Der Beklagte wird verurteilt, an den
Kläger wegen der unangemessenen Dauer des vor dem
Finanzgericht (...) geführten Verfahrens 4 K 1119/16 (zuvor 3
K 1119/16) eine Entschädigung von 1.500 EUR nebst Zinsen in
Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz
seit dem 29.10.2021 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
1
|
I. Der Kläger beansprucht
Entschädigung gemäß § 198 des
Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) für die von ihm als
unangemessen angesehene Dauer eines vor dem Finanzgericht (FG)
(...) geführten Klageverfahrens.
|
|
|
2
|
Diesem Verfahren liegt im Wesentlichen
folgender Sachverhalt zugrunde:
|
|
|
3
|
Der Kläger erhob am 15.11.2016 Klage
auf Erlass bereits von ihm gezahlter Säumniszuschläge in
Höhe von 52.379 EUR. Die Säumniszuschläge waren weit
überwiegend darauf zurückzuführen, dass der
Kläger Steuernachforderungen, die aus einer
Außenprüfung resultierten, erst nach Fälligkeit
gezahlt hatte. Gegen die aufgrund der Außenprüfung
ergangenen Steuerbescheide hatte der Kläger in zwei
Rechtsgängen ein weiteres Klageverfahren vor dem
Ausgangsgericht geführt, das im November 2019 abgeschlossen
wurde.
|
|
|
4
|
Neben seiner Klage, die der Kläger
sogleich begründete, beantragte er am 06.12.2016 die
Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) für das
Klageverfahren. Das Ausgangsgericht führte beide Verfahren
unter demselben Aktenzeichen. Geschäftsplanmäßig
zuständig war zunächst der dortige 3. Senat.
|
|
|
5
|
Nach wechselseitigen Schriftsätzen bis
einschließlich Mai 2017, einer vom
Prozessbevollmächtigten des Klägers wahrgenommenen
Akteneinsicht und einer hierauf folgenden ergänzenden
Klagebegründung im Juni 2017 rügte der Kläger
erstmals im Februar 2018 eine Verfahrensverzögerung. Am
29.03.2019 erhob er eine weitere Verzögerungsrüge und
wies zudem darauf hin, dass über seinen PKH-Antrag noch nicht
entschieden worden sei.
|
|
|
6
|
Die vom Kläger im Januar 2017 und
März 2019 gestellten Anträge, das vorliegende
Ausgangsverfahren mit dem gegen die Auswertungsbescheide nach der
Außenprüfung gerichteten (parallelen) Klageverfahren (3
K 362/16) zu verbinden, kam das Ausgangsgericht - ohne dies
ausdrücklich zu bescheiden - nicht nach.
|
|
|
7
|
Im Juli 2019 ging die Zuständigkeit
für das vorliegende Ausgangsverfahren auf den 4. Senat des FG
über. Mit Schreiben vom 19.11.2019 teilte die
Berichterstatterin mit, infolge des zwischenzeitlichen Abschlusses
des beim 3. Senat anhängig gewesenen Parallelverfahrens 3 K
362/16 stünden nunmehr die Verwaltungsvorgänge des
Finanzamts (FA) zur Verfügung.
|
|
|
8
|
Ende November 2019 erhob der Kläger
erneut Verzögerungsrüge.
|
|
|
9
|
Auf Bitte der Berichterstatterin vom
27.11.2019 reichte der Kläger im Hinblick auf die ausstehende
Entscheidung über den PKH-Antrag am 09.12.2019 eine
aktualisierte Erklärung zu seinen persönlichen und
wirtschaftlichen Verhältnissen ein. Mit Schreiben vom
02.03.2020 teilte die Berichterstatterin dem Kläger mit, es
sei beabsichtigt, PKH zu bewilligen. Sie bat aber um weitere
Erläuterungen zu den persönlichen und wirtschaftlichen
Verhältnissen, die der Kläger am 13.03.2020 einreichte.
