Der Beklagte wird verurteilt, an den
Kläger wegen der unangemessenen Dauer des vor dem
Finanzgericht München, Außensenate Augsburg,
geführten Verfahrens 4 K 240/17 = SIS 20 12 28 eine Entschädigung von 900
EUR zu zahlen.
Die Kosten des Verfahrens hat der Beklagte zu
tragen.
1
|
I. Der Kläger begehrt gemäß
§ 198 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) Entschädigung
wegen der von ihm als unangemessen angesehenen Dauer eines
finanzgerichtlichen Verfahrens, das vom 12.01.2017 bis zur
Urteilszustellung am 30.01.2020 beim Finanzgericht (FG)
München anhängig war.
|
|
|
2
|
Dem Ausgangsverfahren, in dem die
Beteiligten über die Rechtmäßigkeit einer
Prüfungsentscheidung des Bayerischen Staatsministeriums der
Finanzen und für Heimat (Finanzministerium) stritten, liegt
der folgende Sachverhalt zugrunde:
|
|
|
3
|
Der Kläger hatte im Jahr 2014 die
Steuerberaterprüfung ohne Erfolg abgelegt. Er unterzog sich im
Jahr 2015 erneut dieser Prüfung, wobei er in den schriftlichen
Aufsichtsarbeiten aus dem Gebiet des Verfahrensrechts und des
Ertragsteuerrechts jeweils die Note 4,5 und aus dem Gebiet der
Buchführung und des Bilanzwesens die Note 5,5 erzielte. Mit
Bescheid vom 04.01.2016 stellte das Finanzministerium deshalb fest,
der Kläger habe die Steuerberaterprüfung nicht bestanden.
Eine Klage gegen diesen Bescheid erledigte sich in der Hauptsache
dadurch, dass das Finanzministerium dem Kläger die
Möglichkeit zubilligte, die Aufsichtsarbeit aus dem Gebiet der
Buchführung und des Bilanzwesens zu wiederholen. Nachdem diese
Arbeit des Klägers mit 5,0 bewertet worden war, stellte das
Finanzministerium mit Bescheid vom 05.01.2017 erneut das
Nichtbestehen der Steuerberaterprüfung fest.
|
|
|
4
|
Der Kläger erhob am 12.01.2017 Klage
und begründete diese am 20.01.2017 mit einem 76 Seiten
umfassenden Schriftsatz. Zudem beantragte er am 30.01.2017 beim
Finanzministerium eine nochmalige Überprüfung der bereits
im Jahr 2015 geschriebenen Aufsichtsarbeit aus dem Gebiet des
Ertragsteuerrechts im Überdenkungsverfahren. Nachdem die als
Prozessbevollmächtigte für das Finanzministerium
handelnde Steuerberaterkammer München (Steuerberaterkammer)
dem Kläger die Stellungnahmen der Korrektoren zur Bewertung
dieser Klausur mit Schriftsatz vom 07.03.2017 übersandt hatte,
nahm dieser seinen Antrag auf Durchführung des
Überdenkungsverfahrens zurück. Mit Schriftsatz vom
12.04.2017 nahm die Steuerberaterkammer zum Vorbringen des
Klägers kurz und abschließend Stellung.
|
|
|
5
|
Am 28.02.2019 erkundigte sich die
Steuerberaterkammer beim FG nach dem Sachstand. Der Kläger
erhob unter dem 30.10.2019 Verzögerungsrüge, die am
04.11.2019 beim FG einging.
|
|
|
6
|
Das FG lud am 10.12.2019 die Beteiligten
zur mündlichen Verhandlung am 22.01.2020. Das in der
mündlichen Verhandlung verkündete Urteil (EFG 2020, 1433
= SIS 20 12 28, Rz 1-3) wurde dem
Kläger am 30.01.2020 zugestellt. Dieser hatte bereits am
27.01.2020 beim Bundesfinanzhof (BFH) Nichtzulassungsbeschwerde
eingelegt, die durch Beschluss vom 16.09.2020 - VII B 27/20 als
unbegründet zurückgewiesen wurde.
