1
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I. Der Kläger begehrt gemäß
§ 198 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) Entschädigung
wegen der von ihm als unangemessen angesehenen Dauer eines vom
27.1.2006 (Klageeingang) bis zum 23.3.2012 (Urteilszustellung) vor
dem Finanzgericht (FG) Berlin-Brandenburg anhängigen
Verfahrens.
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2
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Dem Ausgangsverfahren liegt der folgende
Sachverhalt zugrunde: Der Kläger ist Erbe nach seinem im Jahr
1996 verstorbenen Vater (V). Auf Antrag des Klägers, der die
Werthaltigkeit des Nachlasses zunächst nicht hatte
einschätzen können, ordnete das Nachlassgericht
Nachlassverwaltung an. Diese wurde am 9.8.2000 mit der
Begründung aufgehoben, ihr Zweck sei durch die Berichtigung
der bekannten Nachlassverbindlichkeiten erreicht.
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3
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Zum Nachlass gehörte auch eine
Beteiligung an einem geschlossenen Fonds in der Rechtsform der GbR.
Nach den vom Kläger vorgelegten Unterlagen
veräußerte eine KG, an der die GbR beteiligt war, im
Jahr 1996 den wesentlichen Teil ihres Vermögens. Die
Liquidation der GbR fand im Jahr 2002 (Streitjahr des
Ausgangsverfahrens) ihren Abschluss durch förmliche
Auflösung der Gesellschaft.
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4
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Im Bescheid über die einheitliche und
gesonderte Feststellung des Gewinns der GbR für das Jahr 2002
wurde für den Kläger ein Veräußerungsgewinn in
Höhe von 12.028,89 EUR festgestellt. Dies entsprach dem
seinerzeitigen Stand des negativen Kapitalkontos des Klägers.
Hiergegen erhob der Kläger nach erfolglosem Einspruch Klage
vor dem FG Münster, mit der er eine Beschränkung seiner
Erbenhaftung auf der Grundlage der §§ 1975 ff. des
Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) geltend machte. Das FG
Münster wies die Klage mit Urteil vom 22.2.2006 1 K 3381/04 F
ab und führte zur Begründung aus, allein der Kläger
- nicht aber V oder der Nachlass - habe im Jahr 2002 den Tatbestand
der Einkunftserzielung verwirklicht, weil er Gesellschafter der GbR
geworden sei. Der im Jahr 2003 ergangene Feststellungsbescheid sei
schon deshalb nicht gegen den Nachlassverwalter zu richten gewesen,
weil die Nachlassverwaltung bereits im Jahr 2000 beendet worden
sei. Die Einrede der beschränkten Erbenhaftung könne erst
im Zwangsvollstreckungsverfahren geltend gemacht werden.
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5
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Bereits zuvor, am 17.5.2003, hatte das
Berliner Wohnsitz-Finanzamt (FA) gegen den Kläger den
Einkommensteuerbescheid für 2002 erlassen. Darin setzte es die
Einkünfte aus der GbR entsprechend dem Feststellungsbescheid
an. Es ergab sich eine Steuernachzahlung, die nach dem Vorbringen
des Klägers dadurch „vollstreckt“ (getilgt) wurde,
dass das FA sie mit anderweitigen Steuerguthaben des Klägers
verrechnete. Eine Beschränkung der Erbenhaftung lehnte das FA
ab.
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6
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Mit seiner am 27.1.2006 vor dem damaligen
FG Berlin erhobenen Klage machte der Kläger weiterhin die
Beschränkung seiner Erbenhaftung geltend. Am 27.3.2006
begründete er die Klage. Schon in der Klagebegründung
erklärte er, die Steuernachzahlungen hätten im Falle
eines frühzeitigen Hinweises des Betriebs-FA bereits vom
Nachlassverwalter beglichen werden können, da genügend
Masse vorhanden gewesen sei.
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7
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Mit einem am 2.6.2006 beim FG eingegangenen
Schriftsatz des Klägers endete der Wechsel der vorbereitenden
Schriftsätze zwischen den Beteiligten. Ausweislich der
finanzgerichtlichen Akten erwog das FG in diesem Stadium des
Verfahrens, einen Gerichtsbescheid zu erlassen. Tatsächlich
wurde das FG aber zunächst nicht weiter tätig. Auf eine
am 12.10.2007 eingegangene Sachstandsanfrage des Klägers
teilte der Berichterstatter mit Schreiben vom 23.10.2007 mit, der
Zeitpunkt einer Terminierung sei wegen der Vielzahl der
anhängigen älteren Verfahren ungewiss.
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8
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Mit Verfügung vom 17.2.2010 forderte
das FG - mittlerweile war die Zuständigkeit auf das
neugegründete FG Berlin-Brandenburg übergegangen - die
Steuerakten des FA sowie die Gerichtsakte des FG Münster an.
Auf den Hinweis des FG Münster, die Aktenübersendung
setze die Vorlage einer Einverständniserklärung des
Klägers voraus, bat das FG den Kläger mit Schreiben vom
1.3.2010, eine solche Erklärung abzugeben. Der Kläger
reagierte hierauf nicht. Das FG sah in der Folgezeit von einem
weiteren Tätigwerden ab.
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9
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Am 18.1.2012 verfügte der
Senatsvorsitzende des FG die Bestimmung eines Termins zur
mündlichen Verhandlung auf den 1.3.2012. Zugleich erteilte er
dem Kläger einen rechtlichen Hinweis, wonach die Klage
unbegründet sein dürfte, weil die Einkommensteuer 2002
keine Nachlassverbindlichkeit darstelle.
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10
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Mit einem am 3.2.2012 beim FG eingegangenen
Schreiben erklärte der Kläger den Rechtsstreit in der
Hauptsache für erledigt und beantragte, dem FA die Kosten des
Verfahrens aufzuerlegen. Zur Begründung führte er aus, es
habe sich nachträglich herausgestellt, dass der Nachlass
ergiebiger gewesen sei als zunächst angenommen. Das FG wies
den Kläger am 7.2.2012 darauf hin, dass es an einer
Hauptsacheerledigung fehlen dürfte, weil nach
Rechtshängigkeit kein erledigendes Ereignis eingetreten sei.
Vielmehr dürfte die Klage von Anfang an unbegründet
gewesen sein. Es regte eine Klagerücknahme an.
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11
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Hierauf rügte der Kläger mit
einem am 14.2.2012 eingegangenen Schreiben unter Hinweis auf das
Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen
Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren
(ÜberlVfRSchG) vom 24.11.2011 (BGBl I 2011, 2302) eine
überlange Dauer des finanzgerichtlichen Verfahrens. Er vertrat
die Auffassung, das rechtlich und tatsächlich unkomplizierte
Verfahren hätte spätestens innerhalb von zwei Jahren
beendet sein müssen. Aufgrund der Verfahrensdauer könne
der Kläger Teile der maßgebenden Unterlagen nicht mehr
einsehen. Insbesondere sei die für den Nachlassverwalter
geltende Aktenaufbewahrungsfrist abgelaufen. Ferner beantragte der
Kläger Akteneinsicht und die Aufhebung des Termins zur
mündlichen Verhandlung.