Mit Beschluss vom 31.03.2020 bewilligte das Ausgangsgericht PKH
unter Ratenzahlung.
|
|
|
10
|
Nach einer im April 2020 erfolglos
gebliebenen Zuweisung des Verfahrens zu einem
Güterichterentscheid lud die Berichterstatterin Ende Mai 2020
für den 27.07.2020 zum Erörterungstermin. Dort sagte die
Vertreterin des FA zu, den Bescheid über die Ablehnung des
Erlasses der Säumniszuschläge und die
Einspruchsentscheidung aufzuheben und den Kläger neu zu
bescheiden. Die Beteiligten erklärten daraufhin
übereinstimmend die Hauptsache für erledigt.
|
|
|
11
|
Der Kläger hat am 26.11.2020 beim
Bundesfinanzhof die vorliegende Entschädigungsklage
anhängig gemacht, die dem Beklagten - nachdem der Senat dem
Kläger für das vorliegende Verfahren PKH bewilligt hatte
- am 28.10.2021 zugestellt wurde.
|
|
|
12
|
Der Kläger führt an, das
Ausgangsverfahren sei von Juni 2017 bis Mai 2020 nicht
gefördert worden, wobei auf die Zeit seit Erhebung der ersten
Verzögerungsrüge im Februar 2018 28 Monate entfielen. Er
beansprucht für erlittene immaterielle Nachteile eine
Entschädigung von 1.800 EUR. Hierbei geht er davon aus, das
Ausgangsgericht habe zwei Jahre nach Klageerhebung - d.h. ab
November 2018 - mit Maßnahmen beginnen müssen, die das
Verfahren einer Entscheidung zugeführt hätten.
|
|
|
13
|
Der Kläger beantragt
sinngemäß,
|
|
den Beklagten zu verurteilen, wegen
überlanger Dauer des beim FG (...) geführten Verfahrens 4
K 1119/16 (zuvor 3 K 1119/16) eine Entschädigung für
immaterielle Nachteile in Höhe von 1.800 EUR nebst Zinsen in
Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz seit
Rechtshängigkeit zu zahlen.
|
|
|
14
|
Der Beklagte beantragt,
|
|
die Klage abzuweisen.
|
|
|
15
|
Der Beklagte stellt nicht in Abrede, dass
das Ausgangsverfahren Verzögerungszeiten aufweise, meint aber,
eine Wiedergutmachung durch bloße Feststellung einer
unangemessenen Verfahrensdauer gemäß § 198 Abs. 4
Satz 1 GVG sei ausreichend. Dem Kläger sei bereits für
Verzögerungen in den parallelen Ausgangsverfahren 3 K 1046/09
und 3 K 362/16 eine Entschädigung für immaterielle
Nachteile gezahlt worden. Zwischen beiden Verfahren habe ein enger
sachlicher Zusammenhang bestanden. Der Entschädigungsanspruch
gemäß § 198 Abs. 3 GVG setze einen tatsächlich
erlittenen immateriellen Nachteil voraus, der vom
Entschädigungsgericht positiv festzustellen sei. In Anbetracht
des engen Zusammenhangs beider Ausgangsverfahren liege es fern
anzunehmen, der Kläger habe in beiden Verfahren aufgrund deren
Dauer gleichermaßen - kumulative - Beeinträchtigungen
erfahren.
|
|
|
16
|
Der Senat hat die Prozessakte X K 8/19 zu
diesem Verfahren beigezogen.
|
|
|
17
|
II. Die Klage ist überwiegend
begründet. Das Ausgangsverfahren weist eine unangemessene
Dauer von insgesamt 15 Monaten auf (hierzu unten 1.). Dem
Kläger steht aus diesem Grund eine Entschädigung für
einen Nichtvermögensnachteil von 1.500 EUR zu (unten 2.).
|
|
|
18
|
1. Wer infolge unangemessener Dauer eines
Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil
erleidet, wird angemessen entschädigt (§ 198 Abs. 1 Satz
1 GVG). Nach Abs. 1 Satz 2 der Vorschrift richtet sich die
Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des
Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des
Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und
Dritter.
|
|
|
19
|
Nach den hierzu vom erkennenden Senat
entwickelten und in ständiger Rechtsprechung vertretenen
Rechtsgrundsätzen ist bei einem finanzgerichtlichen
Klageverfahren, das im Vergleich zu dem typischen in dieser
Gerichtsbarkeit zu bearbeitenden Verfahren keine wesentlichen
Besonderheiten aufweist, zu vermuten, dass die Dauer des Verfahrens
i.S. von § 198 Abs. 1 GVG noch angemessen ist, wenn das
Gericht gut zwei Jahre nach dem Eingang der Klage mit
Maßnahmen beginnt, die das Verfahren einer Entscheidung
zuführen sollen, und die damit begonnene letzte Phase des
Verfahrenslaufs nicht durch nennenswerte Zeiträume
unterbrochen wird, in denen das Gericht die Akte unbearbeitet
lässt. Dies gilt allerdings nicht, wenn der
Verfahrensbeteiligte rechtzeitig und in nachvollziehbarer Weise auf
Umstände hinweist, aus denen eine besondere
Eilbedürftigkeit des Verfahrens folgt (vgl. statt vieler
Senatsurteil vom 08.10.2019 - X K 1/19, BFH/NV 2020, 98 = SIS 19 18 91, Rz 27 ff., m.w.N.).