|
|
|
7
|
Am 30.04.2020 hat der Kläger
Entschädigungsklage erhoben. Er ist der Ansicht, dass eine
Verzögerung auch dann vorliege, wenn man eine Bearbeitungszeit
von zwei Jahren als angemessen ansehe. Die Verzögerung betrage
zwölf Monate, jedoch seien unter Beachtung der
Senatsrechtsprechung zur begrenzten Rückwirkung der
Verzögerungsrüge nur neun Monate anzusetzen. Es
müsse berücksichtigt werden, dass in dem Verfahren das
Ergebnis einer Steuerberaterprüfung überprüft worden
sei.
|
|
|
8
|
Der Kläger beantragt,
|
|
den Beklagten zu verurteilen, wegen der
unangemessenen Dauer des vor dem FG München, Außensenate
Augsburg, geführten Verfahrens 4 K 240/17 eine
Entschädigung von 900 EUR zu zahlen.
|
|
|
9
|
Der Beklagte beantragt,
|
|
die Klage abzuweisen.
|
|
|
10
|
Der Kläger gebe bereits nicht an,
inwieweit er in seinen Rechten verletzt sei. Sein Vortrag sei
unsubstantiiert. Darüber hinaus sei die Verfahrensdauer
aufgrund der zu berücksichtigenden Einzelfallbezogenheit nicht
unangemessen. Die Klagebegründung habe über 75 Seiten
umfasst und schon deshalb den Anschein erweckt, es handele sich um
ein zeitintensives Verfahren. Auch lasse der Umstand, dass der
Kläger nach Erhebung der Verzögerungsrüge in der
mündlichen Verhandlung eine Schriftsatzfrist verlangt habe,
nicht darauf schließen, dass er das Verfahren
prozessökonomisch geführt habe und seinen
Mitwirkungspflichten zeitnah nachgekommen sei. Die
Verfahrensverzögerungen im Jahr 2019 seien allein auf
wiederholte und unverschuldete Erkrankungen der Berichterstatterin
zurückzuführen gewesen. Eine Änderung der
Geschäftsverteilung habe sich aufgrund der kurzen
Krankheitszeiten vom 21.02.2019 bis zum 06.03.2019 bzw. vom
08.04.2019 bis zum 13.05.2019 nicht aufgedrängt. Auch
hätten zu diesem Zeitpunkt noch etliche, gegenüber dem
Ausgangsverfahren vorrangig zu bearbeitende Streitsachen zur
Entscheidung angestanden. Somit sei eine Verzögerung in diesen
Zeiträumen jedenfalls unverschuldet und deshalb die
Verfahrensdauer nicht unangemessen gewesen. Angesichts der
zunehmenden Fallzahlen sei es nicht sinnvoll gewesen, sich bereits
zu diesem Zeitpunkt einen Überblick über die bei der
erkrankten Kollegin in Bearbeitung befindlichen Fälle zu
verschaffen. Einer Übertragung des Verfahrens auf ein anderes
Senatsmitglied habe zudem der Anspruch des Klägers auf den
gesetzlichen Richter entgegengestanden. Der Vorsitzende des
FG-Senats habe ab dem Zeitpunkt des Ausfalls der Berichterstatterin
aufgrund eines Unfalls (22.10.2019) und damit unverzüglich die
Bearbeitung übernommen, um so die zeitnahe Durchführung
der mündlichen Verhandlung im Ausgangsverfahren
sicherzustellen. Trotz der längeren krankheitsbedingten
Abwesenheitszeiten der Berichterstatterin sei die Sache sogar
vorgezogen bearbeitet worden.
|
|
|
11
|
In der mündlichen Verhandlung hat der
Kläger alle anwesenden Mitglieder des Senats wegen einer
Besorgnis der Befangenheit abgelehnt.
|
|
|
12
|
II. Der Senat konnte in seiner
geschäftsplanmäßigen Besetzung entscheiden. Der
Antrag des Klägers, die geschäftsplanmäßig zur
Entscheidung berufenen Mitglieder des Senats wegen Besorgnis der
Befangenheit abzulehnen, ist offensichtlich unzulässig. Das
Ablehnungsgesuch enthält keine substantiierten und
nachvollziehbaren Darlegungen eines Ablehnungsgrundes.
|
|
|
13
|
1. Ein Richter kann wegen Besorgnis der
Befangenheit abgelehnt werden, wenn ein Grund vorliegt, der
geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu
rechtfertigen (§ 42 Abs. 1 und 2 der Zivilprozessordnung - ZPO
- i.V.m. § 51 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO - ).