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12
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Das FG lehnte den Terminaufhebungsantrag
ab, führte die mündliche Verhandlung durch und wies die
Klage ab. Zu entscheiden sei nur noch über den Antrag, die
Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache festzustellen. Eine
solche Feststellungsklage sei unbegründet, da die
ursprüngliche Verpflichtungsklage schon bei ihrer Erhebung
unbegründet gewesen sei. Denn dem Kläger sei zu diesem
Zeitpunkt bereits bekannt gewesen, dass der Nachlass zur Zahlung
der Steuern ausgereicht hätte. Das Urteil des FG wurde dem
Kläger am 23.3.2012 zugestellt.
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13
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Am 9.7.2012 hat der Kläger die
streitgegenständliche Entschädigungsklage „aus dem
Gesichtspunkt der Amtshaftung“ erhoben. Er verweist darauf,
dass ein finanzgerichtliches Verfahren im Durchschnitt 17,5 Monate
- bei einer Spanne zwischen den einzelnen Bundesländern von
10,1 bis 24,7 Monaten - dauere. Auf dieser Grundlage sieht er im
konkreten Verfahren eine Überschreitung der angemesssenen
Verfahrensdauer um vier Jahre. Die erforderliche
Verzögerungsrüge sei in seiner am 12.10.2007 gestellten
Sachstandsanfrage zu sehen. Im Übrigen dürfte die
sechsjährige Verfahrensdauer nach der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR)
bereits in den Grenzbereich der absoluten überlangen
Verfahrensdauer hineinreichen. In derartigen Fällen sei eine
Rüge entbehrlich, da die von ihr ausgehende Warnfunktion
angesichts der offenkundigen Überlänge nicht mehr
eintreten könne.
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14
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Der Kläger beantragt, den Beklagten zu
verurteilen, dem Kläger wegen der überlangen Dauer des
Verfahrens vor dem FG Berlin-Brandenburg 10 K 1037/06 B eine
Entschädigung in Höhe von 4.800 EUR zu zahlen.
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15
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Der Beklagte beantragt, die Klage
abzuweisen.
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16
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Er ist der Auffassung, die
Verzögerungsrüge vom 14.2.2012 könne keine Wirkung
für den davor liegenden Zeitraum entfalten, weil sie entgegen
Art. 23 Satz 2 ÜberlVfRSchG nicht
„unverzüglich“ nach Inkrafttreten des
ÜberlVfRSchG am 3.12.2011 erhoben worden sei. Zudem müsse
ein Entschädigungsanspruch nach dem Gesetzeszweck dann
entfallen, wenn das Gericht - wie hier - das Verfahren unmittelbar
nach Erhebung der Verzögerungsrüge abschließe. Denn
die Rüge solle als Warnung an das Gericht dienen; diese
Warnfunktion werde bei einem zügigen Verfahrensabschluss
erfüllt.
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17
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Selbst wenn eine sachliche Prüfung der
Entschädigungsklage vorzunehmen sein sollte, wäre keine
Geldentschädigung auszusprechen. Vielmehr wäre
gemäß § 198 Abs. 4 GVG die bloße Feststellung
einer unangemessenen Verfahrensdauer als Wiedergutmachung
ausreichend. Dem Kläger sei aufgrund der Dauer des Verfahrens
weder ein materieller noch - abgesehen von der Überlänge
als solcher - ein immaterieller Schaden entstanden. Zudem zeige das
Unterbleiben einer Reaktion des Klägers auf die Anfrage des FG
vom 1.3.2010, dass er spätestens ab diesem Zeitpunkt selbst
kein besonderes Interesse mehr an einer Fortsetzung des Verfahrens
gehabt habe.
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18
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Jedenfalls sei die
entschädigungspflichtige Verzögerung erheblich geringer
als der vom Kläger angeführte Zeitraum von vier Jahren.
Beim Eingang des letzten vorbereitenden Schriftsatzes am 2.6.2006
sei eine Terminierung wegen der zum 1.1.2007 durchgeführten
Fusion der Finanzgerichte der Länder Berlin und Brandenburg
nicht mehr möglich gewesen. Das neue FG Berlin-Brandenburg sei
erst nach dem Auspacken und Verteilen der Akten im April 2007 in
vollem Umfang funktionstüchtig gewesen. Für die Zeit vom
17.2.2010 bis zum 31.12.2010 sei eine Verzögerung zu
verneinen, weil der Kläger auf die Anfrage des FG hinsichtlich
der Einverständniserklärung nicht reagiert habe. Danach
verbleibe eine „untechnische Verfahrensruhe“ von drei
Jahren und neun Monaten. Da eine Verfahrensdauer von zwei Jahren
und sechs Monaten nicht zu beanstanden sei, ergebe sich vorliegend
ein Entschädigungsanspruch allenfalls für ein Jahr und
drei Monate.
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19
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II. 1. Obwohl der Kläger seinen
Anspruch als „auf dem Gesichtspunkt der Amtshaftung“
beruhend bezeichnet, legt der Senat die Klage als
Entschädigungsklage nach § 198 GVG, nicht aber als auf
einen Amtshaftungsanspruch gestützte Schadensersatzklage aus.
Maßgebend hierfür ist, dass der Kläger die Klage
beim Bundesfinanzhof (BFH) eingereicht und er in seiner
Klageschrift auf § 198 GVG verwiesen hat.
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20
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2. Der Senat hält die durch § 155
Satz 2 der Finanzgerichtsordnung vorgenommene Zuweisung der
Rechtswegzuständigkeit für Entschädigungsklagen aus
dem Bereich der Finanzgerichtsbarkeit an den BFH für vereinbar
mit Art. 34 Satz 3 des Grundgesetzes (GG). Danach darf der
ordentliche Rechtsweg für die Geltendmachung von
Schadensersatzansprüchen wegen Amtspflichtverletzung nicht
ausgeschlossen werden.
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Zwar ist es denkbar, dass die
Einführung der Entschädigungsklage zu einem Rückgang
der Amtshaftungsklagen in diesem Bereich führen wird. Denn
Gegenstand der §§ 198 ff. GVG kann - wie bereits der
Wortlaut des § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG zeigt - auch eine
Entschädigung für materielle Nachteile und Schäden
sein (zutreffend BTDrucks 17/3802, 17); in diesem Bereich gelten
nach Auffassung des Gesetzgebers die §§ 249 ff. BGB - mit
Ausnahme eines Anspruchs auf Ersatz des entgangenen Gewinns -
uneingeschränkt (BTDrucks 17/7217, 27 f.). Zudem wird die
Geltendmachung eines auf § 198 GVG gestützten
Entschädigungsanspruchs für den Anspruchsteller schon
wegen des fehlenden Erfordernisses der Führung eines
Verschuldensnachweises wesentlich einfacher sein als die
Geltendmachung eines Amtshaftungsanspruchs.
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22
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Gleichwohl führt die Einführung
der Entschädigungsklage und deren Zuweisung an die
Fachgerichtsbarkeiten nicht zu einer Aushöhlung der
Rechtswegzuweisung des Art. 34 Satz 3 GG. Denn es bleibt dem
Anspruchsteller unbenommen, sein Begehren im Wege einer
Amtshaftungsklage durchzusetzen. Beide
Rechtsschutzmöglichkeiten bestehen parallel zueinander.