|
|
|
20
|
a) Nach diesen rechtlichen
Maßstäben sind im Streitfall Besonderheiten, die dazu
führen könnten, von der Anwendung der Regelvermutung
für die Angemessenheit der Dauer finanzgerichtlicher Verfahren
abzusehen, nicht ersichtlich.
|
|
|
21
|
Das Ausgangsverfahren hatte im Hinblick
darauf, dass die Säumniszuschläge vom Kläger bereits
gezahlt worden waren, eine durchschnittliche Bedeutung. Zudem wies
es eine durchschnittliche Schwierigkeit und aufgrund des Umfangs
der eingereichten Schriftsätze sowie der Bezüge zum
parallelen Verfahren 3 K 362/16 eine ebenso durchschnittliche
Komplexität auf. Gründe für eine
Eilbedürftigkeit hat der Kläger gegenüber dem
Ausgangsgericht weder innerhalb der zweijährigen
Regelvermutungsfrist noch mit seinen Verzögerungsrügen
ausdrücklich geltend gemacht.
|
|
|
22
|
b) Demzufolge begann für das im November
2016 rechtshängig gewordene Ausgangsverfahren mit Beginn des
Dezembers 2018 diejenige Phase, in der das Ausgangsgericht das
Verfahren ohne nennenswerte Unterbrechungszeiten hätte
fördern und einer Entscheidung zuführen müssen.
|
|
|
23
|
aa) Der Aktenlage ist allerdings - wie
grundsätzlich auch der Beklagte konstatiert - weder für
den Monat Dezember 2018 noch für den nachfolgenden Zeitraum
bis einschließlich Oktober 2019 eine auf die Entscheidung des
Verfahrens gerichtete Förderung zu entnehmen. Das Verfahren
ist während dieses elfmonatigen Zeitraums nicht bearbeitet
worden und gilt insoweit als verzögert. Für den Monat
Oktober 2019 spricht hiergegen nicht, dass die dem
Parallelverfahren 3 K 362/16 zugeordneten Verwaltungsvorgänge
der Berichterstatterin trotz ihrer Bitte vom 08.10.2019
zunächst nicht vom 3. Senat des FG überlassen wurden. In
Anbetracht der zu diesem Zeitpunkt bereits erheblich
verzögerten Verfahrensdauer hätte durch
innerorganisatorische Maßnahmen sichergestellt werden
müssen, dass das Ausgangsverfahren gefördert werden kann
(z.B. durch Erstellung einer kopierten Zweitakte).
|
|
|
24
|
bb) Auch für den Monat November 2019 sind
keine gerichtlichen Aktivitäten in einem Umfang zu
verzeichnen, die im Hinblick auf das zu diesem Zeitpunkt bereits
erheblich verzögerte Verfahren die Annahme einer
unangemessenen Verfahrensdauer i.S. von § 198 Abs. 1 GVG
ausschließen würden.
|
|
|
25
|
(1) Die Akten zeigen für diesen Monat
lediglich den schriftlichen Hinweis des Ausgangsgerichts vom
19.11.2019, dass die Verwaltungsvorgänge des FA nach
zwischenzeitlicher Beendigung des Verfahrens 3 K 362/16 nunmehr
vorlägen. Hierbei handelt es sich nicht um eine
verfahrensfördernde Maßnahme, sondern lediglich um die
Ankündigung einer solchen.
|
|
|
26
|
(2) Auch die an den Kläger gerichtete
Bitte vom 27.11.2019, seine Angaben zu den persönlichen und
wirtschaftlichen Verhältnissen wegen der noch ausstehenden
PKH-Entscheidung zu aktualisieren, ist nicht als fördernde
Maßnahme in Bezug auf das Hauptsacheverfahren zu werten.
|
|
|
27
|
Ein PKH-Verfahren, das gleichzeitig neben
einem rechtshängigen Hauptsacheverfahren geführt wird,
ist nach der zutreffenden Rechtsprechung des Bundessozialgerichts
(BSG) nicht geeignet, weitere - eigenständige -
Entschädigungsansprüche auszulösen. Dies beruht auf
der Legaldefinition des § 198 Abs. 6 Nr. 1 Halbsatz 1 GVG,
wonach Gerichtsverfahren im entschädigungsrechtlichen Sinn
jedes Verfahren von der Einleitung bis zum rechtskräftigen
Abschluss u.a.
