Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil
des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 12.10.2017 10 K 10109/13
aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht
Berlin-Brandenburg zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die
Kosten des Revisionsverfahrens übertragen.
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I. Die Beteiligten streiten über einen
Billigkeitserlass einer Kindergeldrückforderung
gemäß § 227 der Abgabenordnung (AO) für den
Zeitraum Januar 2011 bis April 2011 in Höhe von 736
EUR.
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Die Klägerin und Revisionsbeklagte
(Klägerin) ist die Mutter des im September 1990 geboren Sohnes
B, für den sie zunächst Kindergeld bezog. Nach den
Feststellungen des Finanzgerichts (FG) teilte B dem Jobcenter am
5.1.2012 mit, er habe der Beklagten und Revisionsklägerin
(Familienkasse) am 14.10.2010 seinen Gesellenbrief
übersandt.
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Im Zeitraum vom 1.1.2011 bis 30.6.2011
wurde das Kindergeld für B vom Jobcenter bei der
Einkommensberechnung des B nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch
(SGB II) berücksichtigt und auf die Leistungen
angerechnet.
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Mit Bescheid vom 13.10.2011 hob die
Familienkasse die Kindergeldfestsetzung ab Januar 2011 auf und
forderte von der Klägerin die Rückzahlung des für
den Zeitraum Januar 2011 bis April 2011 gezahlten Kindergeldes in
Höhe von 736 EUR; zur Begründung führte sie aus, B
habe eine Beschäftigung aufgenommen, die den Anspruch auf
Kindergeld ausschließe.
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Im Juni 2012 beantragte die Klägerin,
die Rückforderung zu erlassen. Dies lehnte die Familienkasse
mit Bescheid vom 17.8.2012 ab. Dagegen wandte sich die
Klägerin mit ihrem Einspruch vom 5.9.2012 und mit beim
Sozialgericht erhobener Untätigkeitsklage vom 12.3.2013.
Nachdem das Sozialgericht das Klageverfahren an das FG verwiesen
hatte und die Familienkasse über den Einspruch am 14.2.2014
entschieden hatte, gab das FG der Klage statt; die
Rückforderung sei aus sachlichen Billigkeitsgründen zu
erlassen.
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Mit der Revision rügt die
Familienkasse Verfahrensfehler und die Verletzung von Bundesrecht
(§ 118 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO - ). Sie
ist der Ansicht, das Urteil des FG beruhe auf einer mangelnden
Sachverhaltsaufklärung. Weiterhin fehle es für die
Zulässigkeit der Klage an einem nach § 44 Abs. 1 FGO
erforderlichen Vorverfahren. Schließlich beruhe die
Rückforderung auf einer Verletzung der Mitteilungspflicht der
Klägerin, sodass eine Unbilligkeit ausscheide, da andernfalls
eine Pflichtverletzung für Sozialhilfeempfänger stets
folgenlos bliebe.
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Die Familienkasse beantragt, das
angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
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II. Die Revision der Familienkasse ist
begründet und führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.
Das FG ging zu Unrecht davon aus, dass die Klägerin keine
Mitwirkungspflichten verletzt habe. Die Sache wird zur
anderweitigen Verhandlung an das FG zurückverwiesen (§
126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO).
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1. Die Entscheidung des FG ist nicht bereits
deswegen aufzuheben, weil es an einem Vorverfahren gemäß
§ 44 Abs. 1 FGO gefehlt hätte. Denn ein solches wurde
durchgeführt.
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Der Ablehnungsbescheid vom 17.8.2012
bezifferte die Ablehnung des Erlasses auf 736 EUR. Dagegen richtete
sich der Einspruch, der durch Einspruchsentscheidung vom 14.2.2014
insgesamt als unbegründet zurückgewiesen wurde. Insofern
wurde ein Vorverfahren über den Streitgegenstand - den
Ablehnungsbescheid vom 17.8.2012 - durchgeführt. Dies gilt
ungeachtet dessen, dass die Klägerin ursprünglich einen
unbezifferten Erlassantrag „für die Monate Januar bis
März 2011“ gestellt hat. Denn eine
Billigkeitsmaßnahme nach § 227 AO kann als gestaltender
Verwaltungsakt auch ohne Antrag des Steuerpflichtigen ergehen
(Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 4.7.1972 VII R 103/69,
BFHE 106, 268, BStBl II 1972, 806 = SIS 72 04 66). Im Übrigen
hat hier die Familienkasse den Erlass von 736 EUR abgelehnt.
Hiergegen richteten sich sowohl Einspruch als auch Klage.
