Der Beklagte wird verurteilt, an jeden der
Kläger für die unangemessene Dauer des Verfahrens 12 K
2343/19 eine Entschädigung von 1.300 EUR, für die
unangemessene Dauer des Verfahrens 12 K 2849/20 eine
Entschädigung von 600 EUR und für die unangemessene Dauer
des Verfahrens 12 K 2948/19 eine Entschädigung von 1.300 EUR
zu zahlen, jeweils zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 %
über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 05.04.2024.
Darüber hinaus wird festgestellt, dass
die Dauer des Verfahrens 12 K 2343/19 in den Monaten September und
Oktober 2021 unangemessen war.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens tragen die
Kläger zu 78 % und der Beklagte zu 22 %.
1
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I. Die Kläger begehren
gemäß § 198 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG)
Entschädigungen wegen der aus ihrer Sicht unangemessenen Dauer
mehrerer Klageverfahren, die beim Finanzgericht (FG)
Düsseldorf anhängig waren.
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2
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1. Bei vier der Ausgangsverfahren handelt
es sich um Verpflichtungsklagen auf Erteilung von
Abrechnungsbescheiden. Die erste dieser Klagen erhoben die
Kläger am 22.08.2019 (Aktenzeichen des FG: 12 K 2343/19).
Darin beantragten sie die Erteilung von Abrechnungsbescheiden zur
Einkommensteuer 2010 bis 2017 (beide Kläger) und zur
Umsatzsteuer 2010 bis 2017 (nur der Kläger, der als
Rechtsanwalt tätig ist).
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3
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Am 05.11.2020 erklärten die
Kläger, die Klage auf bestimmte neue (in Kopie
beigefügte) zwischenzeitlich ergangene Ablehnungsbescheide und
Einspruchsentscheidungen erweitern zu wollen. Diese neuen Bescheide
betrafen weitere Anträge auf Erteilung von
Abrechnungsbescheiden zur Einkommensteuer 2014 bis 2019
beziehungsweise 2015 bis 2018 sowie zur Umsatzsteuer 2014 bis 2019.
Der beim FG zuständige Berichterstatter verfügte am
16.11.2020, dies als neues Verfahren wegen Erteilung von
Abrechnungsbescheiden zur Einkommensteuer 2010 bis 2019 und zur
Umsatzsteuer 2010 bis 2019 einzutragen (so aufgenommen unter 12 K
2849/20). Der dortige Beklagte (Finanzamt - FA - ) bat in der
Klageerwiderung ausdrücklich darum, aus Gründen der
Übersichtlichkeit die als Klageerweiterung bezeichneten
Vorgänge als eigenständiges Verfahren zu führen, da
bei ihm ständig neue Anträge auf Erteilung von
Abrechnungen für teilweise dieselben Zeiträume
eingingen.
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4
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Mit dem Ablauf der letzten den Klägern
gesetzten Stellungnahmefrist am 15.03.2021 endete der
Schriftsatzaustausch im Verfahren 12 K 2343/19. Im Verfahren 12 K
2849/20 endete der Schriftsatzaustausch mit dem Ablauf der letzten
den Klägern gesetzten Stellungnahmefrist am
20.03.2021.
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5
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Am 20.01.2022 beantragte das FA im
Verfahren 12 K 2343/19, eine noch anzuberaumende mündliche
Verhandlung per Videokonferenz abzuhalten; dieses Schreiben leitete
das FG nicht an die Kläger weiter. Am 02.05.2022 erhoben die
Kläger in beiden Verfahren Verzögerungsrügen, die
ebenfalls nicht an das FA weitergeleitet wurden.
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6
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Mit Schriftsatz vom 07.06.2022 teilte das
FA mit, es habe für die folgenden Ansprüche aus dem
Steuerschuldverhältnis Abrechnungsbescheide erlassen; insoweit
werde dem Begehren der Kläger abgeholfen:
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Einkommensteuer 2015 bis 2017, 4. Quartal
2017, 1. bis 4. Quartal 2018, 2. bis 4. Quartal 2019;
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-
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Umsatzsteuer 2016 und 4. Quartal
2017.
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7
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Die Aufforderung des FG zur Stellungnahme
bis zum 10.07.2022 beantworteten die Kläger nicht. Der
Berichterstatter des FG fragte am 05.08.2022 beim FA an, ob es die
Verfahren 12 K 2343/19 und 12 K 2849/20 teilweise in der Hauptsache
für erledigt erklären könne. Das FA gab am
17.08.2022 in beiden Verfahren entsprechende Erklärungen. Am
22.08.2022 richtete der Berichterstatter mit Frist zum 10.09.2022
eine Teilerledigungsanfrage an die Kläger, die nicht
beantwortet wurde. Eine Erinnerung seitens des FG
unterblieb.
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8
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Am 26.09.2022 lehnten die Kläger den
Berichterstatter des FG in allen Verfahren, in denen dieser
tätig war, wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Das FG wies
den Ablehnungsantrag für sämtliche Verfahren am
04.11.2022 ohne Mitwirkung des abgelehnten Richters zurück;
dieser Beschluss wurde am 07.11.2022 an die Beteiligten der
Ausgangsverfahren abgesandt.
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9
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Mit Beschlüssen vom 12.06.2023
übertrug der Senat des FG die Rechtsstreite 12 K 2343/19 und
12 K 2849/20 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur
Entscheidung.
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10
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Am 27.06.2023 lud der Einzelrichter
für den 18.07.2023 in beiden Verfahren zu mündlichen
Verhandlungen, die in Abwesenheit der Kläger durchgeführt
wurden und mit dem Beschluss endeten, dass eine Entscheidung den
Beteiligten zugestellt werde.
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11
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Mit Beschluss vom 18.07.2023 trennte der
Einzelrichter aus dem Verfahren 12 K 2343/19 das Verfahren wegen
Einkommensteuer 2015 bis 2017 und Umsatzsteuer 2010 bis 2017 ab; es
erhielt das neue Aktenzeichen 12 K 1462/23. Ebenfalls am 18.07.2023
trennte der Einzelrichter aus dem Verfahren 12 K 2849/20 das
Verfahren wegen Einkommensteuer 2014 bis 2017 und Umsatzsteuer 2016
ab; es erhielt das neue Aktenzeichen 12 K 1465/23.
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12
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Im Verfahren 12 K 2343/19 gab der
Einzelrichter der Klage - die nach der Abtrennung noch das Begehren
auf Erteilung von Abrechnungsbescheiden zur Einkommensteuer 2010
bis 2014 umfasste - statt und verpflichtete das FA zum Erlass von
Abrechnungsbescheiden. Dasselbe Ergebnis hatte das Verfahren 12 K
2849/20, das ausweislich des Rubrums nach der Abtrennung noch das
Begehren auf Erteilung von Abrechnungsbescheiden zur
Einkommensteuer 2018 und 2019 sowie zur Umsatzsteuer 2014, 2015
sowie 2017 bis 2019 umfasste. Der Streitgegenstand dieses
Verfahrens wurde dahin korrigiert, dass dieses Verfahren nur die
Anträge auf Erlass von Abrechnungsbescheiden zur
Einkommensteuer und zur Umsatzsteuer 2014 bis 2019 umfasste (nicht
2010 bis 2013).
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13
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Im abgetrennten Verfahren 12 K 1462/23
erachtete der Einzelrichter die Klage auf Erteilung von
Abrechnungsbescheiden zur Einkommensteuer 2015 bis 2017 für
unzulässig, weil das FA der Klage insoweit abgeholfen habe und
damit kein Rechtsschutzinteresse mehr bestehe, die Kläger aber
keine Erledigungserklärung abgegeben hätten. Die Klage
auf Erteilung von Abrechnungsbescheiden zur Umsatzsteuer 2010 bis
2017 wurde als unbegründet zurückgewiesen, da die
Kläger insoweit keinen Antrag beim FA gestellt hätten und
die Einspruchsentscheidung, mit der der Einspruch als
unzulässig verworfen wurde, daher rechtmäßig
sei.
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14
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Im abgetrennten Verfahren 12 K 1465/23
hielt der Einzelrichter die Klage auf Erteilung von
Abrechnungsbescheiden zur Einkommensteuer 2015 bis 2017 und zur
Umsatzsteuer 2016 ebenfalls nach Abhilfe mangels
Rechtsschutzinteresses und mangels Erledigungserklärung
für unzulässig. Die Klage auf Erteilung eines
Abrechnungsbescheids zur Einkommensteuer 2014 wurde als
unbegründet zurückgewiesen, weil es, wie das FA zu Recht
entschieden habe, wegen eines zum selben Streitgegenstand bereits
anhängigen gerichtlichen Verfahrens am
Rechtsschutzbedürfnis für einen erneuten Antrag
fehle.
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15
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Die vollständigen Urteile gingen am
18.09.2023 in der Geschäftsstelle des FG ein. Sie wurden den
Klägern am 19.09.2023 zugestellt und wurden
rechtskräftig.
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16
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2. In einem weiteren Ausgangsverfahren
erhoben die Kläger am 28.10.2019 Anfechtungsklage gegen einen
Bescheid über die Festsetzung von Aussetzungszinsen zur
Einkommensteuer und zum Solidaritätszuschlag 2001 (12 K
2948/19). Erst während des Klageverfahrens erging - am
04.11.2019 - die Einspruchsentscheidung, mit der dem Begehren der
Kläger teilweise abgeholfen wurde und die Zinsen herabgesetzt
wurden.
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17
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In diesem Verfahren übertrug das FG
die Entscheidung des Rechtsstreits mit Beschluss vom 15.05.2020 auf
den Berichterstatter als Einzelrichter. Der Einzelrichter lud am
19.05.2020 zum 09.07.2020 zur mündlichen Verhandlung.
Daraufhin verzichteten die Beteiligten auf die Durchführung
einer mündlichen Verhandlung; der Termin wurde aufgehoben.
Einen Schriftsatz des FA vom 17.06.2020 übermittelte das FG
den Klägern zur Stellungnahme bis zum 17.08.2020 und erinnerte
anschließend hieran mit Frist bis zum 10.10.2020. Eine
Stellungnahme ging nicht ein.
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18
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Am 02.05.2022 erhoben die Kläger
Verzögerungsrüge. Am 08.06.2022 richtete der
Einzelrichter eine kurze Anfrage an die Kläger, die nicht
beantwortet wurde. Am 15.08.2022 richtete er dieselbe Anfrage an
das FA, das am 16.08.2022 Stellung nahm.
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19
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Am 29.08.2022 lud der Einzelrichter -
obwohl die Beteiligten auf eine mündliche Verhandlung
verzichtet hatten - für den 27.09.2022 zur mündlichen
Verhandlung. Nach Eingang des Ablehnungsantrags vom 26.09.2022
wurde der Termin wieder aufgehoben. Der Ablehnungsantrag wurde vom
Senat am 04.11.2022 zurückgewiesen.