„einschließlich“ eines
Verfahrens zur Bewilligung von Prozess- oder Verfahrenskostenhilfe
ist (BSG-Entscheidungen vom 07.09.2017 - B 10 ÜG 3/16 R, SozR
4-1720 § 198 Nr. 14, Rz 30, sowie vom 18.02.2021 - B 10
ÜG 8/20 B, juris, Rz 6). Hiernach ist zwar ein isoliertes
PKH-Verfahren ein entschädigungsrechtlich relevantes -
eigenständiges - Gerichtsverfahren (vgl. hierzu bereits
Senatsurteile vom 20.03.2019 - X K 4/18, BFHE 263, 498, BStBl II
2020, 16 = SIS 19 06 36, Rz 30 f., sowie vom 14.04.2021 - X K 3/20,
BFH/NV 2021, 1507 = SIS 21 15 84, Rz 25), nicht aber ein
gleichzeitig neben dem bereits anhängigen Hauptsacheverfahren
geführtes PKH-Verfahren. Es handelt sich vielmehr um einen
unselbständigen Bestandteil (Annex) des Hauptsacheverfahrens,
dessen verzögerte Bearbeitung keine Mehrfachentschädigung
begründen kann (ebenso Zöller/Lückemann, ZPO, 34.
Aufl., § 198 GVG Rz 12, m.w.N.).
|
|
|
28
|
Aus diesen Rechtsgrundsätzen folgt zum
einen, dass Verzögerungen im Verfahren um die PKH-Bewilligung
während der Dauer eines gleichzeitig rechtshängig
gewordenen Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen sein
können, wenn ein Gericht wegen eines solchen Nebenverfahrens
die Hauptsache nicht so zügig bearbeitet wie dies ggf.
erforderlich wäre (zutreffend BSG-Entscheidungen in SozR
4-1720 § 198 Nr. 14, Rz 29, sowie vom 18.02.2021 - B 10
ÜG 8/20 B, juris, Rz 6). Zum anderen ist die Bearbeitung eines
PKH-Verfahrens dann als verfahrensfördernde Maßnahme des
Hauptsacheverfahrens anzusehen, wenn es sich um eine solche
handelt, die erkennbar eine verfahrensbeendende Zielrichtung hat.
Dies ist hier nicht der Fall. Die gerichtliche Bitte vom 27.11.2019
betraf lediglich die persönlichen und wirtschaftlichen
Verhältnisse des Klägers, deren Überprüfung
ausschließlich Gegenstand eines PKH-Bewilligungsverfahrens
ist.
|
|
|
29
|
cc) Auch während des Zeitraums von
Dezember 2019 bis Februar 2020 ist für den Senat nicht
erkennbar, dass das Ausgangsgericht das Verfahren gefördert
hätte.
|
|
|
30
|
dd) Anderes gilt für den Folgemonat
März 2020. Das Ausgangsgericht hat dem Kläger mit
Beschluss vom 31.03.2020 - wie bereits zuvor in Aussicht gestellt -
PKH unter Ratenzahlung bewilligt. Die gesetzlichen Voraussetzungen
für die Bewilligung von PKH gemäß § 142 Abs. 1
der Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 der
Zivilprozessordnung (ZPO) zwingen zu der Annahme, dass sich das FG
bereits zu dieser Zeit mit den Erfolgsaussichten des
Ausgangsverfahrens auseinandergesetzt und dieses daher mit
verfahrensbeendender Zielrichtung gefördert hat.
|
|
|
31
|
ee) Auch für den nachfolgenden Zeitraum
bis zum verfahrensbeendenden Erörterungstermin im Juli 2020
sind für den Senat keine nennenswerten Unterbrechungen in der
Bearbeitung des Ausgangsverfahrens ersichtlich, die zu einer
weiteren Verzögerung gemäß § 198 GVG
hätten führen können.