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2. Die Entscheidung über den Erlass ist
eine Ermessensentscheidung der Behörde (grundlegend: Beschluss
des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes
vom 19.10.1971 GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603 =
SIS 72 03 54). Dem folgt die ständige Rechtsprechung des BFH
zu § 227 AO (z.B. BFH-Urteile vom 29.8.1991 V R 78/86, BFHE
165, 178, BStBl II 1991, 906 = SIS 91 21 41, Rz 15; vom 16.11.2005
X R 3/04, BFHE 211, 30, BStBl II 2006, 155 = SIS 06 03 80, Rz 19;
vom 19.4.2012 III R 85/11, BFH/NV 2012, 1411 = SIS 12 21 39, Rz
12). Im finanzgerichtlichen Verfahren kann die behördliche
Ermessensentscheidung nach § 102 FGO nur daraufhin
überprüft werden, ob die Grenzen der
Ermessensausübung eingehalten worden sind
(Gräber/Stapperfend, Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., §
102 Rz 15, m.w.N.).
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3. Eine Unbilligkeit aus sachlichen
Gründen i.S. des § 227 AO ist anzunehmen, wenn die
Geltendmachung eines Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis
im Einzelfall zwar dem Wortlaut einer Vorschrift entspricht, aber
nach dem Zweck des zugrunde liegenden Gesetzes nicht (mehr) zu
rechtfertigen ist oder dessen Wertungen zuwiderläuft (sog.
Gesetzesüberhang, vgl. BFH-Urteile vom 21.10.1987 X R 29/81,
BFH/NV 1988, 546, Rz 16; vom 20.12.2000 II R 74/99, BFH/NV 2001,
1027 = SIS 01 67 30, Rz 15; vom 21.6.2006 XI R 29/05, BFH/NV 2006,
1833 = SIS 06 38 31, Rz 12; vom 5.5.2011 V R 39/10, BFH/NV 2011,
1474 = SIS 11 25 98, Rz 15, und vom 24.4.2014 V R 52/13, BFHE 245,
105, BStBl II 2015, 106 = SIS 14 19 39).
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4. Der BFH hat mehrfach darauf hingewiesen,
dass ein Billigkeitserlass nach § 227 AO gerechtfertigt sein
kann, wenn Kindergeld zurückgefordert wird, das bei der
Berechnung der Höhe von Sozialleistungen als Einkommen
angesetzt wurde, aber eine nachträgliche Korrektur der
Leistungen nicht möglich ist (BFH-Urteile vom 15.3.2007 III R
54/05, BFH/NV 2007, 1298 = SIS 07 20 02, Rz 36; vom 19.11.2008 III
R 108/06, BFH/NV 2009, 357 = SIS 09 05 79, Rz 11; vom 18.12.2008
III R 93/06, BFH/NV 2009, 749 = SIS 09 12 49, Rz 20; vom 30.7.2009
III R 22/07, BFH/NV 2009, 1983 = SIS 09 36 26, Rz 16; vom 22.9.2011
III R 78/08, BFH/NV 2012, 204 = SIS 12 00 32, Rz 24; vgl. auch
BFH-Beschlüsse vom 6.5.2011 III B 130/10, BFH/NV 2011, 1353 =
SIS 11 23 46, Rz 6; vom 27.12.2011 III B 35/11, BFH/NV 2012, 696 =
SIS 12 10 03, Rz 5; vom 23.2.2015 III B 41/14, BFH/NV 2015, 658 =
SIS 15 07 75, Rz 5).
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5. Das FG hat im vorliegenden Fall zu Unrecht
einen Anspruch der Klägerin auf Billigkeitserlass bejaht. Es
bestand im Streitfall keine Ermessensreduktion auf Null
dahingehend, dass nur ein Erlass das einzig mögliche Ergebnis
der Ermessensausübung sein konnte.
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a) Ob ein Gesetzesüberhang, der einen
Billigkeitserlass rechtfertigt, anzunehmen ist, wenn ein
Kindergeldberechtigter seiner Mitwirkungspflicht nachgekommen ist
und das Kindergeld ohne dessen Verschulden weitergewährt
wurde, ist bislang nicht höchstrichterlich entschieden.
Denkbar sind Konstellationen, in denen der
Rückforderungsanspruch aufgrund eines über Gebühr
langen Zuwartens der Familienkasse entstanden ist oder sich
erhöht hat (vgl. FG Düsseldorf, Urteil vom 6.3.2014 16 K
3046/13 AO, EFG 2014, 977 = SIS 14 17 26, Rz 24; FG Bremen, Urteil
vom 28.8.2014 3 K 9/14 (1), EFG 2014, 1944 = SIS 14 28 48, Rz 72;
FG Münster, Urteil vom 12.12.2016 13 K 91/16 Kg, Rz 36) oder
in denen die Familienkasse aus den ihr bekannten Tatsachen die
unzutreffenden Schlüsse gezogen hat (vgl. FG Düsseldorf,
Urteil vom 22.9.2011 16 K 1279/11 Kg, AO, EFG 2011, 2176 = SIS 11 40 89). Von Bedeutung kann auch sein, ob ein Beteiligter eine
falsche Auskunft erteilt, einen gebotenen Hinweis unterlassen hat
(vgl. BFH-Urteil vom 15.3.2007 III R 54/05, BFH/NV 2007, 1298 = SIS 07 20 02, Rz 36) oder ob eine gebotene Rückfrage an den
Kindergeldberechtigten unterblieben ist (vgl. FG Düsseldorf,
Urteil in EFG 2014, 977 = SIS 14 17 26, Rz 24; FG Bremen, Urteil in
EFG 2014, 1944 = SIS 14 28 48, Rz 72; FG Münster, Urteil vom
12.12.2016 13 K 91/16 Kg, Rz 36).
