden Klarheit ergibt.
Zur Diskussion stehen folgende Berechnungsformeln: verbliebener
„Bagatellbetrag“ + 1/2 (Summe der positiven
Einkünfte ./. verbliebener
„Bagatellbetrag“) oder
„Bagatellbetrag“ + 1/2 (Summe der positiven
Einkünfte ./. „Bagatellbetrag“) ./. eigener
vertikaler Verlustausgleich (vgl. Stapperfend, DStJG 24 (2001), S.
329, 338 f., m.w.N.). Den einfacheren Weg, bei zusammenveranlagten
Ehegatten den „Bagatellbetrag“ zu verdoppeln und
darüber hinaus die Hälfte der Summe der diesen Betrag
übersteigenden positiven gemeinsamen Einkünfte durch
Verluste vertikal auszugleichen, beschreitet § 2 Abs. 3
Sätze 6 ff. EStG nicht. Die Komplexität der gesetzlichen
Regelung bei Ehegatten entsprach dem ursprünglichen
Gesetzesplan, die steuerentlastenden Auswirkungen des
Ehegattensplittings zu verringern (siehe BTDrucks 14/23, S. 126).
Offensichtlich wurde nach Aufgabe dieser Absicht - wohl aus
zeitlichen Gründen (vgl. Nolte, a.a.O., S. 29) - eine
sachgerechte Umformulierung unterlassen. Im Übrigen bleibt
auch der in § 2 Abs. 3 Satz 7 EStG bezeichnete
„Unterschiedsbetrag“ mangels deutlicher Angabe
der Ausgangsgrößen inhaltlich vage (vgl. hierzu z.B.
Altfelder, FR 2000, 18, 28 f.).
ee) § 2 Abs. 3 Sätze 2 ff. EStG ist
zudem in ein Umfeld von rechtssystematischen Brüchen
eingebettet, was den intellektuellen Zugang zur gesetzlichen
Mindestbesteuerung zusätzlich erschwert. System- und
Folgewidrigkeit sind die schlechtesten Voraussetzungen für das
Normverständnis (Hey, a.a.O., S. 564; zu
widersprüchlichen Regelungen so schon BVerfG-Urteil vom
23.10.1951 2 BvG 1/51, BVerfGE 1, 14, 16).
Die Mindeststeuerregelung, auch soweit sie
aufgrund der Veranlagungszeitraum übergreifenden Wirkung der
Grundrechte nach Art. 3 Abs. 1, Art. 14 GG verfassungsrechtlich
zulässig sein sollte, enthält Ansätze einer
Schedulensteuer, mithin eine Abkehr von dem dem
Einkommensteuerrecht zugrunde liegenden Prinzip einer synthetischen
Steuer (siehe oben B. III.).
Es fehlt zudem an einer Abstimmung des §
2 Abs. 3 EStG mit der gesetzlichen Regelung der Zusammenveranlagung
(§ 26b EStG; vgl. hierzu z.B. Ritzer, a.a.O., S. 48 ff.). Nach
§ 26b EStG werden „die Einkünfte, die die
Ehegatten erzielt haben, zusammengerechnet“ (vgl. z.B.
für beschränkt verrechenbare Einkünfte BFH-Urteil
vom 6.7.1989 IV R 112/87, BFH/NV 1990, 231, m.w.N.).
„Erzielt“ werden die in § 2 Abs. 1 und 2
EStG genannten Einkünfte, mithin auch solche negativen
Einkünfte, die nach § 2 Abs. 3 EStG letztlich nur
begrenzt ausgeglichen werden. Auch bilden Eheleute nach
ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung eine
Erwerbs- und Verbrauchsgemeinschaft (vgl. z.B. BVerfG-Urteil vom
3.11.1982 1 BvR 620/78 u.a., BVerfGE 61, 319, BStBl II 1982, 717,
726 = SIS 82 22 02; Beschluss des Großen Senats des BFH vom
28.11.1988 GrS 1/87, BFHE 154, 556, BStBl II 1989, 164 = SIS 89 02 09), was die unbeschränkte Saldierung der
Ehegatteneinkünfte nahelegt. Dem wiederum widerspricht §
2 Abs. 3 Satz 6 Halbsatz 3 EStG.
ff) Mit zunehmender Verweisungsdistanz wird
die Gesetzesformulierung ungenauer. Es fehlt an sprachlicher und
rechtssystematischer Abstimmung. So sind z.B. nach § 10d Abs.