Während sich die Entschädigungsklage durch erleichterte
Voraussetzungen (fehlendes Verschuldenserfordernis), die Vermutung
des Eintritts von Nichtvermögensschäden sowie die
Möglichkeit eines pauschalierten Ersatzes dieser Schäden
auszeichnet, eröffnet die Amtshaftungsklage demgegenüber
auch die Möglichkeit der Erlangung von Schadensersatz für
entgangenen Gewinn. Von einem „Ausschluss“ des
ordentlichen Rechtsweges, der durch Art. 34 Satz 3 GG allein
untersagt würde, lässt sich danach ungeachtet eines
möglichen faktischen Rückgangs der Amtshaftungsklagen
nicht sprechen.
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23
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III. Die Klage ist zulässig, aber nur
teilweise begründet.
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24
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Sie ist gegen den richtigen Beklagten
gerichtet (unten 1.). Die Übertragung der Vertretung des
beklagten Bundeslandes Berlin auf den Präsidenten des FG
Berlin-Brandenburg ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden
(unten 2.). Das finanzgerichtliche Verfahren, dessen Dauer
vorliegend zu beurteilen ist, ist unangemessen verzögert
worden (unten 3.). Ein Anspruch des Klägers ist nicht schon
deshalb ausgeschlossen, weil das Ausgangsgericht das Verfahren
kurzfristig nach Erhebung der Verzögerungsrüge zu Ende
geführt hat (unten 4.) oder die Entschädigungsklage als
rechtsmissbräuchlich anzusehen wäre (unten 5.).
Allerdings ist nach den besonderen Umständen des vorliegenden
Falles die Feststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer
für die erforderliche Wiedergutmachung ausreichend; ein
Entschädigungsanspruch in Geld steht dem Kläger nicht zu
(unten 6.). Weil ein derartiger Feststellungsausspruch keine
vorherige Verzögerungsrüge des Klägers voraussetzt,
kann offenbleiben, ob der Kläger die
Verzögerungsrüge im Ausgangsverfahren noch
„unverzüglich“ nach Inkrafttreten des
ÜberlVfRSchG erhoben hat (unten 7.).
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1. Der Kläger hat mit dem Land Berlin den
richtigen Beklagten bezeichnet.
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a) Die Bestimmung des Anspruchsgegners bei
Entschädigungsklagen wegen überlanger Verfahrensdauer
richtet sich nach § 200 Satz 1 GVG. Danach haftet das Land
für Nachteile, die aufgrund von Verzögerungen bei
Gerichten eines Landes eingetreten sind. Da das FG
Berlin-Brandenburg gemäß Art. 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 des
Staatsvertrags über die Errichtung gemeinsamer
Fachobergerichte der Länder Berlin und Brandenburg vom
26.4.2004 (Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin 2004, 380)
- Staatsvertrag - ein gemeinsames Fachobergericht der
Bundesländer Berlin und Brandenburg ist, seinen Sitz aber im
Land Brandenburg hat, lässt sich dem Wortlaut des § 200
Satz 1 GVG unmittelbar noch keine Bestimmung des richtigen
Beklagten entnehmen.
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27
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Nach Auffassung des erkennenden Senats - die
vom Kläger und nunmehr auch vom Beklagten geteilt wird -
üben die gemeinsamen Fachobergerichte der Länder Berlin
und Brandenburg jeweils Rechtsprechungsgewalt desjenigen
Bundeslandes aus, aus dem das Ausgangsverfahren stammt. Der Senat
verweist insoweit auf die ausführlichen Darlegungen des
Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin im Beschluss vom
19.12.2006 45/06 (juris, unter II.1.a), denen er sich
anschließt. Der Verfassungsgerichtshof hat sich dabei
insbesondere auf die Gesetzesmaterialien zum Staatsvertrag sowie
die einfachere staatsrechtliche Handhabbarkeit gestützt.
Demgegenüber hat er denjenigen Einzelregelungen im
Staatsvertrag, die an das Sitzprinzip anknüpfen, keine
entscheidende Bedeutung zugemessen (Rz 32 des Beschlusses). Dieser
Auffassung ist auch das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg
im Beschluss vom 10.5.2007 8/07 (juris, unter B.I.1.). Beiden
Beschlüssen lagen jeweils Verfahren aus der
Verwaltungsgerichtsbarkeit zugrunde.
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28
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In Übereinstimmung damit hat das
Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seiner Entscheidung über
die Verfassungsbeschwerde eines Richters am früheren FG
Berlin, der sich unmittelbar gegen den Staatsvertrag gewandt hatte,
ausgeführt, das FG Berlin-Brandenburg sei ein Gericht,
„welches (auch) zur Berliner Landesgerichtsbarkeit
gehört“ (Beschluss vom 14.7.2006 2 BvR 1058/05, HFR
2006, 1030 = SIS 06 36 87, unter III.2.b aa). Die richterliche
Tätigkeit an einem länderübergreifenden Gericht
stelle sich als „Ausübung der Rechtsprechung für
die an dem Gericht beteiligten Länder dar“
(BVerfG-Beschluss in HFR 2006, 1030 = SIS 06 36 87, unter III.2.b
bb). Damit hat auch das BVerfG eine Anwendung des reinen
Sitzprinzips - maßgeblich wäre danach stets der Sitz des
gemeinsamen FG im Land Brandenburg - abgelehnt.
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29
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b) Vorliegend stammt das Ausgangsverfahren aus
dem Land Berlin, da eine Berliner Finanzbehörde den
Ablehnungsbescheid erlassen hatte, der zu der vom Kläger vor
dem damals noch bestehenden FG Berlin erhobenen Verpflichtungsklage
geführt hat. Auch soweit ab dem 1.1.2007 das FG
Berlin-Brandenburg an die Stelle des FG Berlin getreten ist,
übte es im Ausgangsverfahren Rechtsprechungsgewalt des Landes
Berlin aus, das damit Anspruchsgegner im
Entschädigungsklageverfahren ist.
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30
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2. Die Übertragung der Vertretung des
beklagten Bundeslandes Berlin auf den Präsidenten des FG
Berlin-Brandenburg (Anordnung über die Vertretung des Landes
Berlin im Geschäftsbereich der Senatsverwaltung für
Justiz vom 20.9.2007, Amtsblatt Berlin 2007, 2641) ist aus
Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Insbesondere durfte diese
Übertragung durch eine Verwaltungsanweisung vorgenommen
werden; ein Gesetz war nicht erforderlich.
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a) Organisationsregelungen innerhalb eines
Ressorts werden traditionell nicht dem zwingenden Gesetzesvorbehalt
unterstellt. Die Exekutive hat hier eine eigene Organisationsgewalt
(vgl. hierzu Krebs in Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik
Deutschland, Band V, § 108 Rz 99, m.w.N.).
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Diese Organisationsgewalt unterliegt aber in
doppelter Hinsicht Begrenzungen.
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aa) Zum einen darf der Parlamentsgesetzgeber
hierauf jederzeit Zugriff nehmen und ausdrückliche gesetzliche
Organisationsregelungen treffen (Ossenbühl in Handbuch des
Staatsrechts, a.a.O., § 101 Rz 72). Solange indes derartige
Spezialregelungen nicht existieren, bleibt es bei der
Organisationsgewalt der Exekutive.