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20
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Am 27.06.2023 lud der Einzelrichter
für den 18.07.2023 zur mündlichen Verhandlung. Er wies
die Klage ab. Das vollständige Urteil wurde der
Geschäftsstelle am 18.09.2023 übergeben und den
Klägern am 19.09.2023 zugestellt. Es wurde nicht
angefochten.
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21
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3. Mit ihrer am 17.03.2024 eingegangenen
und am 04.04.2024 zugestellten Entschädigungsklage bringen die
Kläger vor, der Arbeitsaufwand des FG sei äußerst
gering gewesen. Es habe keine Amtsermittlungsmaßnahmen
durchgeführt und sich in den - äußerst knapp
begründeten - Urteilen allein auf formale Argumente
gestützt.
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22
|
Das Gesetz lege den Verfahrensbeteiligten
und ihren Prozessbevollmächtigten für den Regelfall
Bearbeitungsfristen von 14 Tagen auf (§ 276, § 277 Abs. 3
der Zivilprozessordnung - ZPO - ); in den Fällen des §
132 ZPO seien die Fristen noch kürzer. Über § 155
Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gelte dies auch im
finanzgerichtlichen Verfahren. Dieselben Anforderungen seien an die
Gerichte zu stellen. Daher hätte in den Ausgangsverfahren
jeweils innerhalb von vier Wochen nach Klageerhebung die
mündliche Verhandlung stattfinden und das Urteil nach weiteren
zwei Wochen zugestellt sein müssen. Die unangemessene
Verfahrensdauer beginne damit sechs Wochen nach der
Klageerhebung.
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23
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Die Verfahren 12 K 2849/20, 12 K 1462/23
und 12 K 1465/23 seien aus dem Verfahren 12 K 2343/19 abgetrennt
worden. Damit seien alle diese Verfahren selbständige
Gerichtsverfahren im Sinne des § 198 Abs. 1 GVG mit jeweils
eigenem Entschädigungsanspruch und alle als am 22.08.2019
eingegangen zu behandeln. Die Verzögerung habe am 03.10.2019
begonnen; die gesamte Verfahrensdauer bis zur Zustellung der
Urteile am 19.09.2023 sei unangemessen gewesen (insgesamt 1.441
Tage; dies entspreche bei 1.200 EUR Regelentschädigung pro
Jahr einer Geldentschädigung von 4.737,58 EUR je Kläger).
Entsprechendes gelte für das Verfahren 12 K 2948/19
(unangemessene Verfahrensdauer von 1.381 Tagen und 4.540,31 EUR
Geldentschädigung je Kläger). Von der Summe dieser
Einzelentschädigungsbeträge machen die Kläger im
Wege der Teilklage einen erststelligen Teilbetrag von 15.000 EUR
pro Kläger geltend.
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24
|
Die Kläger hatten im vorliegenden
Verfahren ursprünglich noch für ein weiteres beim FG
geführtes Ausgangsverfahren Entschädigung begehrt (12 K
476/21). Nachdem zwischen den Beteiligten unstreitig geworden ist,
dass in diesem Ausgangsverfahren keine Verzögerungsrüge
erhoben worden war, haben sie ihr Begehren insoweit nicht
weiterverfolgt. Ihren Zahlungsantrag haben sie der Höhe nach
nicht geändert, da es sich ohnehin um eine Teilklage gehandelt
habe.
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25
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Die Kläger beantragen
sinngemäß,
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den Beklagten zu verurteilen, wegen der
unangemessenen Dauer der vor dem FG Düsseldorf geführten
Verfahren 12 K 2343/19, 12 K 2849/20, 12 K 1462/23 und 12 K 1465/23
eine Entschädigung von 4.737,58 EUR je Verfahren und
Kläger sowie wegen der unangemessenen Dauer des vor dem FG
Düsseldorf geführten Verfahrens 12 K 2948/19 eine
Entschädigung von 4.540,31 EUR je Kläger, insgesamt
jedoch begrenzt auf erststellige Teilbeträge von 15.000 EUR je
Kläger zuzüglich Zinsen seit Rechtshängigkeit in
Höhe von 5 % über dem jeweiligen Basiszinssatz zu
zahlen.
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26
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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27
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Er ist der Ansicht, eine
Geldentschädigung sei schon deshalb ausgeschlossen, weil die
Verzögerungsrügen zu früh erhoben worden seien. Die
Besorgnis, dass die Verfahren nicht in angemessener Zeit
abgeschlossen werden könnten, habe im Mai 2022 noch nicht
bestanden. Das gelte insbesondere für das erst etwa 18 Monate
anhängige Verfahren 12 K 2849/20.
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28
|
Darüber hinaus sei die Bearbeitung der
Verfahren nicht einfach gewesen. Sie seien Teil einer
größeren Zahl von Klageverfahren der Kläger
gewesen, deren Streitgegenstände sich teilweise
überschnitten hätten. Deshalb sei der Verfahrensstoff
sehr unübersichtlich gewesen. Das Gericht habe alle
anhängigen Verfahren der Kläger in engem zeitlichen
Zusammenhang zueinander entscheiden wollen. Insgesamt seien die
Klageverfahren zwar überdurchschnittlich, aber nicht
unangemessen lang gewesen. Die Kläger hätten durch das
Stellen von Ablehnungsanträgen und die Nichtbeantwortung
gerichtlicher Anfragen erheblich zur langen Verfahrensdauer
beigetragen.
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29
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Das Verfahren 12 K 2849/20 sei nicht aus
dem Verfahren 12 K 2343/19 abgetrennt worden. Vielmehr sei der
Schriftsatz der Kläger vom 05.11.2020 in vertretbarer Weise
von Anfang an als neue Klage behandelt worden. Damit habe für
diese Klage eine eigenständige Zwei-Jahres-Frist zu laufen
begonnen. Die Verfahren 12 K 1462/23 und 12 K 1465/23 hingegen
seien erst nach der mündlichen Verhandlung abgetrennt und bis
zu ihrem rechtskräftigen Abschluss zu keinem Zeitpunkt
verzögert worden.
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30
|
Die gesetzliche Vermutung eines
Nichtvermögensnachteils sei im Streitfall widerlegt.
Psychische oder physische Beeinträchtigungen durch die lange
Verfahrensdauer seien weder von den Klägern dargelegt worden
noch sonst ersichtlich. Es sei nicht erkennbar, dass die begehrten
Abrechnungsbescheide für die Kläger, die in den
Ausgangsverfahren keine substantiierten Einwendungen erhoben
hätten, rechtlich erheblich gewesen wären. Hilfsweise
wäre jedenfalls eine Wiedergutmachung auf andere Weise durch
Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer ausreichend. Weiter
hilfsweise wäre ein geringerer Betrag als 100 EUR pro Monat
zuzusprechen. Die Streitwerte seien niedrig und die Verfahren von
geringer Bedeutung gewesen.
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31
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Der ursprünglich für das
Ausgangsverfahren 12 K 476/21 geltend gemachte Teilklageanspruch
könne nicht nachträglich auf die anderen Verfahren
verteilt werden. Es handele sich um verschiedene
Streitgegenstände.
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32
|
II. Die Klage ist teilweise begründet.
Jedem der Kläger steht für die unangemessene Dauer des
Verfahrens 12 K 2343/19 eine Entschädigung von 1.300 EUR,
für die unangemessene Dauer des Verfahrens 12 K 2849/20 eine
Entschädigung von 600 EUR und für die unangemessene Dauer
des Verfahrens 12 K 2948/19 eine Entschädigung von 1.300 EUR
zu (insgesamt 3.200 EUR je Kläger), jeweils zuzüglich
Zinsen seit Rechtshängigkeit. Ferner ist festzustellen, dass
die Dauer des Verfahrens 12 K 2343/19 in zwei weiteren Monaten
unangemessen war. Im Übrigen ist die Klage
unbegründet.
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33
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Nach den Grundsätzen der - insoweit
typisierenden - Senatsrechtsprechung (dazu unten 1.), von denen
abzuweichen für den Streitfall weder die Einwendungen der
Kläger (unten 2.) noch etwaige einzelfallbezogene
Besonderheiten Anlass geben (unten 3.), beläuft sich der
unangemessene Teil der Dauer des Verfahrens 12 K 2343/19 auf 15
Monate (unten 4.), des Verfahrens 12 K 2849/20 auf sechs Monate
(unten 5.) und des Verfahrens 12 K 2948/19 auf 13 Monate (unten
6.). Die Dauer der Verfahren 12 K 1462/23 und 12 K 1465/23 war
hingegen nicht unangemessen (unten 7.). Der Beklagte hat die
gesetzliche Vermutung eines Nichtvermögensnachteils nicht
widerlegt (unten 8.). Für die Kompensation des erlittenen
Nachteils ist im Streitfall eine Wiedergutmachung auf andere Weise
statt der Zuerkennung einer Geldentschädigung nicht
ausreichend (unten 9.). Die Verzögerungsrügen waren
wirksam und eröffnen in den Verfahren 12 K 2948/19 und 12 K
2849/20 die Geldentschädigung für alle
Verzögerungsmonate, während in dem Verfahren 12 K 2343/19
für zwei der Verzögerungsmonate nur ein
Feststellungsausspruch möglich ist (unten 10.). Entgegen der
Auffassung des Beklagten bestehen im Streitfall keine Gründe,
vom gesetzlichen Regelbetrag der Entschädigung nach unten
abzuweichen (unten 11.). Ob der ursprüngliche
Teilklageanspruch für das Ausgangsverfahren 12 K 476/21 nach
Klageerhebung anderen Ausgangsverfahren zugeordnet werden kann, ist
im Streitfall nicht erheblich (unten 12.). Soweit die Kläger
einen Anspruch auf Geldentschädigung haben, besteht auch ein
Anspruch auf Prozesszinsen (unten 13.).
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34
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1. Wer infolge unangemessener Dauer eines
Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil
erleidet, wird angemessen entschädigt (§ 198 Abs. 1 Satz
1 GVG). Gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG richtet sich
die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des
Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des
Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und
Dritter.