1 Satz 1 EStG negative Einkünfte einerseits „vom
Gesamtbetrag der Einkünfte“ abzuziehen, nach Satz 2
andererseits (zunächst) „von den positiven
Einkünften derselben Einkunftsart“ (ähnlich
§ 10d Abs. 2 Sätze 1 und 2 EStG). Auf der Ebene des
Gesamtbetrags der Einkünfte, d.h. nach Abzug des
Altersentlastungsbetrags und des Betrags nach § 13 Abs. 3 EStG
(§ 2 Abs. 3 Satz 1 EStG) gibt es nach der Systematik der
Einkommensermittlung die maßgeblichen einzelnen
Einkunftsarten aber nicht mehr (vgl. z.B. Raupach/
Böckstiegel, FR 1999, 487, 496; dies., FR 1999, 617, 622;
Werner, a.a.O., S. 52 f.; HHR/Hallerbach, § 10d EStG Anm. R 37
ff.; Altfelder, FR 2000, 18). Bei zusammenveranlagten Ehegatten hat
zudem spätestens auf dieser Ebene die Zusammenrechnung und die
Behandlung als ein Steuerpflichtiger nach § 26b EStG
stattgefunden.
Die Verweisung in § 10d Abs. 2 Satz 3
EStG auf § 2 Abs. 3 EStG ist insgesamt verwirrend. Danach
mindern die nach Anwendung des § 10d Abs. 2 Satz 2 EStG
verbleibenden negativen Einkünfte die positiven Einkünfte
aus anderen Einkunftsarten bis zu einem Betrag von 100.000 DM
(51.500 EUR), darüber hinaus bis zur Hälfte des 100.000
DM (51.500 EUR) übersteigenden Teils der Summe der positiven
Einkünfte aus anderen Einkunftsarten, soweit in diesem
Veranlagungszeitraum durch einen Ausgleich nach § 2 Abs. 3
EStG die dort genannten Beträge nicht ausgeschöpft sind.
Unklar bleibt z.B., ob eine eigene Abzugsgrenze entsteht oder in
welcher Reihenfolge der Verlustabzug vorzunehmen ist
(Verlustrücktrag vor Verlustvortrag oder umgekehrt;
horizontaler Verlustabzug insgesamt vor vertikalem Verlustausgleich
oder insgesamt erst Verlustvortrag). Die Autoren, die sich diesen
Fragen stellen, sind sich zwar nicht im Ergebnis, aber darin einig,
dass das Gesetz (auch) hierzu keine klare Antwort gibt (z.B.
Altfelder, FR 2000, 18, 33 ff. Fn. 64; HHR/Hallerbach, § 10d
EStG Anm. R 21).
Im Übrigen steigern sich die zu § 2
Abs. 3 EStG beschriebenen Verständnisschwierigkeiten innerhalb
des Verlustabzugs zunehmend. Spätestens hier wird die
Gesamtregelung auch für den einzeln veranlagten
Steuerpflichtigen gleichermaßen undurchschaubar wie bei den
Ehegatten im Zusammenhang mit dem Verlustausgleich. Dies gilt
insbesondere durch die gebotene Anpassung des vertikalen
Ausgleichsvolumens in den häufig anzutreffenden Fällen,
in denen eine Einkunftsquelle im Wechsel positive und negative
Einkünfte abwirft. Ständig schließen sich
gleichzeitig neue Verhältnismäßigkeitsrechnungen
nach § 10d Abs. 3 EStG für jede Einkunftsart an. So
halten z.B. Raupach/Böckstiegel in FR 1999, 487, 496 die
Regelung für praktisch unanwendbar, obgleich sie bei Ehegatten
den die Sachlage zusätzlich verkomplizierenden horizontalen
Verlustabzug nicht vornehmen (vgl. auch Stapperfend, DStJG 24
(2001), S. 329, 377; HHR/Hallerbach, § 10d EStG Anm. R 9;
Lambrecht in Kirchhof, a.a.O., § 10d Rn 4) Diese
Verständnisschwierigkeiten und damit die Überprüfung
der Rechtmäßigkeit des Verlustabzugs und der
Feststellungsbescheide nach § 10d Abs. 3 EStG werden
erhöht durch die Notwendigkeit, Verluste aus unterschiedlichen
Einkunftsarten - unter gesondertem Ausweis der nur beschränkt
verrechenbaren Einkünfte nach § 2a, § 2b, § 15
Abs. 4, § 15a, § 22 Nr. 3 Sätze 3 und 4, § 23
Abs. 3 Sätze 6 und 7 EStG - ggf. über Jahre und unter
ständiger Neuberechnung des Verhältnisses nach § 10d
Abs. 3 EStG auszuweisen.