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34
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bb) Zum anderen verpflichten das Rechtsstaats-
und das Demokratieprinzip den Parlamentsgesetzgeber, die
wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen. Dieser
„Wesentlichkeitsvorbehalt“ gilt zwar vor allem
für den Bereich der Grundrechtsausübung, erfasst
darüber hinaus aber auch andere für das Gemeinwesen
grundlegende Entscheidungen (ausführlich, auch zum Folgenden,
Urteil des Verfassungsgerichtshofs für das Land
Nordrhein-Westfalen vom 9.2.1999 11/98, NJW 1999, 1243, m.w.N.,
betr. Zusammenlegung des Innen- und Justizministeriums). Danach
fallen Organisationsentscheidungen dann unter den
Gesetzesvorbehalt, wenn sie wesentlich für die Verwirklichung
der Grundrechte oder anderer tragender Verfassungsprinzipien (z.B.
Rechtsstaatsprinzip, Gewaltenteilung, Sicherung einer
eigenständigen und unabhängigen rechtsprechenden Gewalt)
oder die Wahrnehmung der Staatsleitung sind.
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35
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b) Für die vorliegend
entscheidungserhebliche Frage der organisationsrechtlichen
Zuständigkeit für die Vertretung des Landes in
Entschädigungsklageverfahren sind landes- oder
bundesgesetzliche Regelungen nicht ersichtlich. § 200 Satz 1
GVG bestimmt lediglich, wer in Entschädigungsfällen der
richtige Beklagte ist (das Bundesland). Zu der Vertretung innerhalb
des Bundeslandes enthält das GVG keine Regelungen, was in
einem Bundesgesetz auch nicht möglich wäre.
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36
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Die in der Vertretungsanordnung getroffene
Organisationsregelung enthält auch keine Entscheidung, die so
wesentlich wäre, dass sie vom Gesetzgeber hätte getroffen
werden müssen. Sie berührt weder die Verwirklichung der
Grundrechte noch anderer tragender Verfassungsprinzipien oder die
Wahrnehmung der Staatsleitung. Dabei ist vor allem von Bedeutung,
dass der FG-Präsident in Entschädigungsklageverfahren
lediglich Vertreter eines Verfahrensbeteiligten, nicht aber
entscheidungsbefugt ist.
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37
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3. Das finanzgerichtliche Verfahren ist
unangemessen verzögert worden. Diese - auf den konkreten
Streitfall bezogene - Würdigung ist möglich, ohne dass
der Senat bereits den vorliegenden Einzelfall zum Anlass nehmen
müsste, allgemeine Leitlinien für die vom
Rechtsschutzsuchenden im Regelfall noch hinzunehmende Dauer eines
finanzgerichtlichen Verfahrens zu entwickeln.
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38
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a) Nach § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG richtet
sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen
des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung
des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und
Dritter.
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39
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Diese gesetzlichen Maßstäbe beruhen
auf der ständigen Rechtsprechung des EGMR, wonach die
Angemessenheit der Verfahrensdauer im Lichte der Umstände der
Rechtssache sowie unter Berücksichtigung der Komplexität
des Falles, des Verhaltens des Entschädigungsklägers und
der zuständigen Behörden sowie der Bedeutung des
Rechtsstreits für den Beschwerdeführer zu beurteilen ist
(Urteil vom 2.9.2010 46344/06 - Rumpf/Deutschland -, NJW 2010,
3355, Rz 41, m.w.N.).
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40
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Auch das BVerfG geht von vergleichbaren
Kriterien aus. Danach lässt sich nicht generell festlegen, ab
wann von einer überlangen, die Gewährung effektiven
Rechtsschutzes unzumutbar beeinträchtigenden und deshalb
verfassungsrechtlich nicht mehr hinnehmbaren Verfahrensdauer
auszugehen ist; dies ist vielmehr eine Frage der Abwägung und
Entscheidung im Einzelfall. Dabei sind vor allem die Bedeutung der
Sache für die Parteien (Beteiligten), die Schwierigkeit der
Sachmaterie, das den Parteien zuzurechnende Verhalten sowie vom
Gericht nicht oder nur eingeschränkt beeinflussbare
Tätigkeiten Dritter, etwa von Sachverständigen, in
Rechnung zu stellen. Mit zunehmender Verfahrensdauer verdichtet
sich allerdings die Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um eine
Förderung, Beschleunigung und Beendigung des Verfahrens zu
bemühen (BVerfG-Beschluss vom 27.7.2004 1 BvR 1196/04, NJW
2004, 3320, unter II.2.a, m.w.N.). Vor diesem Hintergrund hat das
BVerfG in seiner jüngeren Rechtsprechung entschieden, dass bei
einem Instanzgericht jedenfalls ein Abwarten von 30 Monaten den
verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht mehr genügt
(Beschluss vom 13.8.2012 1 BvR 1098/11, Europäische
Grundrechte Zeitschrift - EuGRZ - 2012, 666, unter B.I.2.). Vor dem
BVerfG selbst kann mit Rücksicht auf den abweichenden Wortlaut
der maßgeblichen Vorschriften (vgl. § 97a des Gesetzes
über das Bundesverfassungsgericht - BVerfGG - einerseits und
§ 198 GVG andererseits) sowie die besonderen Aufgaben des
BVerfG eine längere Verfahrenslaufzeit hinzunehmen sein,
insbesondere wenn ein Pilotverfahren ausgewählt wird und
entsprechende Parallelverfahren vorerst zurückgestellt werden
(BVerfG-Beschluss vom 1.10.2012 1 BvR 170/06 - Vz 1/12, juris).
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41
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Diese vom EGMR und dem BVerfG entwickelten
Kriterien sind nach dem Willen des Gesetzgebers, der im Wortlaut
und der Entstehungsgeschichte des Gesetzes - bei dem es sich um
eine Reaktion auf die häufigen Verurteilungen der
Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) durch den EGMR handelt -
zum Ausdruck kommt, auch der Prüfung nach § 198 GVG
zugrunde zu legen (BTDrucks 17/3802, 18).
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42
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b) Da im Ausgangsverfahren der Wechsel der
vorbereitenden Schriftsätze zwischen den Beteiligten am
2.6.2006 endete, war das erstmalig am 17.2.2010 erkennbare
Tätigwerden des FG (Aktenanforderung) erheblich zu spät.
Geht man mit der jüngeren Rechtsprechung des BVerfG davon aus,
dass „jedenfalls ein Abwarten von 30 Monaten“
den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genügt
(Beschluss in EuGRZ 2012, 666, unter B.I.2.), das Gericht also im
Regelfall nach etwa 24 bis 30 Monaten tätig werden muss,
hätte das FG das Ausgangsverfahren im ersten Halbjahr 2008
zumindest in die Richtung einer Entscheidung vorantreiben
müssen.