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35
|
a) Diese gesetzlichen Maßstäbe
beruhen auf der ständigen Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des
Bundesverfassungsgerichts (BVerfG). Zur Vermeidung von
Wiederholungen wird auf das Senatsurteil vom 07.11.2013 - X K 13/12
(BFHE 243, 126, BStBl II 2014, 179 = SIS 13 32 59, Rz 48 ff.) Bezug
genommen. Hiernach ist der Begriff der
„Angemessenheit“ für Wertungen
offen, die dem Spannungsverhältnis zwischen dem Interesse an
einem möglichst zügigen Abschluss des Verfahrens
einerseits und anderen, ebenfalls hochrangigen sowie verfassungs-
und menschenrechtlich verankerten prozessualen Grundsätzen -
wie dem Anspruch auf Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes
durch inhaltlich möglichst zutreffende und qualitativ
möglichst hochwertige Entscheidungen, der Unabhängigkeit
der Richter und dem Anspruch auf den gesetzlichen Richter -
Rechnung tragen. Daher darf die zeitliche Grenze bei der Bestimmung
der Angemessenheit der Dauer des Ausgangsverfahrens nicht zu eng
gezogen werden. Insbesondere ist die Dauer eines Gerichtsverfahrens
nicht schon dann „unangemessen“, wenn
die Betrachtung eine Abweichung vom Optimum ergibt; vielmehr muss
eine deutliche Überschreitung der äußersten Grenzen
des Angemessenen feststellbar sein (Senatsurteil vom 07.11.2013 - X
K 13/12, BFHE 243, 126, BStBl II 2014, 179 = SIS 13 32 59, Rz 51
bis 53). Dem Ausgangsgericht ist ein erheblicher Spielraum für
die Gestaltung seines Verfahrens - auch in zeitlicher Hinsicht -
einzuräumen (zum Ganzen auch Senatsurteil vom 14.04.2021 - X K
3/20, BFH/NV 2021, 1507 = SIS 21 15 84, Rz 26 f.).
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36
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b) Für ein finanzgerichtliches
Klageverfahren, das im Vergleich zu dem typischen in dieser
Gerichtsbarkeit zu bearbeitenden Verfahren keine wesentlichen
Besonderheiten aufweist, hat der Senat die Vermutung aufgestellt,
dass die Dauer des Verfahrens angemessen ist, wenn das Gericht gut
zwei Jahre nach dem Eingang der Klage mit Maßnahmen beginnt,
die das Verfahren einer Entscheidung zuführen sollen, und die
damit begonnene („dritte“) Phase des
Verfahrensablaufs nicht durch nennenswerte Zeiträume
unterbrochen wird, in denen das Gericht die Akte unbearbeitet
lässt (ausführlich Senatsurteil vom 07.11.2013 - X K
13/12, BFHE 243, 126, BStBl II 2014, 179 = SIS 13 32 59, Rz 62 ff.,
insbesondere Rz 69).
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37
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2. Die Einwendungen der Kläger bieten
keinen Anlass, diese - für den typischen Fall geltende -
Vermutungsregel aufzugeben.
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38
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a) Im Gegensatz zur Auffassung der Kläger
ist nicht jede über sechs Wochen hinausgehende Verfahrensdauer
unangemessen.
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39
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aa) Insoweit sind die Kläger der
Auffassung, aus den - sich regelmäßig auf 14 Tage
belaufenden - Erklärungs-, Stellungnahme- und
Erwiderungsfristen, die den Parteien eines Zivilprozesses und ihren
Prozessbevollmächtigten durch § 276, § 277 Abs. 3
ZPO auferlegt seien, folge, dass das Gericht die mündliche
Verhandlung im Normalfall auf einen vier Wochen nach Klageeingang
liegenden Termin ansetzen könne. Weitere zwei Wochen
später müsse das Urteil abgefasst und zugestellt sein.
Hieraus ergebe sich eine angemessene Verfahrensdauer von lediglich
sechs Wochen; jede Verfahrensdauer, die darüber hinausgehe,
sei als unangemessen anzusehen. Die genannten zivilprozessualen
Vorschriften seien gemäß § 155 Satz 1 FGO auch im
finanzgerichtlichen Verfahren anzuwenden.
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40
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bb) Bereits die letztgenannte Prämisse
geht fehl. Nach § 155 Satz 1 FGO sind Vorschriften der ZPO nur
insoweit sinngemäß im finanzgerichtlichen Verfahren
anzuwenden, als die FGO keine Bestimmungen über das Verfahren
enthält und die grundsätzlichen Unterschiede der beiden
Verfahrensarten die sinngemäße Anwendung nicht
ausschließen. In Bezug auf die von den Klägern genannten
Vorschriften der § 276, § 277 Abs. 3 ZPO enthält die
FGO aber - in Gestalt des § 79b FGO - eine eigenständige
Bestimmung. Abgesehen von der Notfrist des § 276 Abs. 1 Satz 1
ZPO, die sich auf die der FGO unbekannte Verteidigungsanzeige als
solche bezieht und deren Verstreichen den Erlass des ebenfalls der
FGO unbekannten Versäumnisurteils nach § 331 Abs. 3 ZPO
eröffnet, besteht die Folge einer Überschreitung der in
§ 276, § 277 Abs. 3 ZPO genannten Fristen darin, dass das
verspätete Vorbringen nur zugelassen werden darf, wenn nach
der freien Überzeugung des Gerichts die Zulassung die
Erledigung des Rechtsstreits nicht verzögern würde oder
wenn die Partei die Verspätung genügend entschuldigt
(§ 296 Abs. 1 ZPO). Diese Rechtsfolge ist für das
finanzgerichtliche Verfahren indes in § 79b Abs. 3 FGO
geregelt. Das zeigt, dass die § 276, § 277 Abs. 3, §
296 ZPO durch § 79b FGO verdrängt werden.
|
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41
|
cc) Darüber hinaus enthält die FGO
weder in § 79b FGO noch anderweit eine Vorgabe dahingehend,
dass Stellungnahmefristen lediglich zwei Wochen betragen sollen.
Die Kläger geben zudem den Inhalt des § 276 ZPO und des
§ 277 Abs. 3 ZPO nicht korrekt wieder. Eine zwingende
Zwei-Wochen-Frist ist wiederum lediglich für die Notfrist des
§ 276 Abs. 1 Satz 1 ZPO vorgesehen, die in der
Finanzgerichtsordnung nicht existiert. Die darin liegende Wertung
kann daher nicht auf den Finanzprozess übertragen werden.
Sowohl in § 276 Abs. 1 Satz 2 ZPO als auch in § 277 Abs.
3 ZPO ist angeordnet, die Stellungnahmefrist müsse mindestens
zwei (weitere) Wochen betragen. Je nach Fallgestaltung sind also
auch deutlich längere Fristen möglich.
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42
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dd) Die weitere von den Klägern
angeführte Vorschrift des § 132 ZPO, wonach bestimmte
vorbereitende Schriftsätze so rechtzeitig eingereicht werden
müssen, dass sie mindestens eine Woche beziehungsweise drei
Tage vor der mündlichen Verhandlung zugestellt werden
können, bewirkt keine feste Bearbeitungsfrist für die
Partei, die den Schriftsatz einreicht. Sie soll es dem Gericht und
der anderen Partei ermöglichen, die mündliche Verhandlung
vorzubereiten und so rechtliches Gehör gewähren (vgl.
Urteil des Oberlandesgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom
03.09.2015 - 1 U 10/15, juris, Rz 37; Zöller/Greger, ZPO, 35.
Aufl., § 132 Rz 1; Gerken in Wieczorek/Schütze, 5. Aufl.,
§ 132 ZPO Rz 1) und enthält überdies auch nur
Mindestzeitspannen. Reichen diese nicht aus, bleiben ein
Schriftsatznachlass nach § 283 Satz 1 ZPO oder die Verlegung
des Termins nach § 227 ZPO möglich.
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43
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ee) Ebenso ist § 216 Abs. 2 ZPO, wonach
Termine zur mündlichen Verhandlung
„unverzüglich“ zu bestimmen sind,
im finanzgerichtlichen Verfahren nicht anwendbar (Brandis in
Tipke/Kruse, § 91 FGO Tz 1; Schallmoser in
Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 91 FGO Rz 20; Wendl in Gosch,
FGO § 91 Rz 12).
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ff) Im Übrigen gilt nach den vorstehend
unter II.1.a dargelegten Grundsätzen, dass nicht jede
Abweichung vom Optimum die Dauer eines (finanz)gerichtlichen
Verfahrens unangemessen macht, sondern eine deutliche
Überschreitung der äußersten Grenzen des
Angemessenen feststellbar sein muss.
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b) Soweit die Kläger darüber hinaus
auf statistische Durchschnittswerte für die Dauer
arbeitsgerichtlicher Verfahren verweisen, ist dies für die
Bestimmung der Angemessenheit der Dauer eines finanzgerichtlichen
Verfahrens ohne Bedeutung. Zudem hat der Senat bereits entschieden,
dass statistische Durchschnittswerte für die Beurteilung der
Angemessenheit der Dauer eines konkreten Verfahrens über eine
Indizwirkung hinaus nur von sehr eingeschränkter Aussagekraft
sind (Urteil vom 19.03.2014 - X K 3/13, BFH/NV 2014, 1053 = SIS 14 15 88, Rz 29).
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46
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3. Die vorliegend in Rede stehenden
Ausgangsverfahren weisen keine außergewöhnlichen
Besonderheiten auf, die Anlass gäben, die dargestellte
typisierende Regelvermutung zugunsten oder zulasten der Kläger
nicht anzuwenden. Insbesondere vermittelt die Anwendung der in
§ 198 Abs. 1 Satz 2 GVG beispielhaft genannten Kriterien im
Streitfall kein einheitliches Bild.
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a) Entgegen der Auffassung des Beklagten war
der Schwierigkeitsgrad der Verfahren gering.
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aa) Dies zeigt sich im Streitfall vor allem
daran, dass das Gericht weder rechtliche Hinweise erteilt noch -
abgesehen von der seitens des Klägers in Abrede gestellten
Anforderung der Steuerakten und einer Anfrage an die Beteiligten im
Verfahren 12 K 2948/19 - Maßnahmen zur Sachaufklärung
getroffen hat, die verfahrensabschließenden Urteile
weitestgehend auf formelle Gesichtspunkte gestützt werden
konnten und die tragenden - gleichwohl die Probleme der Verfahren
abdeckenden - Entscheidungsgründe jeweils nur wenige Zeilen
bis maximal eine Seite umfassen.
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49
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bb) Der Senat folgt dem Beklagten nicht darin,
dass der Schwierigkeitsgrad deshalb erhöht gewesen sei, weil
der Verfahrensstoff sehr unübersichtlich gewesen wäre.
