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I. Streitig ist, ob ein vollständiger
(und nicht nur hälftiger) Erlass von
Säumniszuschlägen gemäß § 227 der
Abgabenordnung (AO) geboten ist, wenn bei einer rechtswidrigen
Steuerfestsetzung zuvor Anträge des Steuerpflichtigen auf
Aussetzung der Vollziehung (AdV) beim Beklagten und
Revisionskläger (Finanzamt - FA - ) und Finanzgericht (FG)
versagt geblieben sind.
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Die Klägerin und Revisionsbeklagte
(Klägerin) handelte in den Streitjahren 2002 und 2003 mit
polygrafischen Maschinen.
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Nachdem das FA zunächst am 12.10.2005
Umsatzsteuern für 2002 und 2003 festgesetzt hatte und das FG
einem Aussetzungsantrag stattgegeben hatte, setzte das FA die
Umsatzsteuer auf Einspruch der Klägerin für das Jahr 2002
herab und wies den Einspruch hinsichtlich 2003 zurück. Ein
weiterer Antrag auf AdV für den Zeitraum nach Ergehen der
Einspruchsentscheidung wurde vom FA am 10.6.2008 und vom FG am
28.4.2010 zurückgewiesen.
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Im Hauptsacheverfahren gab das FG der Klage
statt und setzte die Umsatzsteuer 2002 auf den unstreitigen und
pünktlich bezahlten Betrag herab und hob die Festsetzung
für 2003 vollständig auf. Aufgrund einer Abrechnung vom
6.2.2008 forderte das FA für den Zeitraum von der
Einspruchsentscheidung bis zur Aufhebung der Steuerfestsetzungen im
November 2010 Säumniszuschläge in Höhe von 11.476
EUR für 2002 und 16.922,50 EUR für 2003, die das FA auf
Erlassantrag der Klägerin zur Hälfte erließ. Den
Erlass der weiteren Hälfte lehnte es ab.
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Auf die hiergegen erhobene Klage
verpflichtete das FG das FA zum vollständigen Erlass der
Säumniszuschläge. Zwar seien gemäß § 240
Abs. 1 Satz 4 AO die Säumniszuschläge aufgrund der
formellen Steuerfestsetzung durch das FA unabhängig von ihrer
späteren Aufhebung entstanden, da die Aussetzungsanträge
erfolglos geblieben waren. Nach Lage des Falles seien jedoch die
verwirkten Säumniszuschläge wegen sachlicher Unbilligkeit
gemäß § 227 AO vollständig zu erlassen. Die
Klägerin habe aufgrund ihrer Aussetzungsanträge beim FA
und beim FG alles ihr Mögliche getan, um das Entstehen von
Säumniszuschlägen zu verhindern. Die Ablehnung dieser
Anträge könne der Klägerin nicht zum Nachteil
gereichen. Aus dem Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 20.5.2010
V R 42/08 (BFHE 229, 83, BStBl II 2010, 955 = SIS 10 22 05) folge,
dass das Ermessen des FA in einem solchen Falle auf einen
vollständigen Erlass der Säumniszuschläge reduziert
sei.
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Hiergegen wendet sich das FA mit der
Revision. Säumniszuschläge hätten nach der
Rechtsprechung des BFH nicht nur den Sinn, eine Gegenleistung
für das Hinausschieben der formell festgesetzten, nicht
bezahlten Steuer zu bilden, sondern auch, als Druckmittel den
Steuerpflichtigen zur pünktlichen Zahlung der Steuern
anzuhalten. Da der Steuerpflichtige nach der (rechtswidrigen)
Ablehnung der AdV an sich die Steuer hätte zahlen müssen,
behalte die Verwirkung von Säumniszuschlägen auch bei
späterer Aufhebung der Steuerfestsetzung ihren Sinn.
Säumniszuschläge seien deshalb nur zur Hälfte zu
erlassen.
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Das FA beantragt, das Urteil des FG
aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
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II. Die Revision ist unbegründet und ist
deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ). Zutreffend hat das FG das FA
verpflichtet, die Säumniszuschläge zu erlassen. Diese
Ermessensentscheidung lässt keinen Rechtsfehler erkennen.
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1. Ein Erlass von Säumniszuschlägen
aus sachlichen Billigkeitsgründen gemäß § 227
AO ist geboten, wenn ihre Einziehung im Einzelfall, insbesondere
mit Rücksicht auf den Zweck der Säumniszuschläge,
nicht zu rechtfertigen ist, obwohl der Sachverhalt zwar den
gesetzlichen Tatbestand erfüllt, die Erhebung der
Säumniszuschläge aber den Wertungen des Gesetzgebers
zuwiderläuft (sog. Gesetzesüberhang, vgl. BFH-Urteile vom
22.4.1975 VII R 54/72, BFHE 116, 87, BStBl II 1975, 727 = SIS 75 04 25; vom 14.9.1978 V R 35/72, BFHE 126, 9, BStBl II 1979, 58 = SIS 79 00 34).