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b) Im Streitfall tragen indessen die
tatsächlichen Feststellungen des FG nicht dessen
Würdigung, dass die Klägerin ihre Mitwirkungspflichten
gemäß § 68 Abs. 1 EStG erfüllt hat.
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aa) Die finanzrichterliche
Überzeugungsbildung ist revisionsrechtlich zwar nur
eingeschränkt auf Verstöße gegen Denkgesetze und
allgemeine Erfahrungssätze überprüfbar. Das FG hat
aber im Einzelnen darzulegen, wie und dass es seine
Überzeugung in rechtlich zulässiger und einwandfreier
Weise gewonnen hat. Die subjektive Gewissheit des Tatrichters vom
Vorliegen eines entscheidungserheblichen Sachverhalts ist nur dann
ausreichend und für das Revisionsgericht bindend, wenn sie auf
einer logischen, verstandesmäßig einsichtigen
Beweiswürdigung beruht, deren nachvollziehbare Folgerungen den
Denkgesetzen entsprechen und von den festgestellten Tatsachen
getragen werden. Fehlt es an einer tragfähigen
Tatsachengrundlage für die Folgerungen in der tatrichterlichen
Entscheidung oder fehlt die nachvollziehbare Ableitung dieser
Folgerungen aus den festgestellten Tatsachen und Umständen, so
liegt ein Verstoß gegen die Denkgesetze vor, der als Fehler
der Rechtsanwendung ohne besondere Rüge vom Revisionsgericht
beanstandet werden kann (BFH-Urteil vom 8.7.2015 VI R 77/14, BFHE
250, 518, BStBl II 2016, 60 = SIS 15 25 62, Rz 26).
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bb) Im vorliegenden Fall fehlt es sowohl im
Hinblick auf die Annahme des FG, es liege im Streitfall keine
Mitwirkungs- und Mitteilungspflichtenverletzung der Klägerin
vor, als auch bezüglich der Feststellung, die Familienkasse
habe mit dem Aufhebungsbescheid über Gebühr zeitlich
zugewartet, an der Nachvollziehbarkeit in diesem Sinne. Das FG
führt lediglich aus, dass laut einem Schreiben des B vom
5.1.2012 dieser der Familienkasse seinen Gesellenbrief
übersandt habe. Ebenso wenig ist nachvollziehbar, woraus das
FG folgert, dass die Familienkasse mit der Kindergeldaufhebung
zeitlich über Gebühr zugewartet habe, da aus den
Feststellungen bereits nicht hervorgeht, wann der Gesellenbrief
übersandt worden sein soll. Hieraus ergibt sich nicht, dass
die Klägerin ihre Mitwirkungspflichten gemäß §
68 Abs. 1 EStG erfüllt hat. Denn hierzu hätte
zunächst festgestellt werden müssen, auf welchem
Berücksichtigungsgrund die Kindergeldfestsetzung beruhte und
worin die Mitwirkungspflicht bestand. So könnte bei einer
Berücksichtigung des B durch die Familienkasse als
arbeitssuchend gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 EStG
von einer Erfüllung der Mitwirkungspflicht gemäß
§ 68 Abs. 1 EStG erst dann ausgegangen werden, wenn die
Abmeldung bei der Agentur für Arbeit im Inland als
Arbeitssuchender mitgeteilt wurde. Die Übersendung des
Gesellenbriefes erbrächte hingegen keine Auskunft über
die Meldung bei der Agentur für Arbeit.
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6. Das Urteil des FG, das auf den fehlerhaften
Feststellungen beruht, kann nach den vorstehenden Grundsätzen
keinen Bestand haben. Die Sache ist nicht spruchreif und wird zur
anderweitigen Verhandlung an das FG zurückverwiesen (§
126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO). Das FG wird die notwendigen
Feststellungen bezüglich der Mitwirkungspflichtverletzung
treffen müssen, um eine Entscheidung unter
Berücksichtigung der oben stehenden Grundsätze treffen zu
können.
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7. Die Übertragung der Kostenentscheidung
auf das FG folgt aus § 143 Abs. 2 FGO.
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