Dabei kommt es nach ständiger höchstrichterlicher
Rechtsprechung darauf an, ob der Beteiligte von seinem Standpunkt
aus bei vernünftiger und objektiver Betrachtung davon ausgehen
darf, der Richter werde nicht unvoreingenommen, sondern
willkürlich entscheiden (vgl. nur Senatsbeschluss vom
28.05.2020 - X S 38/19 (PKH), X S 4/20 (PKH), BFH/NV 2020, 910 =
SIS 20 09 06, Rz 10, m.w.N.).
|
|
|
14
|
Das Ablehnungsgesuch muss sich zwar
grundsätzlich auf bestimmte Richter beziehen, dies gilt jedoch
nicht, wenn die Mitglieder eines Spruchkörpers im Hinblick auf
konkrete Anhaltspunkte in einer Kollegialentscheidung abgelehnt
werden, weil der Betroffene wegen des Beratungsgeheimnisses nicht
wissen kann, welcher Richter die Entscheidung mitgetragen hat. In
solchen Fällen liegt ein Missbrauch des Ablehnungsrechts vor,
wenn das Gesuch gar nicht oder ausschließlich mit
Umständen begründet wird, die unter keinem denkbaren
Gesichtspunkt eine Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen
können (vgl. Senatsbeschluss vom 16.10.2019 - X B 99/19, BFHE
266, 494, BStBl II 2020, 375 = SIS 20 03 37, Rz 14).
|
|
|
15
|
Dies ist der Fall, wenn der Ablehnungsantrag
sich bereits ohne jedes Eingehen auf den Verfahrensgegenstand als
unzulässig dargestellt hätte. Ist hingegen ein - wenn
auch nur geringfügiges - Eingehen auf den Verfahrensgegenstand
erforderlich, scheidet eine Verwerfung des Ablehnungsantrags als
unzulässig aus. Denn der abgelehnte Richter darf sich
über eine bloße formale Prüfung des
Ablehnungsantrags hinaus nicht durch Mitwirkung an einer
näheren inhaltlichen Prüfung der Ablehnungsgründe
entgegen § 45 Abs. 1 ZPO, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des
Grundgesetzes (GG) zum Richter in eigener Sache machen
(ausführlich zum Ganzen Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 20.07.2007 - 1 BvR
2228/06, NJW 2007, 3771, unter II.2.a).
|
|
|
16
|
2. Nach diesen Grundsätzen ist der
Ablehnungsantrag unzulässig und daher zu verwerfen. Die vom
Kläger angeführten Ablehnungsgründe erfordern kein
Eingehen auf den Gegenstand des vorliegenden Verfahrens.
|
|
|
17
|
a) Der Kläger macht zunächst
geltend, nach dem „StGB“ seien
Richter ohne Steuerberaterprüfung zum Steuerberater zu
bestellen, während er sich trotz seiner Qualifikation als
Fachanwalt für Steuerrecht der Prüfung unterziehen
müsse. Daher bestehe die Besorgnis, dass in Sachen
Steuerberaterprüfung nicht völlig objektiv geurteilt
werde. Hier genügt bereits der Hinweis, dass es vorliegend
nicht um eine Steuerberaterprüfung, sondern
ausschließlich um eine Entschädigungsforderung unter dem
Gesichtspunkt der unangemessenen Dauer eines finanzgerichtlichen
Verfahrens geht. Im Übrigen ist es Richtern von vornherein
nicht gestattet, zugleich als Steuerberater tätig zu sein
(vgl. § 41 Abs. 2 des Deutschen Richtergesetzes).
|
|
|
18
|
b) Die Behauptung des Klägers
„Die Richter haben früher alle auf Seiten des
Beklagten gearbeitet“ ist unzutreffend.
Beklagter des vorliegenden Verfahrens ist der Freistaat Bayern.