gg) Der vorlegende Senat ist der Auffassung,
dass eine Gesetzesbegründung einer unverständlichen Norm
bei einer derart komplexen Materie nicht zur gebotenen Klarheit
verhelfen kann. Im Übrigen erhellt die Gesetzesbegründung
zu § 2 Abs. 3 und § 10d EStG (BTDrucks 14/443, S. 19 f.
und 26) nicht den Normeninhalt. Zum einen befasst sie sich
vorwiegend mit den unproblematischen Fällen, in denen die
Summe der positiven und/oder negativen Einkünfte unter 100.000
DM liegen, also Verluste ohnehin vertikal voll auszugleichen sind.
Zum anderen verdeutlicht sie nur, dass ein Teil der in § 2
Abs. 3 EStG enthaltenen Regelungen den Verlustabzug betreffen und
daher rechtssystematisch verfehlt platziert sind. Für den Fall
des tatsächlich begrenzten Verlustausgleichs ist die
Erläuterung unter 4.a (BTDrucks 14/443, S. 19) wiederum -
zumindest - auslegungsbedürftig. Beträgt die Summe der
negativen Einkünfte und die Summe der positiven Einkünfte
mehr als 100.000 DM und ergeben sich die negativen Einkünfte
sowie die positiven Einkünfte aus jeweils einer Einkunftsart,
sind nach der Gesetzesbegründung die positiven Einkünfte
um 100.000 DM, darüber hinaus bis zur Hälfte der
verbleibenden positiven Einkünfte zu mindern.
„Einkünfte aus jeweils einer Einkunftsart“
wären allerdings nach § 2 Abs. 3 Satz 2 EStG
unbeschränkt verrechenbar. Zur Mindestbesteuerung
zusammenveranlagter Ehegatten (§ 2 Abs. 3 Sätze 6 ff.
EStG) und zum Verlustabzug (§ 10d EStG) enthält die
Gesetzesbegründung auf S. 20 und 26 (BTDrucks 14/443) keine
klärenden Erläuterungen. Zudem ist die Annahme (S. 20),
durch die Regelung in § 2 Abs. 3 Sätze 6 und 7 EStG werde
sichergestellt, „dass zusammen veranlagte Ehegatten
insgesamt bis zu 200.000 DM ausnutzen können, unabhängig
davon, welcher Ehegatte die negativen Einkünfte
erzielt“, zumindest unvollständig, denn das
Verlustausgleichspotential kann sich um die Hälfte der den
Bagatellbetrag übersteigenden gemeinsamen Einkünfte
erhöhen. Dies spricht dafür, dass in den gesetzgebenden
Organen nur eine grobe Idee der Mindestbesteuerung, letztlich aber
nicht, wie es von Verfassungs wegen geboten gewesen wäre, eine
klare Vorstellung über den zu gebenden Normbefehl bestanden
hat.