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43
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c) Der Staat kann sich zur Rechtfertigung
einer überlangen Verfahrensdauer nicht auf Umstände
innerhalb seines Verantwortungsbereichs berufen (so zutreffend
BTDrucks 17/3802, 19, unter Verweis auf die ständige
Rechtsprechung des BVerfG und EGMR). Deshalb ist die Zusammenlegung
der Finanzgerichte Berlin und Brandenburg zum 1.1.2007 bereits dem
Grunde nach kein Umstand, der vom Kläger zu vertreten
wäre und eine Verlängerung der noch als angemessen
anzusehenden Verfahrensdauer rechtfertigen könnte. Danach kann
der Senat offenlassen, ob der Beklagte sein Vorbringen, der Umzug
des FG Berlin nach Cottbus habe zu einer zehnmonatigen
Unterbrechung der Arbeitsfähigkeit des vormaligen FG Berlin
und des späteren FG Berlin-Brandenburg geführt,
hinreichend substantiiert hat.
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44
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d) Dem Kläger ist allerdings im Rahmen
der Prüfung der Gründe für die eingetretene
Verzögerung der Umstand zuzurechnen, dass er es unterlassen
hat, auf die Anfrage des FG vom 1.3.2010 zu reagieren. Nicht
beizupflichten ist jedoch dem Beklagten darin, dass die
unterbliebene Reaktion des Klägers das FG für das gesamte
Jahr 2010 von der Pflicht zur weiteren Förderung des
Verfahrens befreit hat. Das Schweigen des Klägers auf die
Anfrage hätte für das Gericht angesichts der bereits in
diesem Zeitpunkt eingetretenen Verzögerung des Verfahrens
vielmehr entweder Anlass sein müssen, den Kläger an die
ausstehende Antwort zu erinnern, oder dem FG die Möglichkeit
eröffnet, ohne Berücksichtigung der betroffenen Akten -
und ggf. unter Anwendung eines reduzierten Beweismaßes zu
Lasten des insoweit nicht an der Sachaufklärung mitwirkenden
Klägers (vgl. hierzu Senatsurteil vom 23.3.2011 X R 44/09,
BFHE 233, 297, BStBl II 2011, 884 = SIS 11 23 90, unter II.2.) - zu
entscheiden. Denn mit zunehmender Verfahrensdauer verdichtet sich -
wie oben dargelegt - die Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um
eine Beschleunigung des Verfahrens zu bemühen. Gleichwohl ist
das FG erst wieder am 18.1.2012 tätig geworden.
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45
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e) Danach bewegt sich die dem Beklagten
zuzurechnende Verzögerung des Verfahrens jedenfalls in der
Nähe des vom Kläger seiner Entschädigungsforderung
zugrunde gelegten Zeitraums von vier Jahren, ohne dass der Senat -
der sich auf den Ausspruch einer Feststellung der Unangemessenheit
der Verfahrensdauer beschränkt (siehe unten 6.) - im
Streitfall nähere Festlegungen treffen müsste.
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4. Ein auf § 198 GVG gestützter
Feststellungs- oder Entschädigungsanspruch des Klägers
ist nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil das FG das
Ausgangsverfahren kurzfristig nach Erhebung der
Verzögerungsrüge vom 14.2.2012 zu Ende geführt
hat.
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Die gegenteilige vom Beklagten vertretene
Rechtsauffassung kann jedenfalls in Fällen, die - wie
vorliegend - eine Verzögerung betreffen, die bereits vor
Inkrafttreten des ÜberlVfRSchG eingetreten ist, nicht
zutreffend sein. Denn schon vor Inkrafttreten des genannten
Gesetzes war die Bundesrepublik Deutschland aufgrund Art. 6 Abs. 1
der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten
(EMRK) verpflichtet, Rechtsschutz in angemessener Zeit zu
gewähren. Ferner musste die Bundesrepublik Deutschland
gewährleisten, dass für Fälle der Verletzung des
genannten Anspruchs eine wirksame Beschwerdemöglichkeit zur
Verfügung stand (Art. 13 EMRK). Würde nun eine vor
Inkrafttreten des ÜberlVfRSchG eingetretene Verzögerung
dadurch rückwirkend „geheilt“, dass das
Gericht das Verfahren kurzfristig nach einer - erstmals ab dem
Inkrafttreten des Gesetzes überhaupt möglichen -
Verzögerungsrüge beendet, stünde dem Betroffenen
hinsichtlich der eingetretenen Verzögerung weder ein wirksamer
Rechtsbehelf noch ein Entschädigungsanspruch zu. Dies
wäre mit den aus der EMRK folgenden und vom EGMR mehrfach
festgestellten Pflichten Deutschlands unvereinbar.
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48
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Im Übrigen hat der EGMR im Urteil vom
29.3.2006 36813/97 - Scordino/Italien - (NJW 2007, 1259, Rz 185)
ausgeführt: „Es versteht sich, dass in Ländern,
in denen eine Konventionsverletzung wegen der Dauer des Verfahrens
schon eingetreten ist, ein nur auf Beschleunigung gerichteter
Rechtsbehelf, so wünschenswert er für die Zukunft ist,
zur Wiedergutmachung nicht ausreicht, wenn das Verfahren
offensichtlich schon übermäßig lang gedauert
hat.“ In diesem Sinne ist die vom deutschen Gesetzgeber
nunmehr geschaffene Verzögerungsrüge ein „nur
auf Beschleunigung gerichteter Rechtsbehelf“, der allein
aber zur Wiedergutmachung einer in der Vergangenheit liegenden
Verzögerung nicht ausreichen kann, wenn der neue Rechtsbehelf
in der Vergangenheit noch gar nicht zur Verfügung stand.
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49
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In seinen Entscheidungen, die nach
Inkrafttreten des ÜberlVfRSchG ergangen sind, verweist der
EGMR die Beschwerdeführer auch in solchen Verfahren, die bei
ihm bereits vor Inkrafttreten des Gesetzes anhängig waren, auf
den nationalen Rechtsbehelf der Entschädigungsklage. Er
führt aber zugleich aus, dass er diese Position in Zukunft
überprüfen werde, was insbesondere von der Fähigkeit
der innerstaatlichen Gerichte abhängig sei, im Hinblick auf
das ÜberlVfRSchG eine konsistente und den Erfordernissen der
EMRK entsprechende Rechtsprechung zu etablieren (so
ausdrücklich Entscheidung des EGMR vom 29.5.2012 53126/07 -
Taron/Deutschland -, EuGRZ 2012, 514, Rz 45). Vor diesem
Hintergrund hat der Senat bei der Auslegung der durch das
ÜberlVfRSchG in das deutsche Recht aufgenommenen Normen auch
die Erfordernisse eines effektiven Menschenrechtsschutzes zu
berücksichtigen. Mit diesem wäre es unvereinbar, wenn
eine bereits eingetretene Verzögerung durch
nachträgliches staatliches Handeln ohne Zuerkennung einer
Wiedergutmachung ungeschehen gemacht werden könnte.
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5. Ein Anspruch des Klägers scheitert
auch nicht daran, dass die Erhebung der Entschädigungsklage
als rechtsmissbräuchlich anzusehen wäre.
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Der Beklagte meint insoweit, der Kläger
habe die Verzögerungsrüge angesichts des drohenden
Prozessverlusts im Ausgangsverfahren als Druckmittel einsetzen
wollen, um eine ihm günstige Kostenentscheidung zu erreichen.