Keines der zur Entscheidung berufenen Senatsmitglieder hat jemals
in einem Dienst- oder Arbeitsverhältnis zum Freistaat Bayern
gestanden.
|
|
|
19
|
c) Darüber hinaus trägt der
Kläger vor, die Steuerberaterprüfung sei
verfassungswidrig; im Rahmen dienstlicher Erklärungen sei zu
klären, „inwieweit die Richter oder Angehörige
da mit drinstecken“. Auch insoweit ist
darauf hinzuweisen, dass Gegenstand des vorliegenden Verfahrens
nicht die Steuerberaterprüfung des Klägers ist.
|
|
|
20
|
d) Nach Auffassung des Klägers sei ferner
zu klären, „wie das bekannte Mobbing beim BFH
Einfluss auf die Qualität der Rechtsprechung hat und ob
abweichende aber zutreffende Meinungen unterdrückt
werden“. Dieses Vorbringen ist
unsubstantiiert und unzutreffend. Ein
„Mobbing“ im BFH - und erst recht
im zur Entscheidung berufenen Senat - ist dem Senat nicht
bekannt.
|
|
|
21
|
e) Darüber hinaus begehrt der Kläger
Auskunft über die „Verwandtschaftsbeziehungen beim
BFH, also ob und welcher Richter(in) mit welchem Rechtsanwalt(in)
verbandelt oder verheiratet ist“. Auch
dieses Vorbringen ist unsubstantiiert, zumal kein Senatsmitglied
verwandtschaftliche Beziehungen zu einem am vorliegenden Verfahren
auch nur entfernt beteiligten Mitglied der Rechtsanwaltschaft
hat.
|
|
|
22
|
3. Aufgrund des rechtsmissbräuchlich
gestellten Ablehnungsgesuchs bedurfte es der vorherigen Einholung
dienstlicher Äußerungen der Senatsmitglieder nicht (vgl.
nur BFH-Beschluss vom 16.09.1999 - VII B 231/99, BFH/NV 2000, 331 =
SIS 00 52 47).
|
|
|
23
|
III. Die Klage ist in vollem Umfang
begründet. Der Kläger hat aufgrund der unangemessenen
Dauer des Ausgangsverfahrens antragsgemäß Anspruch auf
Entschädigung für einen von ihm erlittenen immateriellen
Nachteil in Höhe von 900 EUR.
|
|
|
24
|
1. Wer infolge unangemessener Dauer eines
Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil
erleidet, wird angemessen entschädigt (§ 198 Abs. 1 Satz
1 GVG). Gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG richtet sich
die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des
Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des
Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und
Dritter.
|
|
|
25
|
a) Diese auf der ständigen Rechtsprechung
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR)
und des BVerfG beruhenden gesetzlichen Maßstäbe lassen
den Begriff der „Angemessenheit“
für Wertungen offen. Dabei ist dem Spannungsverhältnis
zwischen dem Interesse an einem möglichst zügigen
Abschluss des Rechtsstreits einerseits und anderen, ebenfalls
hochrangigen sowie verfassungs- und menschenrechtlich verankerten
prozessualen Grundsätzen - wie dem Anspruch auf Gewährung
eines effektiven Rechtsschutzes durch inhaltlich zutreffende und
qualitativ möglichst hochwertige Entscheidungen, der
Unabhängigkeit der Richter und dem Anspruch auf den
gesetzlichen Richter - Rechnung zu tragen (zu den Einzelheiten vgl.
zur Vermeidung von Wiederholungen insbesondere das Senatsurteil vom
07.11.2013 - X K 13/12, BFHE 243, 126, BStBl II 2014, 179 = SIS 13 32 59, Rz 48 ff.).
|
|
|
26
|
b) Für ein finanzgerichtliches
Klageverfahren, das im Vergleich zu dem typischen in dieser
Gerichtsbarkeit zu bearbeitenden Verfahren keine wesentlichen
Besonderheiten aufweist, hat der Senat die Vermutung aufgestellt,
dass die Dauer des Verfahrens angemessen ist, wenn das Gericht gut
zwei Jahre nach dem Eingang der Klage mit Maßnahmen beginnt,
die das Verfahren einer Entscheidung zuführen sollen, und die
damit begonnene („dritte“) Phase
des Verfahrensablaufs nicht durch nennenswerte Zeiträume
unterbrochen wird, in denen das Gericht die Akte unbearbeitet
lässt (Senatsurteil in BFHE 243, 126, BStBl II 2014, 179 = SIS 13 32 59, Rz 69).