Der Beklagte führt insoweit an, die Kläger hätten
mehrere Klagen erhoben, deren Streitgegenstände sich teilweise
überschnitten hätten. Zwar überschnitten sich in der
Tat die Streitgegenstände der Verfahren 12 K 2343/19 und 12 K
2849/20 teilweise. Inwieweit dies aber zu einem erhöhten
Schwierigkeitsgrad geführt haben soll, hat der Beklagte nicht
darlegen können. Wird eine Klage mit einem Streitgegenstand
erhoben, zu dem bereits ein gerichtliches Verfahren anhängig
ist, ist sie wegen des Prozesshindernisses der anderweitigen
Rechtshängigkeit nach § 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 17
Abs. 1 Satz 2 GVG unzulässig und nicht, wie das FG wohl meint,
unbegründet. Sie ist jedoch grundsätzlich im
Finanzprozess mit der zuvor anhängig gemachten Klage zu
verbinden (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Urteil vom
08.06.2021 - II R 15/20, BFH/NV 2022, 34 = SIS 21 18 55, Rz 14 f.,
m.w.N.). Das begründet keine hohe Schwierigkeit. Eine gewisses
Maß an Unübersichtlichkeit und die Notwendigkeit,
überhaupt erst festzustellen, welche Streitgegenstände
und welche Bescheide Gegenstand welcher Verfahren sind und ob
tatsächlich identische Streitgegenstände vorliegen, liegt
noch im üblichen Schwierigkeitsbereich eines
finanzgerichtlichen Verfahrens.
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50
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cc) Darüber hinaus führt der
Einzelrichter in seiner vom Beklagten übermittelten
dienstlichen Stellungnahme an, die Kläger würden
regelmäßig in pauschaler Form rügen, dass entweder
erhebliche Überzahlungen eingetreten oder die vom FA
erstellten Abrechnungsbescheide nicht nachvollziehbar seien. Auch
daraus folgt jedoch kein besonderer Schwierigkeitsgrad der
Verfahren. Im Gegenteil deutet es eher auf einen geringeren
Schwierigkeitsgrad hin, wenn die Kläger regelmäßig
gleichartige Klagen erheben, weil die rechtlichen - und häufig
auch tatsächlichen - Gesichtspunkte dann zumeist nur einmal
durchdacht werden müssen, aber auf eine Mehrzahl von Verfahren
angewendet werden können.
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dd) Ohnehin wäre ein erhöhter
Schwierigkeitsgrad der Verfahren erst in der dritten Phase des vom
Senat typisierend zugrunde gelegten Drei-Phasen-Modells in der
Weise zu berücksichtigen, dass die für Maßnahmen
der Sachaufklärung oder für Überlegungen zur
Rechtsfindung aufgewendete Zeit auch nach einer mehr als
zweijährigen Laufzeit des Verfahrens als Teil der angemessenen
Verfahrensdauer zu werten wäre. Demgegenüber könnte
es nicht als angemessen erachtet werden, ein Verfahren, das als
schwierig empfunden wird, über die vom Senat für den
Regelfall angewendete Zwei-Jahres-Frist hinaus schlicht
unbearbeitet zu lassen.
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52
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b) Gegenläufig ist aber weder von den
Klägern geltend gemacht worden noch sind sonstige
Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Ausgangsverfahren
für die Kläger von besonderer Bedeutung gewesen sein
könnten. In den auf Erteilung von Abrechnungsbescheiden
gerichteten Ausgangsverfahren war offengeblieben, ob in einem
späteren Verfahren gegen die Abrechnungsbescheide wegen
etwaiger Buchungsfehler, die dem FA zu Lasten der Kläger
unterlaufen sein könnten, mit tatsächlichen Auszahlungen
an die Kläger zu rechnen sein könnte. Im Verfahren gegen
den Zinsbescheid war der Streitwert mit - nach Ergehen der
teilweise abhelfenden Einspruchsentscheidung - 2.311,50 EUR nicht
besonders hoch.
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53
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c) Das Verhalten der Verfahrensbeteiligten und
Dritter ist vor allem im Rahmen der Betrachtung der konkreten
Verfahrensgestaltung während der dritten Phase - nach Ablauf
der ersten zwei Jahre der Dauer des jeweiligen Verfahrens - zu
berücksichtigen.
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54
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d) Einzelfallbezogene Gründe für
eine besondere Eilbedürftigkeit haben die Kläger weder
gegenüber dem Ausgangsgericht noch im vorliegenden Verfahren
geltend gemacht.
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55
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e) Soweit der Beklagte pauschal auf weitere
von den Klägern eingeleitete Klageverfahren verweist, bleibt
unklar, welche - einer Erledigung in angemessener Zeit
entgegenstehenden - inhaltlichen Verbindungen sie mit den hier
maßgeblichen Ausgangsverfahren aufweisen sollen. Sowohl aus
der dienstlichen Stellungnahme des Einzelrichters als auch aus dem
Beschluss vom 04.11.2022 betreffend den Ablehnungsantrag der
Kläger ergibt sich, dass in den weiteren Verfahren zumindest
überwiegend um Abrechnungsbescheide gestritten wurde. Ein
sachlicher Zusammenhang mit den Streitgegenständen der
hiesigen Ausgangsverfahren ist damit aber noch nicht belegt.
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56
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Das in seiner dienstlichen Stellungnahme zum
Ausdruck gekommene Bestreben des Einzelrichters, alle Verfahren der
Kläger in einem zeitlichen Zusammenhang zu erledigen,
führt im Ergebnis zu keiner anderen Beurteilung. Dieses
Bestreben ist zwar dem Grunde nach berechtigt. Es kann deshalb
sachgerecht sein, die abschließende Bearbeitung eines
Verfahrens, das nach dem üblichen Arbeitsrhythmus des Gerichts
zur Entscheidung anstünde, mit Rücksicht auf weitere
Verfahren desselben Klägers zurückzustellen, um eine
gleichzeitige Entscheidung zu ermöglichen.
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57
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Dies gilt jedoch nicht ausnahmslos. Es kann
umgekehrt gerade sachgerecht sein, den Streitkomplex abzuschichten
und Teile vorab zu entscheiden, um eine Konzentration auf das
Wesentliche zu ermöglichen, und zwar insbesondere dann, wenn
dies mit überwiegend formellen Erwägungen möglich
ist. So verhielt es sich in den Ausgangsverfahren. Die auf
Erteilung von Abrechnungsbescheiden gerichteten
Verpflichtungsbegehren sowie die Klage gegen die Aussetzungszinsen
stehen in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit Anfechtungsklagen
gegen tatsächlich erteilte Abrechnungsbescheide, so dass es
das weitere Verfahren erheblich entlastet hätte, wenn
hierüber bereits entschieden wäre. Vor diesem Hintergrund
sieht der Senat keinen Anlass, im Streitfall von seiner Typisierung
abzuweichen.
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4. Nach diesen Grundsätzen beläuft
sich der unangemessene Teil der Dauer des Verfahrens 12 K 2343/19
auf 15 Monate.
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59
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a) Da diese Klage am 22.08.2019 erhoben wurde,
wäre das FG verpflichtet gewesen, spätestens ab September
2021 mit Maßnahmen zu beginnen, die das Verfahren einer
Entscheidung zuführen hätten sollen.
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60
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b) Für die Monate September bis Dezember
2021 lassen sich den Akten des Ausgangsverfahrens keine
gerichtlichen Aktivitäten entnehmen. Damit ist die
Verfahrensdauer in diesem Zeitraum als unangemessen anzusehen.
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c) Am 20.01.2022 beantragte das FA zwar, eine
noch anzuberaumende mündliche Verhandlung im Wege der
Videokonferenz abzuhalten. Das FG leitete dieses Schreiben jedoch
nicht an die Kläger weiter. Mangels eigener Aktivität des
Gerichts kann der bloße Eingang eines Schreibens, von dem
nicht ersichtlich ist, dass es im Gericht bearbeitet worden sein
könnte, nicht dazu führen, dass für diesen Monat von
einer angemessenen Verfahrensdauer auszugehen wäre. Auch
für die Monate Februar bis April 2022 gehen aus den Akten
keine gerichtlichen Aktivitäten hervor.
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62
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d) Im Mai 2022 erhoben die Kläger
Verzögerungsrüge. Der Senat hat allerdings bereits
entschieden, dass die bloße Entgegennahme der
Verzögerungsrüge und ihre Weiterleitung an den anderen
Beteiligten - die hier zudem unterblieben ist - nicht als
gerichtliche Aktivität zu werten ist, sofern das Verfahren
nicht im unmittelbaren Anschluss durchgehend gefördert wird
(Senatsurteil vom 25.10.2016 - X K 3/15, BFH/NV 2017, 159 = SIS 16 27 77, Rz 32 f.; ebenso zu einer formularmäßigen
Standardantwort auf eine Sachstandsanfrage Senatsurteil vom
23.03.2022 - X K 2/20, BFHE 275, 533, BStBl II 2023, 38 = SIS 22 12 71, Rz 38), was hier nicht der Fall war.
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63
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e) Am 07.06.2022 übermittelte das FA dem
FG einen Schriftsatz, in dem es erklärte, für einen Teil
der Streitjahre Abrechnungsbescheide erteilt und dem Begehren der
Kläger insoweit abgeholfen zu haben. Dieses Schreiben leitete
das FG den Klägern mit der Bitte um Kenntnis- und
Stellungnahme bis zum 10.07.2022 weiter, ebenso die am 15.06.2022
beim FG eingegangenen Abrechnungsbescheide. Der Monat Juni 2022 ist
daher als Teil der angemessenen Verfahrensdauer anzusehen.
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64
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Da die den Klägern gesetzte
Stellungnahmefrist im Juli 2022 noch lief, hätte das FG bis
zum Fristablauf noch nicht entscheiden können. Damit ist der
Monat Juli 2022 ebenfalls als Teil der angemessenen Verfahrensdauer
anzusehen, auch wenn das Gericht in diesem Monat keine
Aktivität entfaltet hat. Am 05.08.2022 hat der
Berichterstatter beim FA und am 22.08.2022 bei den Klägern
angefragt, ob der Rechtsstreit im Hinblick auf die erlassenen
Abrechnungsbescheide teilweise in der Hauptsache für erledigt
erklärt werden kann. Am 26.09.2022 reichten die Kläger
einen Ablehnungsantrag ein, der vom Vollsenat - in angemessener
Zeit - am 04.11.2022 beschieden wurde.
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65
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Damit ist die Verfahrensdauer in den Monaten
Juni bis November 2022 durchgehend als angemessen anzusehen.
Demgegenüber ist in den Monaten Dezember 2022 bis Mai 2023
keine gerichtliche Aktivität feststellbar.
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f) Ab Juni 2023 ist es zu keinen weiteren
Verzögerungen mehr gekommen: Am 12.06.2023 hat der Senat des
FG den Rechtsstreit auf den Berichterstatter als Einzelrichter
übertragen. Dieser lud am 27.06.2023 zur mündlichen
Verhandlung, die am 18.07.2023 durchgeführt wurde. Am
01.08.2023 ging der Urteilstenor und am 18.09.2023 das
vollständige Urteil in der Geschäftsstelle des FG ein,
das den Klägern am 19.09.2023 zugestellt wurde.