|
|
|
32
|
(1) Im April 2020 wurde das Verfahren - wenn
auch ohne Erfolg - dem Güterichter des FG vorgelegt (§
155 Satz 1 FGO i.V.m. § 278 Abs. 5 ZPO).
|
|
|
33
|
(2) Am 29.05.2020 lud die Berichterstatterin -
nach vorherigen Telefonaten mit den Vertretern der dortigen
Beteiligten - zum Erörterungstermin am 27.07.2020. Der etwa
zweimonatige Terminierungsvorlauf ist trotz der zu dieser Zeit
bereits bestehenden Verzögerungen entschädigungsrechtlich
unbedenklich (vgl. hierzu bereits Senatsurteil vom 07.05.2014 - X K
11/13, BFH/NV 2014, 1748 = SIS 14 27 19, Rz 56, in dem ein
Terminierungsvorlauf von drei Monaten nicht als Verzögerung
angesehen wurde). Zudem ist aktenkundig, dass die Präsidentin
des Ausgangsgerichts erst am 28.05.2020 den pandemiebedingt seit
dem 16.03.2020 ausgesetzten allgemeinen Sitzungsbetrieb mit Wirkung
zum 02.06.2020 wieder freigegeben hat; die Berichterstatterin hat
somit die erstmögliche Gelegenheit zur Ladung ergriffen.
|
|
|
34
|
2. Für den vorgenannten Zeitraum einer
unangemessenen Verfahrensdauer von insgesamt 15 Monaten liegen die
Voraussetzungen für die Zuerkennung einer
Geldentschädigung in Höhe von 1.500 EUR vor.
|
|
|
35
|
a) Die hierfür gemäß §
198 Abs. 3 Satz 1 GVG erforderliche Verzögerungsrüge hat
der Kläger erstmals wirksam am 29.03.2019 erhoben. Nach der
Senatsrechtsprechung wirkt eine Verzögerungsrüge zwar
nicht zeitlich unbeschränkt, im Regelfall aber sechs Monate
vor deren Erhebung zurück (Senatsurteile vom 06.04.2016 - X K
1/15, BFHE 253, 205, BStBl II 2016, 694 = SIS 16 11 18, Rz 40 ff.,
sowie vom 25.10.2016 - X K 3/15, BFH/NV 2017, 159 = SIS 16 27 77,
Rz 39). Somit liegt selbst der erstmögliche
Verzögerungsmonat (Dezember 2018) noch im
Rückwirkungszeitraum.
|
|
|
36
|
b) Das Entstehen eines
Nichtvermögensnachteils wird in Fällen unangemessener
Verfahrensdauer gemäß § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG
vermutet. Diese Vermutungsregel findet auch vorliegend
Anwendung.
|
|
|
37
|
aa) Die Begründung der Bundesregierung
zum Entwurf eines Gesetzes über den Rechtsschutz bei
überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen
Ermittlungsverfahren geht unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR)
von einer „starken, aber
widerlegbaren“ Vermutung aus, dass ein
überlanges Gerichtsverfahren „in aller
Regel“ einen Nichtvermögensnachteil
zur Folge hat (BT-Drucks. 17/3802, S. 19; EGMR-Urteil vom
29.03.2006 - 36813/97, NJW 2007, 1259, Rz 204). Diese Vermutung
trägt auch der Tatsache Rechnung, dass der
Verfahrensbeteiligte den Nachweis eines
Nichtvermögensnachteils oft nur schwierig oder gar nicht
führen kann (BT-Drucks. 17/3802, S. 19).
|
|
|
38
|
Ein wiedergutmachungspflichtiger Nachteil
liegt allerdings dann nicht vor, wenn sicher festgestellt wird,
dass die - unangemessene - Verfahrensdauer nicht zu einem Nachteil
geführt hat, sei es, dass kein Nachteil vorliegt oder sei es,
dass kein Kausalzusammenhang zwischen Verfahrensdauer und Nachteil
gegeben ist (Senatsurteil vom 20.11.2013 - X K 2/12, BFHE 243, 151,
BStBl II 2014, 395 = SIS 14 01 01, Rz 26). Hierzu bedarf es nach
§ 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 292 Satz 1 ZPO des vollen
Beweises des Nichtbestehens eines wiedergutmachungspflichtigen
Nachteils; die bloße Erschütterung der gesetzlichen
Vermutung genügt nicht (vgl. hierzu BSG-Urteil vom 17.12.2020
- B 10 ÜG 1/19 R, SozR 4-1720 § 198 Nr. 20, Rz 53,
m.w.N.).