Da dies nicht gelungen sei, sei die spätere Erhebung der
Entschädigungsklage als „Trotzreaktion“
anzusehen, die rechtlich unbeachtlich sei.
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Dem ist nicht beizupflichten. Nach allgemeinen
Grundsätzen sind Prozesshandlungen im Interesse der
erforderlichen Rechtsklarheit bedingungsfeindlich (vgl. BFH-Urteil
vom 6.7.2005 XI R 15/04, BFHE 210, 4, BStBl II 2005, 644 = SIS 05 37 92, unter II.2.). Grund hierfür ist das im gerichtlichen
Verfahren in besonderer Weise bestehende Bedürfnis nach
Rechtssicherheit und -klarheit. Daraus folgt aber zugleich, dass
auch eine Motivforschung in Bezug auf Prozesshandlungen -
insbesondere hinsichtlich der Gründe für die Erhebung
einer Klage - ausscheidet.
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53
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6. Nach den besonderen Umständen des
vorliegenden Falles ist die Feststellung einer unangemessenen
Verfahrensdauer ausreichend für die erforderliche
Wiedergutmachung; ein Entschädigungsanspruch in Geld steht dem
Kläger nicht zu.
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a) Gemäß § 198 Abs. 2 Satz 1
GVG wird ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist,
vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert
hat. Dies beruht auf der Rechtsprechung des EGMR, der
„eine starke, aber widerlegbare Vermutung“
dafür annimmt, dass die überlange Verfahrensdauer einen
Nichtvermögensschaden verursacht hat (Urteil in NJW 2007,
1259, Rz 204).
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Vorliegend ist diese gesetzliche Vermutung
weder durch das Vorbringen des Beklagten noch durch den sonstigen
Akteninhalt widerlegt.
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b) Ist die Vermutungsregel - wie hier - nicht
widerlegt, ordnet § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG hinsichtlich der
Rechtsfolgen bei Erleiden eines solchen
Nichtvermögensnachteils an, dass eine Geldentschädigung
„nur beansprucht werden [kann], soweit nicht nach den
Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise
gemäß Absatz 4 ausreichend ist“. Die
Feststellung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer durch das
Entschädigungsgericht ist im Gesetz ausdrücklich als eine
der Möglichkeiten bezeichnet, Wiedergutmachung auf andere
Weise als durch Zuerkennung eines Geldanspruchs zu leisten (§
198 Abs. 4 Satz 1 GVG).
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Für das Verhältnis zwischen den
Rechtsfolgen „Geldentschädigung“ einerseits
und „Feststellungsausspruch“ andererseits gilt
danach weder ein Vorrang der Geldentschädigung noch eine
anderweitige Vermutungsregel. Damit ist jedenfalls nach dem
Gesetzeswortlaut vor der Zuerkennung einer Geldentschädigung
jeweils konkret zu prüfen, ob Wiedergutmachung durch einen
bloßen Feststellungsausspruch möglich ist.
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58
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Soweit demgegenüber in der Literatur
vereinzelt die Auffassung vertreten wird, ein
Feststellungsausspruch müsse sich auf diejenigen
Ausnahmefälle beschränken, in denen sich der
Entschädigungskläger im Ausgangsverfahren
rechtsmissbräuchlich verhalten habe (so Böcker, DStR
2011, 2173, 2177), vermag der Senat dem nicht zu folgen. Das von
dieser Auffassung als Beleg angeführte EGMR-Urteil vom
10.12.1982 8304/78 - Corigliano/Italien - (EGMR-E 2, 199, Rz 53)
enthält zwar einen bloßen Feststellungsausspruch.
Allerdings lässt sich der genannten Entscheidung nicht
entnehmen, dass dieser Ausspruch auf einem
rechtsmissbräuchlichen Verhalten des dortigen
Beschwerdeführers beruht. Vielmehr führt der EGMR aus,
bereits durch die Feststellung der Verletzung des Art. 6 Abs. 1
EMRK sei eine hinreichende Entschädigung für den
immateriellen Schaden bewirkt worden. Das darüber hinaus
angeführte EGMR-Urteil vom 13.11.2008 26073/03 - M.O./
Deutschland - (juris) ist als Beleg für die Gegenauffassung
schon deshalb ungeeignet, weil dem dortigen Beschwerdeführer -
eine Person, die einer breiten Öffentlichkeit bekannt war -
durch die überlange Dauer eines strafrechtlichen
Ermittlungsverfahrens und dessen Öffentlichkeitswirkung
unstreitig ein erheblicher immaterieller Schaden entstanden
war.
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c) Nach den Gesetzesmaterialien (BTDrucks
17/3802, 20) soll ein derartiger Feststellungsausspruch
beispielsweise in Verfahren ausreichen, die für
„einen Verfahrensbeteiligten“ (gemeint kann
indes nur der Entschädigungskläger sein, nicht aber
dessen Gegner im Ausgangsverfahren) keine besondere Bedeutung
hatten, in denen ein Verfahrensbeteiligter durch sein Verhalten
erheblich zur Verzögerung beigetragen hat oder der Beklagte
darlegt, dass der Entschädigungskläger - abgesehen von
der Überlänge des Verfahrens als solcher - keinen
weitergehenden immateriellen Schaden erlitten hat.
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d) Auch in Bezug auf diese Rechtsfrage bietet
der Streitfall keine Veranlassung, allgemeine Grundsätze zur
Auslegung des § 198 Abs. 4 GVG aufzustellen oder sich
abschließend zu den in den Gesetzesmaterialien angestellten
Erwägungen zu äußern.
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Die angeführten Erwägungen des
Gesetzgebers könnten allerdings insoweit auf Bedenken
stoßen, als eine dem Entschädigungskläger
zuzurechnende Verzögerung bereits bei der Prüfung zu
berücksichtigen ist, ob überhaupt der Tatbestand einer
unangemessenen Verfahrensdauer erfüllt ist, und dann nicht
nochmals bei der Entscheidung über die Rechtsfolgen einer als
unangemessen zu beurteilenden Verfahrensdauer berücksichtigt
werden darf. Auch könnte das Verlangen nach einem
Nichtvermögensschaden, der über das Erdulden der
Überlänge als solcher hinausgeht, in einem
Spannungsverhältnis zu der Forderung des EGMR nach einem
effektiven Rechtsschutz gegen Verfahrensverzögerungen stehen.
Im Streitfall kommt hinzu, dass dem finanzgerichtlichen Verfahren -
jedenfalls abstrakt - auch eine „besondere
Bedeutung“ für den Kläger nicht abzusprechen
war, da Gegenstand seiner Klage immerhin ein streitiger
Steuerbetrag im Umfang von ca. einem Drittel der insgesamt für
den Veranlagungszeitraum 2002 gegen den Kläger festgesetzten
Einkommensteuer war.
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e) Im Streitfall ist die Beschränkung auf
einen bloßen Feststellungsausspruch aber deshalb
gerechtfertigt, weil die Klage unschlüssig, d.h. bereits auf
der Grundlage des eigenen Tatsachenvortrags des Klägers
erkennbar unbegründet war. Denn der Kläger hat schon in
der - kurz nach Klageerhebung eingereichten - Klagebegründung
vom 24.3.2006 eingeräumt, dass im Nachlass genügend Masse
vorhanden war, um die Steuernachzahlung begleichen zu können.