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67
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g) Zusammenfassend ist die Dauer des
Verfahrens 12 K 2343/19 in den Monaten September 2021 bis Mai 2022
sowie Dezember 2022 bis Mai 2023 als unangemessen anzusehen
(insgesamt 15 Monate).
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68
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5. Im Verfahren 12 K 2849/20 beträgt der
unangemessene Teil der Verfahrensdauer sechs Monate.
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a) Diese Klage wurde am 05.11.2020 erhoben.
Die Kläger haben in jenem Schriftsatz zwar formuliert, sie
wollten ihre bereits anhängige Klage 12 K 2343/19 erweitern.
Die Verfügung des Berichterstatters, hier eine neue Klage
eintragen zu lassen, war aber vertretbar, da es um weitere
Ablehnungsbescheide und weitere Einspruchsentscheidungen ging, die
mit den Streitgegenständen des bereits anhängigen
Verfahrens nicht identisch waren. Damit wäre das FG in dem
neuen Klageverfahren verpflichtet gewesen, spätestens ab
Dezember 2022 mit Maßnahmen zu beginnen, die das Verfahren
einer Entscheidung zuführen sollten.
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70
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b) Von Dezember 2022 bis Mai 2023 lassen die
Akten des Ausgangsverfahrens - ebenso wie im Parallelverfahren 12 K
2343/19 (vgl. oben 4.f) - keine gerichtliche Aktivität
erkennen. In Bezug auf diese sechs Monate ist die Verfahrensdauer
daher als unangemessen anzusehen.
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c) Von Juni 2023 bis zur abschließenden
Erledigung im September 2023 hat das Ausgangsgericht das Verfahren
hingegen durchgehend gefördert (wegen der Einzelheiten vgl.
oben 4.f zum parallel betriebenen Verfahren 12 K 2343/19).
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6. Im Verfahren 12 K 2948/19 sind 13 Monate
der Gesamtverfahrensdauer als unangemessen anzusehen.
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a) Diese Klage wurde am 28.10.2019 erhoben, so
dass das FG spätestens im November 2021 verpflichtet gewesen
wäre, mit Maßnahmen zu beginnen, die das Verfahren einer
Entscheidung zuführen sollten.
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b) Von November 2021 bis April 2022 lassen
sich den Akten keine gerichtlichen Aktivitäten entnehmen. Auch
die bloße Entgegennahme der am 02.05.2022 erhobenen
Verzögerungsrüge bewirkt nicht, dass die Verfahrensdauer
für den Monat Mai 2022 als angemessen anzusehen wäre
(vgl. bereits oben 4.d).
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c) Im Juni 2022 hatte der Einzelrichter eine
Aufklärungsverfügung an die Kläger gerichtet, die
nicht beantwortet wurde. Am 15.08.2022 richtete der Einzelrichter
dieselbe Anfrage an das FA, das am 16.08.2022 eine Antwort
übermittelte. Ferner lud der Einzelrichter am 29.08.2022 zur
mündlichen Verhandlung. Am 26.09.2022 stellten die Kläger
auch in diesem Verfahren einen Ablehnungsantrag gegen den
Einzelrichter, der vom Senat am 04.11.2022 zurückgewiesen
wurde. Im Zeitraum von Juni bis November 2022 ist das Verfahren
daher durchgehend gefördert worden.
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76
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d) Demgegenüber sind von Dezember 2022
bis Mai 2023 keine gerichtlichen Aktivitäten erkennbar. Von
Juni 2023 bis zur abschließenden Erledigung im September 2023
hat das Ausgangsgericht das Verfahren wiederum durchgehend
gefördert (Ladung im Juni 2023, mündliche Verhandlung im
Juli 2023, Urteilszustellung im September 2023).
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77
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e) Damit ist die Dauer des Verfahrens 12 K
2948/19 in den Monaten November 2021 bis Mai 2022 sowie Dezember
2022 bis Mai 2023 als unangemessen anzusehen (insgesamt 13
Monate).
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7. Die Dauer der Verfahren 12 K 1462/23 und 12
K 1465/23 war nicht unangemessen.
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79
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Diese Verfahren wurden erst nach der -
verfahrensabschließenden - mündlichen Verhandlung vom
18.07.2023 aus den Verfahren 12 K 2343/19 sowie 12 K 2849/20
abgetrennt. Im Zeitraum zwischen dem Ergehen des
Abtrennungsbeschlusses und der Zustellung der Urteile sind die
Verfahren nicht verzögert worden.
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80
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Der Senat hat bereits entschieden, dass vor
der Abtrennung nur ein einziges Verfahren im Sinne des § 198
Abs. 6 Nr. 1 GVG anhängig ist, hierfür nur ein einziger -
einheitlicher - Entschädigungsanspruch entsteht und dieser
sich in Fällen der objektiven Klagehäufung - im Gegensatz
zur subjektiven Klagehäufung - nicht vervielfacht
(Senatsurteil vom 27.06.2018 - X K 3-6/17, BFH/NV 2019, 27 = SIS 18 16 79, Rz 101).
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81
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Für die vor der Abtrennung eingetretenen
Verzögerungen hinsichtlich der Streitgegenstände der
später abgetrennten Verfahren 12 K 1462/23 und 12 K 1465/23
wird die Entschädigung im Rahmen der Ausgangsverfahren 12 K
2343/19 und 12 K 2849/20 gewährt, in denen die
Streitgegenstände ursprünglich geführt worden sind
(s. oben II.4. und 5.).
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82
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8. Soweit die Verfahrensdauer nach dem
Vorstehenden als unangemessen anzusehen ist, hat der Beklagte die
gesetzliche Vermutung eines Nichtvermögensnachteils nicht
widerlegt.
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83
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a) Gemäß § 198 Abs. 2 Satz 1
GVG wird ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist,
vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert
hat. Der Senat hat unter Bezugnahme auf die Gesetzesmaterialien
(BT-Drucks. 17/3802, S. 19) und die Rechtsprechung des EGMR (vgl.
Urteil vom 29.03.2006 - 36813/97 - Scordino/Italien, NJW 2007,
1259, Rz 204) bereits entschieden, dass es sich um eine
„starke, aber widerlegbare“ Vermutung
handelt und daher ein überlanges Gerichtsverfahren „in
aller Regel“ einen Nichtvermögensnachteil
zur Folge hat (Senatsurteil vom 23.03.2022 - X K 6/20, BFHE 276,
308, BStBl II 2022, 811 = SIS 22 14 63, Rz 37). Dies entspricht
auch der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (vgl.
Urteil vom 26.10.2023 - B 10 ÜG 1/22 R, NJW 2024, 1683 = SIS 24 10 06, Rz 23, m.w.N.).
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84
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Die gesetzliche Vermutung ist widerlegt, wenn
sicher festgestellt wird, dass die unangemessene Verfahrensdauer
nicht zu einem Nachteil geführt hat, entweder weil kein
Nachteil vorliegt oder weil kein Kausalzusammenhang zwischen der
Verfahrensdauer und dem Nachteil gegeben ist. Hierzu bedarf es des
vollen Beweises des Gegenteils (§ 292 ZPO i.V.m. § 155
Satz 1 FGO), also des Fehlens eines Nichtvermögensnachteils
(zum Ganzen vgl. Senatsurteil vom 23.03.2022 - X K 6/20, BFHE 276,
308, BStBl II 2022, 811 = SIS 22 14 63, Rz 38, m.w.N.).
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85
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b) Nach diesen Maßstäben ist das
Vorbringen des Beklagten nicht geeignet, die gesetzliche Vermutung
eines Nichtvermögensnachteils zu widerlegen.
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86
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aa) Zum einen beruft der Beklagte sich auf das
Senatsurteil vom 20.11.2013 - X K 2/12 (BFHE 243, 151, BStBl II
2014, 395 = SIS 14 01 01). Dort hat der Senat sowohl eine
Geldentschädigung als auch die Feststellung einer
überlangen Verfahrensdauer versagt, weil erst die lange
Verfahrensdauer dem dortigen Kläger die Möglichkeit
verschafft hatte, von einer zwischenzeitlichen
Rechtsprechungsänderung zu profitieren. Damit hatte die lange
Verfahrensdauer dem dortigen Kläger „gewichtige Vorteile
verschafft“ (so ausdrücklich Senatsurteil
vom 20.11.2013 - X K 2/12, BFHE 243, 151, BStBl II 2014, 395 = SIS 14 01 01, Rz 29; Verfassungsbeschwerde durch BVerfG-Beschluss vom
28.09.2015 - 2 BvR 1738/14 nicht zur Entscheidung angenommen). In
Bezug auf die vorliegend zu beurteilenden Ausgangsverfahren ist
aber nicht erkennbar, dass die Kläger „gewichtige
Vorteile“ aufgrund der überlangen
Verfahrensdauer erlangt hätten. Solche Vorteile werden auch
vom Beklagten nicht benannt.
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87
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bb) Soweit der Beklagte vorbringt, die
Kläger hätten nicht dargelegt, durch die überlange
Verfahrensdauer psychisch oder physisch beeinträchtigt worden
zu sein, ist darauf hinzuweisen, dass solche Darlegungen angesichts
der - unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR
„starken, aber widerlegbaren“ -
gesetzlichen Vermutung des § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG nicht
erforderlich sind (vgl. auch Senatsurteil vom 23.03.2022 - X K
2/20, BFHE 275, 533, BStBl II 2023, 38 = SIS 22 12 71, Rz 48).
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88
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cc) Darüber hinaus bringt der Beklagte
vor, es sei nicht ersichtlich, dass die begehrten
Abrechnungsbescheide für die Kläger, die keine
substantiierten Einwendungen erhoben hätten, rechtlich
erheblich gewesen seien. Abgesehen davon, dass es auf die
Erfolgsaussichten des Ausgangsverfahrens für die Prüfung
einer späteren Entschädigungsklage grundsätzlich
nicht ankommt, geht dieses Vorbringen des Beklagten auch deshalb
ins Leere, weil das Ausgangsgericht den von den Klägern
erhobenen Verpflichtungsklagen auf Erteilung von
Abrechnungsbescheiden - soweit ihnen keine formellen Gesichtspunkte
entgegenstanden - stattgegeben hat.
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89
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9. Für die Kompensation des erlittenen
Nachteils ist im Streitfall eine Wiedergutmachung auf andere Weise
statt der Zuerkennung einer Geldentschädigung nicht
ausreichend.
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a) Nach § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG kann
für einen Nichtvermögensnachteil eine
(Geld-)Entschädigung nur beansprucht werden, soweit nicht nach
den Umständen des Einzelfalls Wiedergutmachung auf andere
Weise gemäß § 198 Abs. 4 GVG ausreichend ist.