|
|
|
39
|
bb) Die zuletzt genannten Voraussetzungen sind
vorliegend nicht gegeben. Der Beklagte hat keine Umstände
vorgetragen, die es erlaubten, die gesetzliche Vermutung eines
Nichtvermögensnachteils als widerlegt anzusehen; solche
Umstände sind auch sonst nicht ersichtlich. Vielmehr ist - der
Vermutung entsprechend - davon auszugehen, dass die unangemessene
Verfahrensdauer von 15 Monaten auch zu einem Nachteil beim
Kläger geführt hat.
|
|
|
40
|
cc) Unerheblich ist in diesem Zusammenhang,
dass der Kläger parallele - in einem gewissen sachlichen
Zusammenhang stehende - Streitverfahren vor dem Ausgangsgericht
geführt und für die unangemessene Dauer des einen
Verfahrens bereits eine Entschädigung bezogen hat. Andernfalls
bliebe unberücksichtigt, dass es sich um jeweils gesondert zu
betrachtende Gerichtsverfahren i.S. von § 198 Abs. 6 Nr. 1
Halbsatz 1 GVG handelte. Darüber hinaus ist zu beachten, dass
der wiederholt gestellte Antrag des Klägers, die Verfahren
gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 FGO zu verbinden, vom
Ausgangsgericht unerhört blieb. Musste der Kläger somit
weiterhin zwei getrennte - seit Juli 2019 zudem in den
Zuständigkeitsbereich verschiedener Senate fallende -
Verfahren führen, wird die gesetzliche Vermutung des Bestehens
eines Nichtvermögensnachteils im Fall der Verzögerung
beider Verfahren geradezu bestätigt.
|
|
|
41
|
c) Eine Wiedergutmachung der unangemessenen
Verfahrensdauer auf andere Weise als durch die Zahlung einer
Entschädigung gemäß § 198 Abs. 2 Satz 2, Abs.
4 Satz 1 GVG kommt nicht in Betracht.
|
|
|
42
|
aa) Die schlichte Feststellung der
Unangemessenheit der Verfahrensdauer durch das
Entschädigungsgericht ist in § 198 Abs. 4 Satz 1 GVG
ausdrücklich als eine der Möglichkeiten bezeichnet,
Wiedergutmachung auf andere Weise als durch Zuerkennung eines
Geldanspruchs zu leisten. Der erkennende Senat hat bereits
entschieden, dass für das Verhältnis zwischen einer
„Geldentschädigung“ und
einem „Feststellungsausspruch“
weder ein Vorrang der Geldentschädigung noch eine anderweitige
Vermutungsregel gilt. Demzufolge ist jedenfalls nach dem
Gesetzeswortlaut vor der Zuerkennung einer Geldentschädigung
jeweils konkret zu prüfen, ob eine Wiedergutmachung durch die
bloße Feststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer
möglich ist (Urteil vom 17.04.2013 - X K 3/12, BFHE 240, 516,
BStBl II 2013, 547 = SIS 13 14 53, Rz 57). Dies kann nicht
pauschal, sondern muss unter Abwägung aller Belange im
Einzelfall entschieden werden (BT-Drucks. 17/3802, S. 20; Urteil
des Bundesgerichtshofs vom 23.01.2014 - III ZR 37/13, BGHZ 200, 20,
Rz 62; BSG-Urteil vom 12.12.2019 - B 10 ÜG 3/19 R, SozR 4-1720 § 198 Nr. 18, Rz
40, m.w.N.).
|
|
|
43
|
(1) Der Senat hat einen Feststellungsausspruch
nach § 198 Abs. 4 Satz 1 GVG mit Blick auf die beispielhaften
Aufzählungen in der Gesetzesbegründung (BT-Drucks.