|
|
|
27
|
c) Diese typisierende Vermutung kann im
Streitfall allerdings nicht zum Tragen kommen. Bei dem
Ausgangsverfahren handelt es sich nicht um ein übliches
finanzgerichtliches, insbesondere auf die Überprüfung der
Rechtmäßigkeit einer Steuerfestsetzung ausgerichtetes
Verfahren, sondern um ein prüfungsrechtliches Klageverfahren,
welches grundsätzlich für den Rechtsschutzsuchenden eine
sehr hohe Bedeutung hat. Dies gilt insbesondere für
Berufszulassungsprüfungen wie die Steuerberaterprüfung,
die in die Berufs(wahl)freiheit des Betroffenen nach Art. 12 Abs. 1
GG eingreifen. Dieser Umstand führt dazu, dass ein solches
Klageverfahren einer besonderen Eilbedürftigkeit
unterliegt.
|
|
|
28
|
Deshalb ist der gesamte Verfahrensablauf mit
seinen entsprechenden Phasen unabhängig von einer
typisierenden Vermutung daraufhin zu überprüfen, ob und
inwieweit eine unangemessene Verzögerung eingetreten ist.
Weiterhin bleibt aber zu berücksichtigen, dass dem
Spruchkörper zur Ausübung seiner verfahrensgestaltenden
Befugnisse ein weiter Gestaltungsspielraum zuzubilligen ist. Die
Verfahrensführung des Gerichts darf im
Entschädigungsprozess nicht auf ihre Richtigkeit, sondern nur
auf ihre Vertretbarkeit überprüft werden. Letztere darf
nur verneint werden, wenn bei voller Würdigung auch der
Belange einer funktionstüchtigen Rechtspflege das richterliche
Verhalten nicht mehr verständlich ist. Die Abweichung von
einer optimalen Verfahrensdurchführung muss eine Grenze
überschreiten, die sich auch unter Berücksichtigung
gegenläufiger Interessen für den Betroffenen als sachlich
nicht mehr gerechtfertigt oder unverhältnismäßig
darstellt. Mit zunehmender Verfahrensdauer verdichtet sich aber die
Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um eine Förderung,
Beschleunigung und Beendigung des Verfahrens zu bemühen (vgl.
im Einzelnen dazu Senatsurteil vom 07.05.2014 - X K 11/13, BFH/NV
2014, 1748 = SIS 14 27 19, Rz 41 ff., m.w.N.).
|
|
|
29
|
2. Unter Berücksichtigung dieser
Maßstäbe war die Verfahrensdauer des Ausgangsverfahrens
unangemessen i.S. des § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG, weil eine an
den Merkmalen des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG ausgerichtete
Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des
Einzelfalls, insbesondere der Schwierigkeit des Verfahrens, seiner
Bedeutung für den Kläger, des Verhaltens der
Verfahrensbeteiligten sowie der Verfahrensführung des
Gerichts, einen zeitigeren Abschluss des Ausgangsverfahrens
verlangt hätte.
|
|
|
30
|
a) Die Anwendung der in § 198 Abs. 1 Satz
2 GVG beispielhaft genannten Kriterien vermittelt im Streitfall
kein einheitliches Bild.
|
|
|
31
|
Die gerichtliche Kontrolle von
Prüfungsentscheidungen, gerade in
Berufszulassungsprüfungen wie der Steuerberaterprüfung,
stellt hohe Anforderungen an einen Spruchkörper. Er muss
sowohl die Prüfungsleistungen als auch die Bewertung durch den
Prüfer unter Wahrung von dessen Beurteilungsspielraum
überprüfen. Vorliegend hatte das FG darüber hinaus
eine Fülle an Stoff zu verarbeiten. Die Klagebegründung
umfasste 76 Seiten; ihre Durchdringung erforderte einen erheblichen
Zeitaufwand, auch wenn nicht jeder einzelne Einwand des
Klägers von wesentlicher Bedeutung gewesen sein
dürfte.