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a) In der Rechtsprechung des BFH ist
anerkannt, dass Säumniszuschläge wegen sachlicher
Unbilligkeit zu erlassen sind, wenn die Steuerfestsetzung
später aufgehoben worden ist und der Steuerpflichtige alles
getan hat, um die AdV eines Steuerbescheides zu erreichen, das FA
aber die Aussetzung „obwohl möglich und
geboten“ abgelehnt hat. Demgemäß hat der BFH
entschieden, dass ein Erlass von Säumniszuschlägen nach
Aufhebung der Steuerfestsetzung zwar dann nicht in Betracht komme,
wenn der Steuerpflichtige sich nicht um die AdV bemüht hat
oder wenn die Vollziehung deshalb nicht ausgesetzt worden ist, weil
- z.B. in Schätzungsfällen - keine ernstlichen Zweifel
bestanden und der Steuerbescheid erst aufgrund nachgereichter
Steuererklärungen aufgehoben worden ist (BFH-Urteil vom
29.8.1991 V R 78/86, BFHE 165, 178, BStBl II 1991, 906 = SIS 91 21 41).
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b) Hat der Steuerpflichtige jedoch im
Aussetzungsverfahren alles Erdenkliche getan, um den einstweiligen
Rechtsschutz zu erreichen, und ist ihm dieser gleichwohl fehlerhaft
versagt worden, liegt eine unbillige Härte vor, wenn trotz
späterer Aufhebung der Steuerfestsetzung
Säumniszuschläge erhoben wurden (BFH-Urteile in BFHE 165,
178, BStBl II 1991, 906 = SIS 91 21 41; vom 16.9.1992 X R 169/90,
BFH/NV 1993, 510; BFH-Beschluss vom 18.3.2003 X B 66/02, BFH/NV
2003, 886 = SIS 03 32 33). Dementsprechend hat der Senat mit Urteil
in BFHE 229, 83, BStBl II 2010, 955 = SIS 10 22 05 entschieden,
dass ein Anspruch auf vollständigen Erlass der
Säumniszuschläge dann besteht, wenn dem Steuerpflichtigen
die AdV aufgrund einer gesetzlichen Sonderregelung des § 361
Abs. 2 Satz 4 AO in einer dem Sinn und Zweck dieser Regelung nicht
entsprechenden Weise verwehrt ist. Nichts anderes gilt, wenn eine
rechtswidrige Steuerfestsetzung aufgehoben wird und der
Steuerpflichtige zuvor alles getan hat, um die AdV zu erreichen und
diese - obwohl möglich und geboten - abgelehnt worden ist
(Fortführung der Rechtsprechung).
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2. Bei der Höhe des gebotenen Erlasses
ist zu berücksichtigen, dass Säumniszuschläge zwar
zum einen Druckmittel zur Durchsetzung fälliger Steuern sind
und zum anderen Entgelt für eine verspätet gezahlte
Steuer, denn der säumige Steuerpflichtige soll nicht besser
gestellt werden, als hätte er Stundungs- oder
Aussetzungszinsen (§ 238 AO) zu zahlen (BFH-Urteile in BFHE
126, 9, BStBl II 1979, 58 = SIS 79 00 34; vom 23.5.1985 V R 124/79,
BFHE 143, 512, BStBl II 1985, 489 = SIS 85 18 43). Bei
rechtswidriger Steuerfestsetzung ist jedoch die gesetzgeberische
Wertung des § 237 AO zu beachten, wonach der Steuerpflichtige
bei Gewährung der AdV zwar grundsätzlich
Aussetzungszinsen zu zahlen hat, dies aber dann nicht gilt, wenn
der Steuerpflichtige mit seinem Rechtsbehelf Erfolg gehabt hat
(§ 239 Abs. 1 Satz 1 AO). Erweist sich eine im Eilverfahren
gewährte AdV somit im Ergebnis als berechtigte Abwehr gegen
eine rechtswidrige Steuerforderung, hat der Steuerpflichtige
keinerlei Aussetzungszinsen - auch nicht zur Hälfte - zu
tragen. Wird dem Steuerpflichtigen die gebotene AdV zu Unrecht
versagt, ist er im Billigkeitsverfahren so zu stellen, als
hätte er den gebotenen einstweiligen Rechtsschutz erlangt,
sodass er nach § 237 AO keinerlei Säumniszuschläge
zu zahlen hat (so auch BFH-Beschluss vom 2.2.2011 V B 141/09,
BFH/NV 2011, 961 = SIS 11 15 55, unter 3.b; Loose in Tipke/Kruse,
Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 240 AO Rz 57;
Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 240 AO Rz
114).
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3. Der Senat weicht nicht von Entscheidungen
anderer Senate des BFH ab. Soweit sich das FA auf den BFH-Beschluss
vom 4.2.1999 IX B 170/98 (BFH/NV 1999, 908 = SIS 98 58 32) bezieht,
liegt keine Divergenz vor, weil der BFH dort die Rechtsfrage eines
Erlasses von Säumniszuschlägen bei rechtswidriger
Versagung der AdV im Hinblick auf die Besonderheiten des
Streitfalles als in einer Revision nicht klärungsfähig
bezeichnet hat. In dem BFH-Urteil in BFH/NV 2003, 886 = SIS 03 32 33 ging es um die anders gelagerte Problematik eines Erlasses von
Säumniszuschlägen bei Zahlungsunfähigkeit, bei der
der Normzweck der Säumniszuschläge als Druckmittel
eigener Art zur pünktlichen Steuerzahlung wegen Insolvenz
nicht mehr erreicht werden kann. Soweit der erkennende Senat mit
Urteil in BFHE 165, 178, BStBl II 1991, 906 = SIS 91 21 41 bei zu
Unrecht verweigerter AdV nur zu einem hälftigen Erlass von
Säumniszuschlägen gelangt ist, ist diese Entscheidung
durch das vom FG seiner Entscheidung zu Grunde gelegte Urteil des
Senats in BFHE 229, 83, BStBl II 2010, 955 = SIS 10 22 05
überholt.
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