17/3802, S. 20) bislang auf solche Fälle beschränkt, in
denen das Verfahren für den jeweiligen Beteiligten keine
besondere Bedeutung haben konnte oder dieser durch sein eigenes
Verhalten erheblich zur Verzögerung beigetragen hat. So hat er
die Feststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer genügen
lassen bei einem unschlüssigen Klagevorbringen (Senatsurteil
in BFHE 240, 516, BStBl II 2013, 547 = SIS 13 14 53, Rz 62), ebenso
bei einer in der Sache nicht begründeten Weigerung, dem Ruhen
des Verfahrens nach § 251 ZPO zuzustimmen (Senatsurteile vom
04.06.2014 - X K 12/13, BFHE 246, 136, BStBl II 2014, 933 = SIS 14 24 92, Rz 38, sowie vom 02.12.2015 - X K 4/14, BFH/NV 2016, 758 =
SIS 16 07 20, Rz 43). Dagegen ist ein Feststellungsausspruch nicht
ausreichend, wenn ein Verfahrensbeteiligter erkennbar an einer
zügigen Entscheidung interessiert ist, das Ausgangsgericht
aber auf die mehrfachen Versuche des Beteiligten, es zu einer
Entscheidung innerhalb angemessener Frist zu bewegen, entweder
nicht reagiert hat oder sich auf Standardantworten beschränkt
und noch nicht einmal einen Zeitpunkt in Aussicht gestellt hat, ab
dem mit einer Verfahrensförderung zu rechnen sei
(Senatsurteile vom 19.03.2014 - X K 8/13, BFHE 244, 521, BStBl II
2014, 584 = SIS 14 15 45, Rz 35; vom 20.08.2014 - X K 9/13, BFHE
247, 1, BStBl II 2015, 33 = SIS 14 25 64, Rz 36).
|
|
|
44
|
(2) Der Gesetzesbegründung ist zu
entnehmen, dass die Feststellung einer unangemessenen
Verfahrensdauer anstelle einer Geldentschädigung auch dann
genügen kann, wenn ein Verfahrensbeteiligter keinen
weitergehenden immateriellen Schaden erlitten hat und die
Überlänge des Verfahrens den einzigen Nachteil darstellt
(BT-Drucks. 17/3802, S. 20). Nach der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) und des BSG kann es darüber
hinaus darauf ankommen, wie lange das Verfahren sich verzögert
hat, ob das Ausgangsverfahren für den Verfahrensbeteiligten
eine besondere Dringlichkeit aufwies oder ob diese inzwischen
entfallen war. Bedeutung erlangen können hiernach auch durch
die überlange Verfahrensdauer erlangten Vorteile, die das
Gewicht der erlittenen Nachteile aufwiegen (BVerwG-Urteile vom
11.07.2013 - 5 C 23/12 D, BVerwGE 147, 146, Rz 57, sowie vom 12.07.2018 - 2 WA 1/17 D, NJW 2019,
320, Rz 36; BSG-Urteil in SozR 4-1720
§ 198 Nr. 18, Rz 40).
|
|
|
45
|
bb) All diese Erwägungen führen
vorliegend nicht dazu, eine Geldentschädigung hinter einer
Wiedergutmachung durch Feststellung der unangemessenen
Verfahrensdauer zurücktreten zu lassen.
|
|
|
46
|
(1) Es liegen keine Anhaltspunkte dafür
vor, dass das Ausgangsverfahren für den Kläger keine
besondere Bedeutung hatte. Vielmehr wäre der Kläger in
der Lage gewesen, im Fall des von ihm begehrten Erlasses der
bereits gezahlten Säumniszuschläge von mehr als 50.000
EUR das von seinem Prozessbevollmächtigten u.a. hierfür
gewährte Darlehen in entsprechender Höhe
zurückzuführen. Ebenso wenig ist für den Senat
ersichtlich und wird vom Beklagten auch nicht behauptet, dass der
Kläger durch sein eigenes Verhalten zur Verzögerung
beigetragen hätte. Die mehrfachen Verzögerungsrügen
- erstmals im Februar 2018 - belegen, dass der Kläger ein
deutliches Interesse an einer zügigen Entscheidung hatte,
zumal die Zinslast für das Darlehen im Ergebnis umso geringer
ausgefallen wäre, je eher er dieses mit den beanspruchten
Mitteln aus dem Erlass der Säumniszuschläge zumindest
teilweise hätte tilgen können. Demzufolge war die
Zügigkeit der Entscheidung des Ausgangsgerichts
durchgängig dringlich.
|
|
|
47
|
(2) Die weitere Erwägung der
Gesetzesbegründung, eine Wiedergutmachung nach § 198 Abs.