hh) Den Mangel an Normenklarheit in dem oben
dargestellten Sinn (B. II.) belegen anschaulich Zahl und Umfang der
von der Finanzverwaltung - Ende 1999 - im Einkommensteuerhandbuch
1999 erarbeiteten, allerdings ohne nähere Erklärung
dargestellten Berechnungsbeispiele, die zudem keineswegs
vollständig sind (vgl. Nolte, a.a.O., S. 33 ff.). Zu § 2
Abs. 3 EStG werden sieben Beispielsfälle auf 12 Seiten, zu
§ 10d EStG zehn Beispiele auf fast 30 Seiten dargestellt. Die
Beispiele zu § 2 Abs. 3 EStG beanspruchen für einen
einzeln Veranlagten 32 bis 35 Zeilen und 3 Spalten, bei
Zusammenveranlagten 58 bis 78 Zeilen bei 5 Spalten. Die Beispiele
für den Verlustabzug benötigen - trotz teilweisen
Rückgriffs auf die Berechnungen zu § 2 Abs. 3 EStG,
teilweise als bekannt unterstellter Größen und ohne
Darstellung der verhältnismäßigen Aufteilung - beim
einzeln Veranlagten dreispaltig zwischen 72 und 117 Zeilen, bei
Zusammenveranlagten (ohne den Sonderfall in Beispiel 5)
fünfspaltig zwischen 52 bis 205 Zeilen (anschaulich auch die
Darstellung der Unverständlichkeit bei Böckstiegel/Betz,
FR 2000, 793).
b) Der Verstoß gegen das Gebot der
Normenklarheit kann aus rechtsstaatlichen Gründen weder durch
Außerachtlassung des misslungenen Wortlauts und
Rekonstruktion des „gemeinten Gesamtrechenwerks“
(so Altfelder, FR 2000, 18, 19; ähnlich Werner, a.a.O., S. 37;
vgl. auch Bauer/Eggers, Steuern und Bilanzen 1999, 397; dagegen zu
Recht Stapperfend, FR 2000, 1207, 1209) noch „durch
pragmatische Gesetzesverstöße der Verwaltung“
(Papier/Möller, AöR 122, S. 177, 181, 189), noch durch
eine verfassungskonforme Auslegung bereinigt werden. Weder der
Steuerpflichtige als Normadressat noch die Exekutive oder die
Rechtsprechung können von Verfassungs wegen (vgl. Art. 20 Abs.
3 GG) Tatbestand und/oder Rechtsfolge einer Norm grundlegend
„rekonstruieren“. Dies ist allein Aufgabe der
Legislative. Anderenfalls liefe das an den Gesetzgeber gerichtete
Gebot der Normenklarheit ins Leere, denn eine Idee lässt sich
hinter jedem unklaren Gesetz erkennen.
c) Die Verletzung des Grundsatzes der
Normenklarheit ist nicht zu rechtfertigen (Hey, a.a.O., S. 554;
Jehke, a.a.O., S. 210). Weder Zeitnot noch die vom Gesetzgeber
selbst gewählte Komplexität der Mindestbesteuerung noch
die für den Gesetzesvollzug einsetzbare
Datenverarbeitungstechnik heilen die Verletzung des
Rechtsstaatsprinzips (Raupach/Böckstiegel, FR 1999, 617, 621;
Kirchhof in Kirchhof, a.a.O., § 2 Rn 130; ders., AöR 128,
S. 1, 39; Birk, DStJG 27 (2004), S. 9, 14 f.).
Letztlich hat sich die Mindeststeuerregelung
auch für die Finanzverwaltung trotz des Einsatzes
elektronischer Datenverarbeitung als „sehr
kompliziert“ erwiesen (vgl. Protokollerklärung der
Bundesregierung vom 4.4.2003 zur Vermittlungsempfehlung zum
Steuervergünstigungsabbaugesetz, nicht veröffentlicht;
abgedruckt bei Rödder/Schumacher, DStR 2003, 805, 819). Dabei
bleibt zugunsten der Normadressaten zu berücksichtigen, dass
das BMF seinerzeit Gelegenheit hatte, die Gesetzesformulierung zu
beeinflussen (vgl. Raupach/Böckstiegel, FR 1999, 487, 489).