Damit hätte die vom Kläger begehrte Beschränkung
seiner Erbenhaftung auf den Nachlass aber von vornherein nicht zu
einer Reduzierung seiner Pflicht zur Zahlung der festgesetzten
Einkommensteuer führen können.
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aa) Soweit der Kläger erstmals im
Entschädigungsklageverfahren - ohne Substantiierung durch
Vorlage von Unterlagen - behauptet, ab dem Jahr 2001 seien weitere
Forderungen gegen den Nachlass geltend gemacht worden, was im Jahr
2004 zum Antrag auf Eröffnung eines
Nachlassinsolvenzverfahrens geführt habe, ist dies für
die Beurteilung durch den Senat ohne Bedeutung. Denn ob eine Klage
sich als unschlüssig darstellt, ist aus der -
verobjektivierten - Sicht des zur Entscheidung über diese
Klage berufenen Spruchkörpers zu beurteilen. Im Übrigen
vermag der Senat dieses neue Vorbringen nicht nachzuvollziehen, da
es zu den früheren Tatsachenbehauptungen des Klägers in
Widerspruch steht. So hat er nicht nur in der Klagebegründung
vom 24.3.2006 - lange nach der angeblichen Erhebung weiterer
Forderungen und dem behaupteten Antrag auf Eröffnung eines
Nachlassinsolvenzverfahrens -, sondern nochmals im Schreiben vom
2.2.2012 erklärt, letztlich habe sich herausgestellt, dass der
Nachlass ergiebig gewesen sei.
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In einem solchen Fall, in dem sich allein aus
der kurz nach Klageerhebung eingereichten Klagebegründung ohne
weitere Ermittlungshandlungen des Gerichts die Unschlüssigkeit
des Klagevorbringens ergibt, hat das verzögerte Verfahren -
jedenfalls bei konkreter Betrachtung - für den
Entschädigungskläger objektiv keine besondere Bedeutung.
Denn dann ist für jeden Rechtskundigen von Anfang an klar,
dass die Klage keine Aussicht auf Erfolg haben kann.
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Selbst wenn sich - was der Senat vorliegend
nicht zu entscheiden braucht - aus einer EMRK-konformen Auslegung
des § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG ein gewisser Vorrang der
Geldentschädigung ergeben könnte, zeigt die
Rechtsprechung des EGMR, dass auch dieser in vielen Fällen
lediglich einen Feststellungsausspruch als Wiedergutmachung
ausreichen lässt (vgl. die umfassende Zusammenstellung dieser
Rechtsprechung bei Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz bei
überlangen Gerichtsverfahren, Kommentar, Anhang 2). Es sind
aber kaum Fallgruppen denkbar, in denen die Betroffenheit des
Klägers durch eine überlange Verfahrensdauer geringer ist
als bei einer nach dem eigenen Klagevorbringen bereits
unschlüssigen Klage. Die Betroffenheit durch die
Verzögerung beschränkt sich in diesen Fällen auf den
Umstand, dass der Abschluss des finanzgerichtlichen Verfahrens
lange auf sich hat warten lassen. Angesichts der von Beginn an
feststehenden Unschlüssigkeit der Klage sind mit der
Verzögerung aber keine weiteren Risiken oder Nachteile
für die prozessuale oder sonstige Situation des Klägers
verbunden.
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66
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bb) Betrachtet man die Rechtsprechung des EGMR
bis zum Inkrafttreten des ÜberlVfRSchG, ist zwar
festzustellen, dass der EGMR Deutschland in Fällen
überlanger Verfahrensdauer zunehmend zur Zahlung von
Geldentschädigungen verurteilt und sich nicht auf die -
gemäß Art. 41 EMRK ebenfalls mögliche - bloße
Feststellung einer Verletzung der EMRK beschränkt hat. Bei
genauer Betrachtung liegt dies aber daran, dass der EGMR im
Zeitablauf zu der Erkenntnis gelangt ist, dass in Deutschland
seinerzeit ein strukturelles Problem vorhanden gewesen sei.
Deutschland wurde daher in den jüngeren Entscheidungen nicht
allein wegen einer Verletzung des Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires
Verfahren innerhalb angemessener Frist) verurteilt, sondern vor
allem auch wegen einer Verletzung des in Art. 13 EMRK garantierten
Rechts auf eine wirksame Beschwerde gegen Verletzungen der EMRK bei
einer innerstaatlichen Instanz (vgl. EGMR-Urteil vom 8.6.2006
75529/01 - Sürmeli/Deutschland -, NJW 2006, 2389). Eine solche
Beschwerdemöglichkeit in Fällen überlanger
Gerichtsverfahren (Untätigkeitsbeschwerde,
Verzögerungsrüge) fehlte in Deutschland bis zum
Inkrafttreten des ÜberlVfRSchG; dieses strukturelle Problem
der deutschen Gesetzgebung - und nicht nur die tatsächliche
Verzögerung eines gerichtlichen Verfahrens im Einzelfall - hat
der EGMR mit der Zuerkennung von Geldentschädigungen
sanktionieren wollen (vgl. EGMR-Urteil in NJW 2006, 2389, Rz 136
ff.).
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Mit dem Inkrafttreten des ÜberlVfRSchG
ist das strukturelle Problem beseitigt worden. Im Vordergrund steht
nunmehr wieder die Einzelfallbetrachtung der Umstände des
konkreten Verfahrens. Damit würde - hätte der EGMR
über einen derartigen Fall zu entscheiden - wieder die
Grundregel des Art. 41 EMRK zur Anwendung kommen, wonach der EGMR
nur dann über die bloße Feststellung einer
Konventionsverletzung hinaus eine „gerechte
Entschädigung“ (Geldentschädigung für
Nichtvermögensschäden) zuspricht, wenn das
innerstaatliche Recht „nur eine unvollkommene
Wiedergutmachung für die Folgen dieser Verletzung“
gestattet. Die Hauptsacheentscheidung des EGMR liegt in der
Feststellung einer Konventionsverletzung; die darüber
hinausgehende Zuerkennung einer Geldentschädigung ist nur eine
unselbständige Nebenentscheidung (so Dörr, in:
Grote/Marauhn, EMRK/GG, Konkordanzkommentar zum europäischen
und deutschen Grundrechtsschutz, 2006, Kap. 33 Rz 10). Der EGMR
spricht nur dann eine Geldentschädigung zu, wenn der
Betroffene aufgrund der Rechtsverletzung nachweislich einen
„spürbaren Nachteil“ erlitten hat
(Dörr, in: Grote/Marauhn, a.a.O., Kap. 33 Rz 18).
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7. Der Senat kann offenlassen, ob der
Kläger seine am 14.2.2012 beim FG eingegangene
Verzögerungsrüge „unverzüglich nach
Inkrafttreten“ des ÜberlVfRSchG erhoben hat.