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91
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aa) Nach der Rechtsprechung des Senats
begründet der Gesetzeswortlaut keinen Vorrang der
Geldentschädigung vor einem Feststellungsausspruch, so dass
vor der Zuerkennung einer Geldentschädigung jeweils konkret zu
prüfen ist, ob die bloße Feststellung einer
unangemessenen Verfahrensdauer als Wiedergutmachung ausreichend
ist. Dies kann nicht pauschal, sondern muss unter Abwägung
aller Belange im Einzelfall entschieden werden (zum Ganzen
Senatsurteil vom 23.03.2022 - X K 6/20, BFHE 276, 308, BStBl II
2022, 811 = SIS 22 14 63, Rz 42, m.w.N.).
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92
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bb) In der Rechtspraxis hat sich gleichwohl
gezeigt, dass die Zuerkennung einer Geldentschädigung die
Regel, die Wiedergutmachung auf andere Weise eine typischerweise in
bestimmten Fallgruppen (dazu noch unten c) auftretende Ausnahme
ist.
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93
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Die Rechtsprechung des BSG stimmt damit in
ihren Ergebnissen überein, betont aber schon seit jeher
ausdrücklich, dass die Kompensation eines
Nichtvermögensschadens auf andere Weise als durch eine
Geldentschädigung nur ausnahmsweise in Betracht komme (so
bereits BSG-Urteil vom 21.02.2013 - B 10 ÜG 1/12 KL, BSGE 113,
75, Rz 45, unter ausführlicher Analyse der Rechtsprechung des
EGMR, der ebenfalls im Regelfall Geldentschädigungen zuerkenne
und nur ausnahmsweise einen bloßen Feststellungsausspruch
tätige; ferner z.B. BSG-Urteile vom 03.09.2014 - B 10 ÜG
12/13 R, Die Sozialgerichtsbarkeit 2014, 627, Rz 59; vom 12.02.2015
- B 10 ÜG 11/13 R, BSGE 118, 102, Rz 36 und vom 26.10.2023 - B
10 ÜG 1/22 R, NJW 2024, 1683 = SIS 24 10 06, Rz 23). Dem
schließt sich der Senat an, wobei - auch nach Auffassung des
BSG - weiterhin eine Betrachtung der Umstände des Einzelfalls
erforderlich ist (s. dazu unten c).
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94
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b) In der Rechtsprechung des Senats und der
Entschädigungsklagesenate der anderen obersten
Gerichtshöfe des Bundes zu § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG haben
sich im Wesentlichen drei - naturgemäß nicht
abschließende - Fallgruppen herausgebildet, in denen eine
Wiedergutmachung auf andere Weise als ausreichend angesehen wird
(vgl. auch die Zusammenstellung der Rechtsprechung im Senatsurteil
vom 23.03.2022 - X K 6/20, BFHE 276, 308, BStBl II 2022, 811 = SIS 22 14 63, Rz 43 f.).
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95
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aa) Die häufigste Fallgruppe ist dadurch
gekennzeichnet, dass das Ausgangsverfahren für den Beteiligten
objektiv keine besondere Bedeutung hatte. Hiervon ist der Senat
beispielsweise in einem Fall ausgegangen, der dadurch
gekennzeichnet war, dass die im Ausgangsverfahren erhobene Klage
bereits unschlüssig - also schon auf der Grundlage des eigenen
Tatsachenvortrags des Klägers erkennbar unbegründet - war
(Senatsurteil vom 17.04.2013 - X K 3/12, BFHE 240, 516, BStBl II
2013, 547 = SIS 13 14 53, Rz 62). Gleiches gilt, wenn sich die
Klage gegen einen Bescheid richtet, der gar nicht an den
Kläger adressiert ist und der Kläger bei Erlass des
Bescheids noch nicht geboren war (BSG-Urteil vom 26.10.2023 - B 10
ÜG 1/22 R, NJW 2024, 1683 = SIS 24 10 06, Rz 37 ff.). Das
BVerfG hat einen bloßen Feststellungsausspruch wegen objektiv
fehlender besonderer Bedeutung des Verfahrens in einem Fall als
Wiedergutmachung ausreichen lassen, in dem ein Rechtsanwalt in
eigener Sache ein Kostenfestsetzungsverfahren führte. Ein
solches Verfahren sei für die Partei im Verhältnis zum
Hauptsacheverfahren regelmäßig nur von untergeordneter
Bedeutung. Materiell sei die Verfahrensdauer in gewisser Weise
sogar günstig, da der Kostenerstattungsanspruch verzinst
werde. Dem Grunde nach stehe der Kostenerstattungsanspruch durch
die Kostengrundentscheidung bereits fest, und bei einem
Rechtsanwalt, der die Wirkungszusammenhänge gerichtlicher
Verfahren einschätzen könne, bestehe ein immaterieller
Nachteil in weitaus geringerem Maße als bei einem Laien
(BVerfG-Beschluss vom 11.12.2023 - 2 BvR 739/17 - Vz 5/23, NJW
2024, 1331, Rz 77).
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96
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bb) Ferner wird eine Geldentschädigung
versagt, wenn dem Beteiligten aufgrund der unangemessenen
Verfahrensdauer andere Vorteile erwachsen sind, und zwar auch
über diejenigen Fälle hinaus, in denen der
Nichtvermögensnachteil gemäß § 198 Abs. 2 Satz
1 GVG schon dem Grunde nach entfällt, weil eine
Rechtsprechungsänderung zu einem „gewichtigen
Vorteil“ führt (vgl. oben 8.b aa).
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97
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(1) Hier ist auf die gesetzliche Regelung des
§ 199 Abs. 3 Satz 1 GVG hinzuweisen, wonach im Strafverfahren
eine ausreichende Wiedergutmachung auf andere Weise im Sinne von
§ 198 Abs. 2 Satz 2 GVG auch darin liegt, dass das
Strafgericht oder die Staatsanwaltschaft die unangemessene Dauer
des Verfahrens zugunsten des Beschuldigten berücksichtigt.
Gemeint ist damit die Kompensation im Wege des
Vollstreckungsmodells (Beschluss des Bundesgerichtshofs - BGH - vom
28.05.2020 - 3 StR 99/19, Der Strafverteidiger 2020, 838, Rz 39;
vgl. dazu BGH-Beschluss vom 17.01.2008 - GSSt 1/07, BGHSt 52,
124).
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98
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(2) Anderweitige Vorteile, die eine
Geldentschädigung ausschließen, sind ferner bejaht
worden, wenn ein unangemessen lange dauerndes gerichtliches
Disziplinarverfahren mit der Entfernung aus dem Dienst endet, der
Betroffene aber aufgrund der Verzögerung noch
Dienstbezüge vereinnahmen konnte, die ihm bei einer
früheren Entscheidung nicht mehr zugeflossen wären
(Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 12.07.2018 - 2 WA 1.17 D,
NJW 2019, 320, Rz 39). Auch der - bereits vorstehend unter aa
zitierte - BVerfG-Beschluss vom 11.12.2023 - 2 BvR 739/17 - Vz 5/23
(NJW 2024, 1331) gehört insoweit in diese Fallgruppe, als er
Überlegungen zu der Verzinsung des Kostenerstattungsanspruchs
anstellt.
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99
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cc) In einer dritten Fallgruppe bestehen
Besonderheiten, die im eigenen Verhalten des Beteiligten liegen,
aber nicht schon dazu führen, dass aufgrund seines eigenen
Verhaltens bereits gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG
die Unangemessenheit der Verfahrensdauer als solche zu verneinen
wäre. Ein derartiges Verhalten, das eine Wiedergutmachung auf
andere Weise als ausreichend erscheinen lässt, ist in der
bisherigen Rechtsprechung beispielsweise angenommen worden, wenn
der Beteiligte einem - in der Sache gebotenen - Ruhen des
Verfahrens nicht zustimmt (Senatsurteile vom 04.06.2014 - X K
12/13, BFHE 246, 136, BStBl II 2014, 933 = SIS 14 24 92, Rz 38 und
vom 02.12.2015 - X K 4/14, BFH/NV 2016, 758 = SIS 16 07 20, Rz
43).
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100
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dd) Darüber hinaus hat der Senat bereits
entschieden, dass die weitere in den Gesetzesmaterialien für
ein Ausreichen der Wiedergutmachung auf andere Weise genannte
Fallgruppe, wonach der Verfahrensbeteiligte neben der
Überlänge des Verfahrens keinen weitergehenden
immateriellen Nachteil erlitten habe, im finanzgerichtlichen
Verfahren grundsätzlich keine Relevanz habe (ausführlich
Senatsurteil vom 23.03.2022 - X K 6/20, BFHE 276, 308, BStBl II
2022, 811 = SIS 22 14 63, Rz 47).
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101
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c) Ungeachtet dieser Typisierung hält der
Senat jedoch mit dem BSG weiterhin eine Betrachtung der
Umstände des Einzelfalls für erforderlich. Die
beschriebenen Fallgruppen begründen keine Vermutungswirkung
(wie bei § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG); jedoch kommt den
tatsächlichen Umständen, die ihnen zugrunde liegen, eine
indizielle Bedeutung zu. Die Fallgruppen sind auch nicht
abschließend. Es bleibt erforderlich, eine Abwägung
aller Belange im Einzelfall vorzunehmen (s. oben II.9.a aa).
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102
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In diese Abwägung ist
regelmäßig einzustellen, ob das Ausgangsverfahren
für den Entschädigungskläger eine besondere
Bedeutung hatte. Darüber hinaus kann aber auch bedeutsam sein,
ob der Entschädigungskläger durch sein Prozessverhalten
erheblich zur Verzögerung des Ausgangsverfahrens beigetragen
hat, ob er weitergehende immaterielle Schäden erlitten hat
oder ob die Überlänge den einzigen Nachteil darstellt.
Schließlich kann im Rahmen des Abwägungsvorgangs vom
Entschädigungsgericht zu berücksichtigen sein, von
welchem Ausmaß die Unangemessenheit der Dauer des Verfahrens
ist und ob das Ausgangsverfahren für den Verfahrensbeteiligten
eine besondere Dringlichkeit aufwies oder ob diese zwischenzeitlich
entfallen war oder ob sich das Ausgangsgericht in besonderem
Maße unkooperativ oder uneinsichtig verhalten hat (vgl.
BSG-Beschluss vom 11.11.2019 - B 10 ÜG 1/19 B, juris, Rz 8,
m.w.N. aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung).