|
|
|
32
|
Die Bedeutung des Ausgangsverfahrens für
den Kläger war hoch, wenn auch nicht existentiell. Der
Kläger durfte als zugelassener Rechtsanwalt bereits steuerlich
beraten, so dass die Aufnahme seiner beruflichen Tätigkeit,
auch auf dem Gebiet des Steuerrechts, nicht von dem Bestehen der
Steuerberaterprüfung abhängig war. Andererseits stellt
jedoch auch und gerade das Bestehen der Steuerberaterprüfung
und die Bestellung als Steuerberater ein besonderes
Qualitätsmerkmal für einen im Steuerrecht tätigen
Berater dar.
|
|
|
33
|
Im Ausgangsverfahren hat der Kläger in
angemessener Art und Weise mitgewirkt. Er hat, wenn auch sehr
umfangreich, so doch abschließend und frühzeitig
vorgetragen und das Überdenkungsverfahren zeitnah für
beendet erklärt. Das Finanzministerium hat durch die
Steuerberaterkammer im Jahr 2017 ebenfalls zügig Stellung
genommen und sich im Übrigen Ende Februar 2019 nach dem Stand
des Verfahrens erkundigt.
|
|
|
34
|
Für die Beurteilung der Angemessenheit
der Verfahrensdauer ist im Ergebnis daher von einem eher
überdurchschnittlichen Schwierigkeitsgrad auszugehen, der aber
einer zügigen Bearbeitung durch das Gericht nicht
entgegenstehen durfte.
|
|
|
35
|
b) Das Verfahren wurde in dem Zeitraum,
für den der Kläger Entschädigung beansprucht,
unangemessen verzögert. Es bedarf daher keiner Entscheidung
des Senats, ab welchem konkreten Zeitpunkt das Ausgangsgericht
verpflichtet gewesen wäre, das Verfahren wegen dessen hoher -
grundrechtlich relevanter - Bedeutung für den Kläger zu
fördern und einer Entscheidung zuzuführen.
|
|
|
36
|
aa) Obwohl der Schriftsatzaustausch bereits
mit dem Verweis der Steuerberaterkammer auf die Stellungnahmen im
Überdenkungsverfahren zur Aufsichtsarbeit aus dem Gebiet des
Ertragsteuerrechts im Schriftsatz vom 12.04.2017 endete, hat das
Gericht das Verfahren in den kommenden zweieinhalb Jahren nicht
einer Entscheidung zugeführt.
|
|
|
37
|
Demgegenüber haben sich die beiden
Beteiligten um eine zeitnahe Bearbeitung aktiv bemüht. Bereits
am 28.02.2019 hat sich die Steuerberaterkammer nach dem Sachstand
erkundigt; der Kläger hat mit seiner am 04.11.2019 beim FG
eingegangenen Verzögerungsrüge vom 30.10.2019 ebenfalls
auf Fortgang des Ausgangsverfahrens gedrängt.
|
|
|
38
|
Zwar hat die Berichterstatterin der
Steuerberaterkammer formularmäßig mitgeteilt, sie
könne noch keinen genauen Termin für die Entscheidung
nennen, die Klagen würden grundsätzlich nach der
zeitlichen Reihenfolge der Eingänge bearbeitet und
gegenwärtig seien noch ältere vordringlich zu
bearbeitende Klagen vorhanden. Ein solches Standardschreiben ist
jedoch nicht geeignet, als Aktivität des Gerichts angesehen zu
werden.
|
|
|
39
|
Eine inhaltliche Bearbeitung hätte, auch
unter Beachtung der umfangreichen Klagebegründung,
spätestens aufgrund der Sachstandsanfrage der
Steuerberaterkammer beginnen müssen, um den Rechtsstreit
angesichts der erhöhten Schwierigkeit und seiner besonderen
Bedeutung für den Kläger zu einem zeitlich angemessenen
Abschluss zu bringen. Denn gerade mit zunehmender Verfahrensdauer
verdichtet sich die Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um eine
Förderung, Beschleunigung und Beendigung des Verfahrens zu
bemühen (vgl. auch Senatsurteil vom 27.06.2018 - X K 3-6/17,
BFH/NV 2019, 27 = SIS 18 16 79, Rz 69, m.w.N.). Dies gilt in
besonderem Maße für ein Klageverfahren in
Prüfungssachen, mag es auch eine erhöhte Schwierigkeit
aufweisen. Denn insoweit bedarf es einer baldigen Rechtsklarheit,
die es nicht erlaubt, den Bewerber über Jahre hinweg im
Ungewissen zu lassen.