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a) Gemäß der Übergangsregelung
des Art. 23 Satz 1 ÜberlVfRSchG ist das genannte Gesetz auch
auf Verfahren anwendbar, die bei seinem Inkrafttreten (3.12.2011)
bereits anhängig waren. War ein solches anhängiges
Verfahren beim Inkrafttreten des Gesetzes schon verzögert,
gilt die in § 198 Abs. 3 GVG vorgesehene Obliegenheit zur
Erhebung einer Verzögerungsrüge mit der Maßgabe,
dass diese „unverzüglich nach Inkrafttreten erhoben
werden muss“ (Art. 23 Satz 2 ÜberlVfRSchG). In
diesem Fall wahrt die Verzögerungsrüge einen Anspruch
nach § 198 GVG auch für den vorausgehenden Zeitraum (Art.
23 Satz 3 ÜberlVfRSchG).
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Der Beklagte meint - unter Verweis auf die
Rechtsprechung der Zivilgerichte zu § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB,
die wiederum die für außerordentliche fristlose
Kündigungen geltende zweiwöchige gesetzliche
Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB heranzieht (Urteil
des Bundesarbeitsgerichts vom 14.12.1979 7 AZR 38/78, BAGE 32, 237,
unter IV.2.) -, Verzögerungsrügen in
Übergangsfällen hätten innerhalb von zwei Wochen
nach dem Inkrafttreten des ÜberlVfRSchG, also bis zum
17.12.2011, erhoben werden müssen, um einen Anspruch auch
für die Vergangenheit zu wahren.
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71
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b) Der Senat kann offenlassen, ob eine solche
Auslegung unter Berücksichtigung anderweitiger gesetzlicher
Wertungen sachgerecht und mit der Rechtsprechung des EGMR vereinbar
wäre. So steht z.B. für die Erhebung einer
Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz eine einjährige Frist
zur Verfügung (§ 93 Abs. 3 BVerfGG). Zudem gilt für
die Beschwerden zum EGMR eine sechsmonatige Frist (Art. 35 Abs. 1
EMRK). Auch geht es darum, mittels der Auslegung des
ÜberlVRSchG eine den Erfordernissen der EMRK entsprechende
Rechtsprechung zu etablieren (vgl. EGMR-Entscheidung in EuGRZ 2012,
514, Rz 45).
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72
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Indes bedarf es im Streitfall, in dem
lediglich die Feststellung einer Verfahrensverzögerung
auszusprechen ist, der vorherigen (unverzüglichen) Erhebung
einer Rüge durch den Kläger nicht. Denn die Feststellung
einer unangemessenen Verfahrensdauer kann - im Gegensatz zur
Zuerkennung einer Geldentschädigung - nach der
ausdrücklichen Regelung des § 198 Abs. 4 Satz 3 GVG auch
dann ausgesprochen werden, „wenn eine oder mehrere
Voraussetzungen des Abs. 3 nicht erfüllt sind“. Die
Obliegenheit zur Erhebung einer Verzögerungsrüge ist aber
- neben anderen - in § 198 Abs. 3 GVG genannt. Diese
Obliegenheit entfällt, wenn das Entschädigungsgericht
sich auf einen bloßen Feststellungsausspruch beschränkt,
nicht nur im gesetzlichen Regelfall des § 198 Abs. 3 GVG,
sondern auch in Fällen der - vorliegend einschlägigen -
Übergangsregelung des Art. 23 Satz 2 ÜberlVfRSchG. Denn
nach dieser Vorschrift „gilt § 198 Abs. 3 GVG mit der
Maßgabe, dass die Verzögerungsrüge
unverzüglich nach Inkrafttreten erhoben werden
muss“. Von dem Verweis der genannten
Übergangsregelung auf § 198 Abs. 3 GVG ist daher auch die
in § 198 Abs. 4 Satz 3 GVG angeordnete Ausnahme vom
Erfordernis des § 198 Abs. 3 GVG umfasst.
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Da der Senat vorliegend einen
Feststellungsausspruch als Wiedergutmachung für ausreichend
hält, war die Erhebung einer Verzögerungsrüge nicht
erforderlich.
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74
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8. Die Kostenentscheidung beruht auf §
201 Abs. 4 GVG. Danach entscheidet das Gericht über die Kosten
nach billigem Ermessen, wenn - wie hier - zwar kein
Entschädigungsanspruch besteht, aber eine unangemessene
Verfahrensdauer festgestellt wird.
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Diese Regelung soll auch dann eine
„angemessene Kostenentscheidung“
ermöglichen, wenn ein Kläger seine Rügeobliegenheit
nicht erfüllt hat, gleichwohl aber eine überlange
Verfahrensdauer festgestellt wird (BTDrucks 17/3802, 26). In einem
solchen Fall soll sogar eine vollständige Freistellung des
Klägers von den Kosten des Entschädigungsrechtsstreits
möglich sein (BTDrucks 17/3802, 19, zu § 198 Abs. 2 Satz
2 GVG).
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76
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In einem Fall wie dem vorliegenden, in dem
(1.) tatsächlich eine erhebliche Verfahrensverzögerung
gegeben ist, (2.) deren Größenordnung weitgehend mit
derjenigen Zeitspanne deckungsgleich ist, die der Kläger
seiner monetären Entschädigungsforderung zugrunde gelegt
hat, und (3.) der Kläger die Höhe seiner
Entschädigungsforderung auf den gesetzlichen Regelbetrag des
§ 198 Abs. 2 Satz 3 GVG beschränkt hat, entspricht es
billigem Ermessen, dem Beklagten auch dann den weitaus
überwiegenden Teil der Verfahrenskosten aufzuerlegen, wenn das
Gericht letztlich keinen Entschädigungsanspruch gewährt,
sondern lediglich die Unangemessenheit der Verfahrensdauer
feststellt.
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Auch der EGMR hat in seinem Urteil in NJW
2007, 1259 (Rz 201) ausgeführt, die Vorschriften über die
Kosten in Entschädigungsklageverfahren könnten vom
allgemeinen Kostenrecht abweichen, um zu vermeiden, dass Parteien
in Fällen, in denen die Klage begründet ist, eine
übermäßige Last tragen.
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Zu keinem anderen Ergebnis führt die
Erwägung des Beklagten, das konkrete Prozessverhalten des
Klägers im Entschädigungsklageverfahren zeige, dass es
diesem wirtschaftlich auf die Erlangung einer
Geldentschädigung ankomme und der Feststellungsausspruch
für ihn nur von untergeordneter Bedeutung sei, was sich auch
in der Kostenentscheidung widerspiegeln müsse. Denn nach der
menschenrechtlichen Konzeption der §§ 198 ff. GVG dient
sowohl der Feststellungsausspruch als auch die Zuerkennung einer
Geldentschädigung für immaterielle Schäden - auf die
der Kläger seinen Antrag beschränkt hat - der Genugtuung
für die erlittenen immateriellen Nachteile eines unangemessen
verzögerten Gerichtsverfahrens. Vor diesem Hintergrund ist -
auch - für die Kostenentscheidung der Umstand, dass das
Entschädigungsgericht eine Verfahrensverzögerung in der
vom Kläger geltend gemachten Größenordnung bejaht,
von größerem Gewicht als die Wahl zwischen den
verschiedenen Rechtsfolgenaussprüchen.
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79
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In Anwendung dieser Grundsätze legt der
Senat diesen „weitaus überwiegenden“, in
derartigen Fällen vom Beklagten zu tragenden Teil der
Verfahrenskosten typisierend auf 75 % fest.
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