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103
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d) Vorliegend ist keine dieser Fallgruppen
gegeben, in denen eine Wiedergutmachung auf andere Weise als
ausreichend angesehen wird. Sonstige Besonderheiten vermag der
Senat in der Konstellation des Streitfalls nicht zu erkennen. Weder
kann festgestellt werden, dass die Ausgangsverfahren für die
Kläger objektiv keine besondere Bedeutung hatten (vgl. dazu
bereits oben 3.b) noch sind den Klägern gerade durch die
Verzögerung der Ausgangsverfahren andere Vorteile erwachsen
noch bestehen Besonderheiten, die im eigenen Verhalten der
Kläger während der Ausgangsverfahren liegen. Der vom
Beklagten hervorgehobene Gesichtspunkt, dass die
Überlänge des Verfahrens den einzigen Nachteil
dargestellt haben mag, spielt im finanzgerichtlichen Verfahren -
wie vorstehend unter b dd dargelegt - keine Rolle.
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104
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Der Senat versteht die Erwägung im
BVerfG-Beschluss vom 11.12.2023 - 2 BvR 739/17 - Vz 5/23 (NJW 2024,
1331, Rz 77; ebenso das vom Beklagten angeführte Urteil des
Oberlandesgerichts Celle vom 21.02.2018 - 23 EK 5/17, Neue
Juristische Wochenschrift-Rechtsprechungs-Report Zivilrecht 2018,
634, Rz 25), bei einem Rechtsanwalt bestehe ein immaterieller
Nachteil in weitaus geringerem Maße als bei einem Laien,
dahingehend, dass dieses Kriterium nicht schon für sich
genommen zum Ausschluss einer Geldentschädigung führt,
sondern nur im Zusammenwirken mit anderen - im dortigen Verfahren
gegebenen - Besonderheiten des Einzelfalls. Der Umstand, dass der
Kläger - nicht aber die Klägerin - als Rechtsanwalt
tätig ist, steht daher der Zuerkennung einer
Geldentschädigung nicht entgegen.
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105
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Auch ist die Verzögerung der
Ausgangsverfahren mit 16, 13 beziehungsweise sechs Monaten nicht
unerheblich.
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106
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10. Die für die Gewährung einer
Geldentschädigung nach § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG
erforderlichen Verzögerungsrügen waren in allen drei
Verfahren wirksam. Im Verfahren 12 K 2343/19 ermöglicht die -
insoweit erst längere Zeit nach Eintritt der Verzögerung
erhobene - Verzögerungsrüge nur eine
Geldentschädigung für 13 der 15 Verzögerungsmonate;
für die beiden weiteren Monate ist lediglich die
Unangemessenheit der Verfahrensdauer festzustellen (unten a).
Demgegenüber haben die Kläger die
Verzögerungsrügen in den Verfahren 12 K 2948/19 (dazu
unten b) und 12 K 2849/20 (unten c) in zeitlicher Hinsicht
dergestalt erhoben, dass ihnen für den gesamten Zeitraum der
Verzögerung dieser Verfahren eine Geldentschädigung
zuzuerkennen ist.
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107
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a) Die Klage 12 K 2343/19 war seit dem
22.08.2019 anhängig; die Verfahrensdauer war seit September
2021 als unangemessen anzusehen (vgl. oben 4.a). Die
Verzögerungsrüge vom 02.05.2022 wurde hier erst acht
Monate nach dem Beginn der Verzögerung erhoben. Die Besorgnis
unangemessener Verfahrensdauer, wie § 198 Abs. 2 Satz 1
Halbsatz 1 GVG sie verlangt, besteht (erst recht), wenn die
Verzögerung nicht nur zu befürchten war, sondern sich
längst realisiert hatte.
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108
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aa) Verzögerungsrügen wirken nach
der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats im
Regelfall gut sechs Monate zurück (mit ausführlicher
Begründung Senatsurteil vom 06.04.2016 - X K 1/15, BFHE 253,
205, BStBl II 2016, 694 = SIS 16 11 18, Rz 40 ff.; ferner
Senatsurteile vom 25.10.2016 - X K 3/15, BFH/NV 2017, 159 = SIS 16 27 77, Rz 39; vom 12.07.2017 - X K 3-7/16, BFHE 259, 393, BStBl II
2018, 103 = SIS 17 22 40, Rz 53 und vom 23.03.2022 - X K 6/20, BFHE
276, 308, BStBl II 2022, 811 = SIS 22 14 63, Rz 35). Eine Ausnahme
von diesem Regelfall hat der Senat beispielsweise angenommen, wenn
das Gericht dem Entschädigungskläger auf eine
frühere - zu früh erhobene und daher unwirksame -
Verzögerungsrüge einen voraussichtlichen
Bearbeitungszeitraum nennt, diesen dann aber nicht einhält
(Senatsurteil vom 29.11.2017 - X K 1/16, BFHE 259, 499, BStBl II
2018, 132 = SIS 17 24 19, Rz 44). Gleiches gilt, wenn der andere
Beteiligte eine Sachstandsanfrage gestellt hat und davon auszugehen
ist, dass beide Beteiligte das weitere Verhalten des Gerichts
zunächst abwarten wollten (Senatsurteil vom 23.03.2022 - X K
2/20, BFHE 275, 533, BStBl II 2023, 38 = SIS 22 12 71, Rz 47).
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109
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bb) Das BSG und der BGH sind dieser
Rechtsprechung zwar nicht gefolgt, sehen aber im Hinblick auf die
im sozialgerichtlichen Verfahren andersgeartete typisierende
Bestimmung der angemessenen Verfahrensdauer (BSG-Urteil vom
07.09.2017 - B 10 ÜG 3/16 R, Sozialrecht 4-1720 § 198 Nr.
14, Rz 22) beziehungsweise wegen des Fehlens jeglicher
Typisierungsmöglichkeit im Zivilprozess (BGH-Urteil vom
26.11.2020 - III ZR 61/20, BGHZ 227, 377, Rz 23 ff.) keine
Divergenz im Sinne des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der
Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes.
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110
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cc) Vorliegend sind keine besonderen
Gründe dafür ersichtlich, ausnahmsweise eine
Rückwirkung der Verzögerungsrüge über sechs
Monate hinaus zuzulassen. Sie wirkt daher nur bis
einschließlich November 2021 zurück.
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111
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Für die Monate September und Oktober
2021, in denen das Ausgangsverfahren 12 K 2343/19 ebenfalls
unangemessen verzögert war, kann hingegen keine
Geldentschädigung gewährt werden. Für diese Monate
ist allerdings gemäß § 198 Abs. 4 Satz 1 GVG
festzustellen, dass die Dauer des Verfahrens 12 K 2343/19
unangemessen war. Eine solche Feststellung setzt keinen Antrag
voraus (§ 198 Abs. 4 Satz 2 GVG). Demzufolge kann eine
unangemessene Verfahrensdauer auch dann festgestellt werden, wenn
der Entschädigungskläger lediglich eine
Geldentschädigung beantragt hatte, es aber an einer
hierfür erforderlichen Voraussetzung fehlte (vgl. Senatsurteil
vom 17.04.2013 - X K 3/12, BFHE 240, 516, BStBl II 2013, 547 = SIS 13 14 53, Rz 14 [Klageantrag], 72 [Begründung für den
Feststellungsausspruch]). Dass eine Verzögerungsrüge
nicht Voraussetzung für den Feststellungsausspruch ist, folgt
aus § 198 Abs. 4 Satz 3 Halbsatz 2 GVG.
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112
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b) Die Klage 12 K 2948/19 wurde am 28.10.2019
erhoben; der erste Monat, für den die Verfahrensdauer als
unangemessen anzusehen ist, ist der November 2021 (s. oben 6.a).
Die Kläger übermittelten ihre Verzögerungsrüge
am 02.05.2022. Da Verzögerungsrügen nach der
ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats im Regelfall
gut sechs Monate zurückwirken (s. oben a aa), ist der Monat
November 2021 von der Verzögerungsrüge umfasst.
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113
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Den Einwand des Beklagten, die
Verzögerungsrüge sei zu früh erhoben worden, teilt
der Senat nicht. Die Verzögerung bestand tatsächlich
bereits seit November 2021, während das letzte als
Verfahrensförderung zu begreifende Ereignis der Ablauf der
Stellungnahmefrist zum 10.10.2020 war, noch ein Jahr
früher.
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114
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c) Die Klage 12 K 2849/20 war seit dem
05.11.2020 anhängig; die unangemessene Verfahrensdauer begann
im Dezember 2022 (s. oben 5.a). Die Verzögerungsrüge
wurde am 02.05.2022, etwa 18 Monate nach Einleitung des Verfahrens,
erhoben, bevor die Verfahrensdauer tatsächlich bereits
unangemessen war.
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115
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aa) Dies ist zwar relativ früh, da bis
zum objektiven Beginn der Verzögerung - bei Anwendung der
typisierenden Betrachtung des Senats - noch ein Zeitraum von gut
sechs Monaten verblieb. Demzufolge hat der Senat
Verzögerungsrügen als unwirksam angesehen, die 13 Monate
(Urteil vom 16.11.2022 - X K 1, 2/21, BFH/NV 2023, 720 = SIS 23 05 36, Rz 29 f., m.w.N.) oder 14 Monate (Senatsurteile vom 26.10.2016
- X K 2/15, BFHE 255, 407, BStBl II 2017, 350 = SIS 16 27 84, Rz 45
ff. und vom 29.11.2017 - X K 1/16, BFHE 259, 499, BStBl II 2018,
132 = SIS 17 24 19, Rz 40 f.) nach Eingang der Klage erhoben worden
waren.
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116
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bb) Vorliegend ist allerdings die Besonderheit
zu beachten, dass das Ausgangsverfahren 12 K 2849/20 - insbesondere
aufgrund der teilweisen Identität der Streitgegenstände -
in engem sachlichen Zusammenhang mit dem schon seit dem 22.08.2019
anhängigen Ausgangsverfahren 12 K 2343/19 stand, das bereits
seit September 2021 als verzögert anzusehen war. In einem
solchen Fall des Zusammenhangs mit einem Parallelverfahren
lässt der Senat auch eine mehrmonatige Vorwirkung der
Verzögerungsrüge zu (Urteil vom 08.10.2019 - X K 1/19,
BFH/NV 2020, 98 = SIS 19 18 91, Rz 62 f.: vier Monate). Denn
maßgeblich ist, wann der Beteiligte erstmals Anhaltspunkte
dafür hat, dass das Verfahren keinen angemessen zügigen
Fortgang nimmt (Senatsurteil vom 26.10.2016 - X K 2/15, BFHE 255,
407, BStBl II 2017, 350 = SIS 16 27 84, Rz 47, m.w.N.). Solche
Anhaltspunkte können sich nicht nur aus dem betroffenen
Ausgangsverfahren selbst - in dem die letzte gerichtliche
Aktivität im Zeitpunkt der Erhebung der
Verzögerungsrüge nahezu 15 Monate zurücklag -,
sondern auch aus einem Parallelverfahren ergeben, das hier bereits
erheblich verzögert war. Angesichts des hier gegebenen
besonders engen Zusammenhangs zwischen den beiden Verfahren ist im
Streitfall auch eine Vorwirkung von sechs Monaten noch als
zulässig anzusehen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass
die Verzögerungsrüge nicht allein dazu dient, dem
Beteiligten später einen Anspruch auf Geldentschädigung
zu ermöglichen, sondern vor allem eine präventive
Funktion hat, die aber nur dann in vollem Umfang zur Geltung kommen
kann, wenn die Rüge dem Ausgangsgericht als Anstoß
dient, das Verfahren zu einem Zeitpunkt zu fördern, in dem die
Verfahrensdauer noch als angemessen anzusehen ist (vgl. auch hierzu
bereits Senatsurteil vom 08.10.2019 - X K 1/19, BFH/NV 2020, 98 =
SIS 19 18 91, Rz 62).