|
|
|
40
|
bb) Aktivitäten des Gerichts sind jedoch
erst mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung am 10.12.2019
entfaltet worden. Danach ist das Verfahren bis zum Urteil am
22.01.2020 durchgehend bearbeitet worden. Folglich ist die Dauer
des Ausgangsverfahrens in der Zeit von März 2019 bis November
2019 und damit für neun Monate als unangemessen anzusehen.
|
|
|
41
|
cc) Gründe, die die Verzögerung von
neun Monaten rechtfertigen könnten, sind nicht
ersichtlich.
|
|
|
42
|
(1) Dies gilt auch für die Zeiten der
verschiedenen Erkrankungen der Berichterstatterin. Diese waren, was
sich schon aus dem Beklagtenvortrag entnehmen lässt, für
die Verzögerung des Ausgangsverfahrens nicht ursächlich.
Der Beklagte hat selbst vorgetragen, dass bei Eintritt ihrer
Erkrankungen noch zahlreiche ältere Verfahren im Dezernat der
Berichterstatterin anhängig waren, die vorrangig zu bearbeiten
gewesen wären. Auch ohne die Erkrankungen hätte die
Berichterstatterin daher nicht zeitgerecht mit der Bearbeitung des
vorliegenden Verfahrens beginnen können, dessen besondere
Eilbedürftigkeit im FG offensichtlich nicht erkannt worden
ist.
|
|
|
43
|
(2) Darüber hinaus kann die Erkrankung
eines Berichterstatters nach der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG), der der Senat sich
anschließt, nur eine kurzfristige Verfahrensverzögerung
- insbesondere eine vorübergehende Terminsverschiebung -
rechtfertigen. Grundsätzlich sind im Krankheitsfall aber die
nach den Regelungen über die Geschäftsverteilung zur
Vertretung berufenen Richter zur Förderung des Verfahrens
verpflichtet (BVerwG-Urteil vom 11.07.2013 - 5 C 27/12 D,
Bayerische Verwaltungsblätter - BayVBL - 2014, 149, Rz 44, mit
Nachweis auf die Rechtsprechung des EGMR). Dies gilt erst recht,
wenn - wie hier - eine Sachstandsanfrage eines Beteiligten vorliegt
und das Verfahren bereits verzögert ist. Gerade in einer
solchen Situation ist auch der Senatsvorsitzende gehalten, seiner
Förderungspflicht aus § 79 Abs. 1 Satz 1 FGO
nachzukommen. Sollte eine Vertretung durch andere Mitglieder des
Senats nicht möglich sein, hat er selbst die Sache zeitnah zu
bearbeiten.
|
|
|
44
|
(3) Im Übrigen ist eine etwaige
Überlastung des für das Ausgangsverfahren
zuständigen Spruchkörpers in
entschädigungsrechtlicher Hinsicht ohne Belang. Dies
gehört zu den strukturellen Mängeln, die sich der Staat
zurechnen lassen muss und die er zu beseitigen hat (so schon
BVerwG-Urteil vom 29.02.2016 - 5 C 31/15 D, NJW 2016, 3464 =
SIS 16 28 37, Rz 24). Er schuldet
den Rechtsuchenden die Bereitstellung einer ausreichenden
personellen und sachlichen Ausstattung der Justiz. Dazu
gehören auch wirksame personelle Vorkehrungen für
Erkrankungen des richterlichen Personals und für andere
übliche Ausfallzeiten. Erkrankt ein Richter, ist der durch den
Geschäftsverteilungsplan des Gerichts zur Vertretung bestimmte
Richter für die Förderung des Verfahrens zuständig
(so auch Urteil des Bundessozialgerichts vom 24.03.2022 - B 10
ÜG 2/20 R, Die Sozialgerichtsbarkeit 2022, 301).