4 Satz 1 GVG sei auch in Betracht zu ziehen, wenn der
Verfahrensbeteiligte neben der Überlänge des Verfahrens
keinen weitergehenden immateriellen Nachteil erlitten habe
(BT-Drucks. 17/3802, S. 20), hat nach Ansicht des Senats für
ein finanzgerichtliches Verfahren grundsätzlich keine
Relevanz. Streitgegenstand sind - wie auch im vorliegenden
Ausgangsverfahren - nahezu ausschließlich Steuerzahlungs- und
-vergütungsansprüche im Verhältnis zwischen Staat
und Steuerpflichtigem. Die von der Gesetzesbegründung an
anderer Stelle benannten zusätzlichen Ausprägungen einer
„seelischen Unbill“ (z.B.
körperliche Beeinträchtigungen, Rufschädigungen,
Entfremdungen eines Kindes von einem Elternteil bei einem
unangemessen lang dauernden gerichtlichen Sorgerechtsstreit, vgl.
BT-Drucks. 17/3802, S. 19) stellen sich in einem
finanzgerichtlichen Verfahren typischerweise nicht. Deren Fehlen
kann aber nicht dazu führen, die - allein - aus der
Überlänge des gerichtlichen Verfahrens erwachsenen
immateriellen Nachteile grundsätzlich nur über eine
Feststellung gemäß § 198 Abs. 4 Satz 1 GVG
wiedergutzumachen.
|
|
|
48
|
(3) Gegen eine Wiedergutmachung nach §
198 Abs. 4 Satz 1 GVG spricht vorliegend auch die nicht
unerhebliche Verzögerung des Ausgangsverfahrens von 15
Monaten.
|
|
|
49
|
(4) Die weiteren vom Beklagten
angeführten Umstände rechtfertigen kein anderes Ergebnis.
Zwar besteht zwischen dem vorliegenden Ausgangsverfahren und dem
zuletzt unter dem Aktenzeichen 3 K 362/16 geführten parallelen
Verfahren - neben der Identität der Streitbeteiligten -
insofern ein Zusammenhang, als die Säumniszuschläge,
deren Erlass der Kläger im vorliegenden Ausgangsverfahren
erstrebte, darauf beruhten, dass er fällige Steuerforderungen,
deren Rechtmäßigkeit er im Verfahren 3 K 362/16
bestritt, nicht rechtzeitig beglich. Dieser Zusammenhang ist im
Rahmen einer Gesamtabwägung allerdings ebenso wenig wie der
Umstand, dass der Kläger für die unangemessene Dauer des
letztgenannten Verfahrens bereits entschädigt wurde,
tragfähiger Grund dafür, ihm für die vorliegende
Verfahrensverzögerung eine Geldentschädigung
abzusprechen. Es handelt sich um zwei entschädigungsrechtlich
gesondert zu beurteilende Gerichtsverfahren i.S. von § 198
Abs. 6 Nr. 1 GVG. Ferner muss auch insoweit berücksichtigt
werden, dass das Ausgangsgericht die vom Kläger wiederholt
beantragte Verbindung beider Verfahren nicht vorgenommen hat.
Darüber hinaus besteht im Wesentlichen keine
Deckungsgleichheit hinsichtlich der Zeiträume einer
Verfahrensverzögerung.
|
|
|
50
|
d) Umstände dafür, dass der in
§ 198 Abs. 2 Satz 3 GVG genannte Regelbetrag von 1.200 EUR
für jedes Jahr der Verzögerung unbillig i.S. von Abs. 2
Satz 4 der Vorschrift sein könnte, sind weder von den
Beteiligten vorgetragen worden noch sonst ersichtlich. Obwohl im
Gesetz ein Jahresbetrag genannt ist, ist dieser im konkreten Fall
nach Monaten zu bemessen (Senatsurteil in BFH/NV 2021, 1507 = SIS 21 15 84, Rz 51, m.w.N.).
|
|
|
51
|
3. Dem Kläger stehen ab dem 29.10.2021
(Tag nach der Zustellung der Entschädigungsklage an den
Beklagten) Prozesszinsen unter dem Gesichtspunkt der
Rechtshängigkeit zu (§ 291 i.V.m. § 288 Abs. 1 Satz
2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs, § 66 Satz 2 FGO; vgl.
auch Senatsurteil in BFH/NV 2021, 1507 = SIS 21 15 84, Rz 52,
m.w.N.).
|
|
|
52
|
4. Der Senat hält es für angebracht,
ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid zu
entscheiden (§ 155 Satz 2, § 90a Abs. 1 FGO).
|
|
|
53
|
5. Die Kostenentscheidung beruht auf §
136 Abs. 1 Satz 1 FGO.
|