Die schwere Handhabbarkeit der Norm trotz Einsatzes elektronischer
Datenverarbeitung war letztlich auch einer der beiden Gründe,
die zur Aufhebung der Mindeststeuerregelungen ab dem
Veranlagungszeitraum 2004 führten (BTDrucks 15/1518, S.
13).
C. Die Gültigkeit des § 2 Abs. 3
Sätze 2 ff. EStG ist im Streitfall entscheidungserheblich
(§ 80 Abs. 2 des Gesetzes über das
Bundesverfassungsgericht - BVerfGG - )
1. § 2 Abs. 3 Sätze 2 bis 8 EStG
sind im Streitfall, der den Veranlagungszeitraum 1999 betrifft,
anzuwenden. Er wurde erst mit Wirkung zum Veranlagungszeitraum 2004
aufgehoben (§ 52 Abs. 2a EStG, Art. 1 des Gesetzes zur
Umsetzung der Protokollerklärung der Bundesregierung zur
Vermittlungsempfehlung zum Steuervergünstigungsabbaugesetz vom
22.12.2003, BGBl I 2003, 2840). Auch ausgelaufenes, aber noch
anwendbares Gesetz ist nach Art. 100 Abs. 1 GG vorzulegen (vgl.
Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge,
Bundesverfassungsgerichtsgesetz, § 80 Rdnr. 68a, m.w.N.). Eine
zeitweilige Fortgeltung eines dem Gebot der Normenklarheit
widersprechenden Gesetzes ist denklogisch ausgeschlossen. Sollte
daher das BVerfG auf die Vorlage des Senats die zur Beurteilung der
Verfassungsmäßigkeit vorgelegten Bestimmungen mangels
Normenklarheit gemäß § 82 Abs. 1 i.V.m. § 78
BVerfGG für nichtig erklären, wären die negativen
Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung des Klägers -
wie in den Veranlagungszeiträumen bis 1998 und ab 2004 - mit
den positiven Einkünften beider Kläger voll
auszugleichen; die Revision der Kläger hätte Erfolg.
2. Der vorlegende Senat ist der Auffassung,
dass gegen den rechtsstaatlichen Grundsatz der Normenklarheit
verstoßende und im Einzelfall anzuwendende Normen als solche
nichtig sind und es daher im Ausgangsfall, anders als bei der
Prüfung von Verletzungen von Grundrechten, nicht darauf
ankommt, ob die Kläger, sei es aufgrund der Struktur ihrer
Einkünfte, ihrer Vorbildung oder einer besonders
qualifizierten Steuerberatung den Norminhalt noch erfassen
können müssten. Die Normenklarheit ist hier zudem schon
deswegen notwendigerweise an objektiven Maßstäben zu
messen, weil in Anbetracht der nahezu unübersehbaren
Sachverhaltsgestaltungen eine Abgrenzung zwischen einem klaren,
unklaren bzw. noch gerade klaren Normbefehl nicht mehr zu treffen
ist.
Ebenso wenig ist entscheidend, ob der aufgrund
unverständlicher Normen ergangene Steuerbescheid im Einzelfall
vom Steuerpflichtigen noch nachvollzogen werden kann, denn der
rechtsstaatliche Grundsatz der Normenklarheit soll den
Normbetroffenen in die Lage versetzen, die Rechtslage so zu
erkennen, dass er sein Verhalten daran auszurichten vermag (siehe
Rechtsprechung des BVerfG oben unter B. II.). Derartige - im
Übrigen auch im Ausgangsfall mögliche - Dispositionen
müssen zwangsläufig lange vor Ergehen des Steuerbescheids
getroffen werden.
3. Aufgrund der nach Überzeugung des
vorlegenden Senats fehlenden Verständlichkeit der Norm ist die
Frage, ob die Vorschriften auch Art. 2, Art. 3 Abs. 1, Art. 14,
Art. 20 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 GG verletzen, für die Vorlage
nicht entscheidungserheblich. Dasselbe gilt für die Frage, ob
das gegen den Grundsatz der Normenklarheit verstoßende Gesetz
ordnungsgemäß verkündet wurde (vgl. hierzu
Kirchhof, AöR 128, S. 1, 39).