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11. Entgegen der Auffassung des Beklagten
bestehen im Streitfall keine Gründe, vom gesetzlichen
Regelbetrag der Entschädigung nach unten abzuweichen.
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118
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a) Die Geldentschädigung beträgt
grundsätzlich 1.200 EUR für jedes Jahr der
Verzögerung (§ 198 Abs. 2 Satz 3 GVG), wobei dieser
Betrag zeitanteilig nach Monaten bemessen werden kann (Senatsurteil
vom 20.08.2014 - X K 9/13, BFHE 247, 1, BStBl II 2015, 33 = SIS 14 25 64, Rz 38; BSG-Urteil vom 12.02.2015 - B 10 ÜG 1/13 R, BSGE
118, 91, Rz 23, m.w.N.). Ist der genannte Betrag nach den
Umständen des Einzelfalls unbillig, kann das Gericht einen
höheren oder niedrigeren Betrag festsetzen (§ 198 Abs. 2
Satz 4 GVG).
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b) Der erkennende Senat hat in seiner
bisherigen Rechtsprechung von der Billigkeitsregelung des §
198 Abs. 2 Satz 4 GVG noch keinen Gebrauch gemacht und auch noch
keine abstrakten Maßstäbe hierzu entwickelt. Nach der
Rechtsprechung des BGH ist das Entschädigungsgericht im
Hinblick auf den Vereinfachungszweck der Pauschalierung nur beim
Vorliegen besonderer Umstände gehalten, aus
Billigkeitsgründen von dem normierten Pauschalsatz abzuweichen
(BGH-Urteil vom 14.11.2013 - III ZR 376/12, BGHZ 199, 87, Rz 46),
etwa durch Erhöhung des Betrags wegen der besonderen Bedeutung
eines Pilotverfahrens bei gleichzeitigem Fortfall der
Entschädigung für die Folgeverfahren (BGH-Urteile vom
15.12.2022 - III ZR 192/21, BGHZ 236, 10 und vom 09.03.2023 - III
ZR 80/22, BGHZ 236, 246) oder aufgrund schwerwiegender
Beeinträchtigungen aufgrund der Verzögerung (BGH-Urteil
vom 06.05.2021 - III ZR 72/20, BGHZ 230, 14).
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120
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c) Solche besonderen Umstände sind
vorliegend nicht ersichtlich. Der Beklagte beruft sich zwar darauf,
dass die Streitwerte gering und die Ausgangsverfahren von geringer
Bedeutung gewesen seien. Es kann dahinstehen, welche Bedeutung dem
Streitwert zukommen kann (vgl. dazu Urteil des Landessozialgerichts
Mecklenburg-Vorpommern vom 12.02.2020 - L 12 SF 39/17 EK AS:
Minderung bei Streitwert von knapp unter 11 EUR; Prozesskostenhilfe
für die Nichtzulassungsbeschwerde versagt durch BSG-Beschluss
vom 14.10.2020 - B 10 ÜG 3/20 B). Mit diesem Vorbringen kann
jedenfalls im Streitfall keine auf Billigkeitsgründe
gestützte Abweichung vom gesetzlichen Regelbetrag der
Entschädigung begründet werden.
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In den vier Ausgangsverfahren, die auf die
Erteilung von Abrechnungsbescheiden gerichtet waren, hat das FG
jeweils den Auffangstreitwert von 5.000 EUR angesetzt. In dem
weiteren Ausgangsverfahren wegen der Festsetzung von
Aussetzungszinsen betrug der Streitwert anfänglich 4.243 EUR
und nach einer Teilabhilfe durch das FA noch 2.311 EUR. Diese
Beträge sind nicht derart geringfügig, dass der
gesetzliche Regelbetrag der Entschädigung als unbillig
anzusehen wäre.
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122
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Mit der Auffassung des Beklagten, die
Ausgangsverfahren seien von geringer Bedeutung gewesen, hat der
Senat sich bereits auseinandergesetzt (vgl. oben 3.b) und dies
nicht für durchgreifend erachtet. Der Senat hat zwar keine
besonders hohe Bedeutung der Ausgangsverfahren feststellen
können; eine außergewöhnliche geringe Bedeutung der
Verfahren, die erst Anlass sein könnte, der Annahme von
Unbilligkeit näherzutreten, ist aber ebenfalls nicht
feststellbar.
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123
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d) Bei Ausgangsverfahren, die - wie hier -
durch Eheleute geführt werden, steht der
Entschädigungsanspruch jedem Ehegatten gesondert zu
(Senatsurteil vom 04.06.2014 - X K 12/13, BFHE 246, 136, BStBl II
2014, 933 = SIS 14 24 92, Rz 47).
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124
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12. Da die zuerkannten
Geldentschädigungen sich noch im Rahmen der ursprünglich
zu den einzelnen Streitgegenständen eingeklagten
Teilbeträge halten, muss der Senat nicht entscheiden, ob der
nicht mehr aufrechterhaltene Teilklageanspruch für das
Ausgangsverfahren 12 K 476/21 nachträglich auf andere
Streitgegenstände hätte verteilt werden können.
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125
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a) Ursprünglich hatten die Kläger
die folgenden Entschädigungsbeträge geltend gemacht:
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Für die Verfahren 12 K 2343/19, 12 K
2849/20, 12 K 1462/23 und 12 K 1465/23 pro Kläger jeweils
4.737,58 EUR,
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-
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für das Verfahren 12 K 2948/19 pro
Kläger 4.540,31 EUR,
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-
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für das Verfahren 12 K 476/21 pro
Kläger 2.926,05 EUR.
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126
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Daraus ergab sich ein Gesamtbetrag von
26.416,68 EUR für jeden der Kläger, von dem sie jedoch
nur einen erststelligen Teilbetrag von 15.000 EUR eingeklagt haben,
ohne diesen Teilbetrag auf die einzelnen Streitgegenstände zu
verteilen.
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127
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b) Später haben die Kläger
erklärt, für das Verfahren 12 K 476/21 keinen
Entschädigungsanspruch mehr zu begehren, wodurch sich die
Gesamtsumme der von ihnen ermittelten
Entschädigungsansprüche auf 23.490,63 EUR minderte. An
der auf einen Betrag von insgesamt 15.000 EUR gerichteten Teilklage
hielten sie jedoch fest.
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128
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c) Auch wenn man mit dem Beklagten den
ursprünglich geltend gemachten Gesamtbetrag von 26.416,68 EUR
im Verhältnis der genannten Einzelbeträge auf den
eingeklagten Teilbetrag von 15.000 EUR verteilen und eine
nachträgliche Übertragung des sich daraus ergebenden
Teilklageanspruchs für das Ausgangsverfahren 12 K 476/21 auf
die anderen Verfahren ablehnen würde, ergäbe sich keine
Begrenzung der vom Senat zugesprochenen
Geldentschädigungen.
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129
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Wenn man davon ausgeht, dass die Kläger
von den ermittelten Einzelbeträgen ursprünglich jeweils
einen erststelligen Teilbetrag eingeklagt haben, der sich auf die
Quote 15.000 EUR zu 26.416,68 EUR (56,78 %) beschränkt,
ergäben sich die folgenden erststelligen Teilbeträge:
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Für die Verfahren 12 K 2343/19, 12 K
2849/20, 12 K 1462/23 und 12 K 1465/23 pro Kläger jeweils
2.690,00 EUR,
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für das Verfahren 12 K 2948/19 pro
Kläger 2.577,99 EUR.
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130
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Die vom Senat zugesprochenen
Entschädigungsbeträge von 1.300 EUR (12 K 2343/19), 600
EUR (12 K 2849/20) und 1.300 EUR (12 K 2948/19) liegen deutlich
unterhalb der so ermittelten eingeklagten erststelligen
Teilbeträge.
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131
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13. Soweit die Kläger einen Anspruch auf
Geldentschädigung haben, besteht auch ein Anspruch auf
Prozesszinsen (vgl. Senatsurteil vom 19.03.2014 - X K 8/13, BFHE
244, 521, BStBl II 2014, 584 = SIS 14 15 45, Rz 39 ff.). Dem Grunde
nach folgt der Zinsanspruch aus § 291 Satz 1 des
Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB). Der Zinslauf beginnt mit dem
Eintritt der Rechtshängigkeit, die erst mit der Zustellung der
Entschädigungsklage an den Beklagten eintritt (§ 66 Satz
2 FGO), so dass der Zinslauf an dem auf die Zustellung folgenden
Tag (§ 187 Abs. 1 BGB) - vorliegend am 05.04.2024 - beginnt.
Der Höhe nach beträgt der Zinssatz fünf
Prozentpunkte über dem Basiszinssatz (§ 291 Satz 2 i.V.m.
§ 288 Abs. 1 Satz 2 BGB).
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132
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14. Soweit der Senat zwar keine
Geldentschädigung zusprechen konnte, aber die Unangemessenheit
der Verfahrensdauer festgestellt hat, beruht die Kostenentscheidung
auf § 201 Abs. 4 GVG. Der Senat hat den dortigen Maßstab
des billigen Ermessens dahingehend konkretisiert, dass in einem
solchen Fall der Beklagte 75 % der hierauf entfallenden
Verfahrenskosten zu tragen hat (Senatsurteil vom 17.04.2013 - X K
3/12, BFHE 240, 516, BStBl II 2013, 547 = SIS 13 14 53, Rz 74 ff.).
Im Übrigen beruht die Kostenentscheidung auf § 136 Abs. 1
Satz 1 i.V.m. § 155 Satz 2 FGO.
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133
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15. Der Senat entscheidet mit
Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung
(§ 90 Abs. 2 FGO).
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