|
|
|
45
|
3. Die Voraussetzungen für die
Gewährung einer Geldentschädigung in Höhe von 900
EUR liegen vor.
|
|
|
46
|
a) Voraussetzung für die Zuerkennung
einer Geldentschädigung ist gemäß § 198 Abs. 3
Satz 1 GVG die Erhebung einer Verzögerungsrüge. Diese
kann erst erhoben werden, wenn Anlass zur Besorgnis besteht, dass
das Verfahren nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen wird
(§ 198 Abs. 3 Satz 2 GVG). Eine zu früh erhobene
Verzögerungsrüge ist daher unwirksam (vgl. nur
Senatsurteil vom 08.10.2019 - X K 1/19, BFH/NV 2020, 98 = SIS 19 18 91, Rz 59, m.w.N.). Dagegen wirkt eine erst deutlich nach
Überschreiten der Unangemessenheitsgrenze eingereichte
Verzögerungsrüge nicht bis auf den Zeitpunkt zurück,
ab dem die Verfahrensdauer bei objektiver Betrachtung als
unangemessen anzusehen ist. Vielmehr hat der Senat auf Grundlage
einer Gesamtschau der gesetzlichen Regelungen über die
Verzögerungsrüge entschieden, dass von einer im Regelfall
gut sechsmonatigen Rückwirkung auszugehen ist (Senatsurteil
vom 25.10.2016 - X K 3/15, BFH/NV 2017, 159 = SIS 16 27 77, Rz 39,
m.w.N.). Eine solche gut sechsmonatige Rückwirkung ist jedoch
nicht als starre Grenze zu verstehen, sondern auch im Zusammenhang
mit den weiteren Umständen des jeweiligen Einzelfalls zu
betrachten.
|
|
|
47
|
Da vorliegend die Steuerberaterkammer Ende
Februar 2019 beim FG nach dem Sachstand gefragt hatte, ist davon
auszugehen, dass die Verfahrensbeteiligten das weitere Verhalten
des Gerichts zunächst abwarten wollten. Dies wird auch und
insbesondere für den Kläger gelten, dem - anders als der
Steuerberaterkammer - das Standardantwortschreiben des FG
ausweislich der Akten nicht übermittelt worden war und der
somit nicht wissen konnte, dass das FG noch keinen Termin für
eine Entscheidung genannt hatte. Es ist deshalb naheliegend, dass
der Kläger in dem Verfahren die Verzögerungsrüge
erst zu einem späteren Zeitpunkt erhoben hat als dies ohne die
- auf dasselbe Ziel gerichtete - Anfrage der Steuerberaterkammer
der Fall gewesen wäre. Seine am 30.10.2019 verfasste, aufgrund
des Feiertags am 01.11.2019 und des nachfolgenden Wochenendes erst
am 04.11.2019 beim Gericht eingegangene Verzögerungsrüge
wirkt in diesem Einzelfall infolgedessen auf die Zeit bis März
2019 zurück.
|
|
|
48
|
b) Da das Entstehen eines
Nichtvermögensnachteils in den Fällen einer
unangemessenen Verfahrensdauer gemäß § 198 Abs. 2
Satz 1 GVG vermutet wird, geht der Beklagte fehl in der Annahme,
der Kläger müsse seinen Schaden (weitergehend)
substantiieren. Anhaltspunkte dafür, dass eine
Wiedergutmachung auf andere Weise (§ 198 Abs. 2 Satz 2, Abs. 4
GVG) im Streitfall ausreichend wäre, sind nicht erkennbar.
Auch liegen keine Umstände vor, den in § 198 Abs. 2 Satz
3 GVG genannten Regelbetrag von 1.200 EUR pro Jahr, der im
konkreten Fall nach Monaten zu bemessen ist (Senatsurteil vom 19.03.2014 - X K 8/13, BFHE 244, 521,
BStBl II 2014, 584 = SIS 14 15 45, Rz
37, m.w.N.), nicht anzusetzen.
|
|
|
49
|
4. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus
§ 135 Abs. 1 FGO.
|