1
|
I. Der Kläger begehrt eine
Entschädigung wegen der nach seiner Ansicht überlangen
finanzgerichtlichen Verfahrensdauer.
|
|
|
2
|
Der Kläger erzielte im Jahre 2004
Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Er hatte in
seiner Einkommensteuererklärung beantragt,
außergewöhnliche Belastungen in Höhe von 2.381,36
EUR gemäß § 33 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes
(EStG) zu berücksichtigen. Es handelte sich dabei um Kosten
für einen zivilgerichtlichen Rechtsstreit. Dieser hatte eine
zu Lasten seines Eigentums im Grundbuch eingetragene
Grunddienstbarkeit und eine Garage zum Gegenstand. Das Finanzamt
(FA) lehnte die Berücksichtigung dieser Kosten, die zu einer
Steuerminderung von 169 EUR geführt hätten, ab.
|
|
|
3
|
Dagegen richtete sich die am 29.11.2005
beim Hessischen Finanzgericht (FG) eingegangene und am 13.12.2005
dem FA zugestellte Klage, die unter dem Az. 12 K 3545/05
geführt wurde. Das FA beantragte mit einem am 5.1.2006 beim FG
eingegangenen Schriftsatz die Abweisung der Klage, worauf der
Kläger am 10.1.2006 nochmals Stellung nahm. Auf eine
Sachstandsanfrage des Klägers vom 4.9.2006 teilte der
Berichterstatter des FG mit, die Sache stehe noch nicht zur
Entscheidung an. Dem Senat lägen noch zahlreiche ältere
Verfahren vor, die bei der Bearbeitung grundsätzlich Vorrang
hätten.
|
|
|
4
|
Mit Beschluss vom 16.8.2010 wurde der
Rechtsstreit gemäß § 5 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. §
6 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auf den Einzelrichter
übertragen, der mit Verfügung vom 19.8.2010 Termin zur
mündlichen Verhandlung auf den 14.9.2010 anberaumte. Der
Kläger beantragte wegen persönlicher Verhinderung
Aufhebung und Verlegung des Termins und erklärte, ein
mündlicher Verhandlungstermin dürfte
überflüssig sein, weil auf Grund der Verzögerung des
Verfahrens der Klage ohnehin stattzugeben sei. Der Einzelrichter
hob den Termin auf und wies die Klage durch Urteil vom 9.9.2010
gemäß § 94a FGO ohne mündliche Verhandlung ab.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH)
spreche bei Zivilprozesskosten eine Vermutung gegen die
Zwangsläufigkeit. Der Rechtsstreit habe keinen für den
Kläger existentiell wichtigen Bereich betroffen.
|
|
|
5
|
Auf die Beschwerde gegen die Nichtzulassung
der Revision hob der BFH mit Beschluss vom 18.1.2011 VI B 136/10
(BFH/NV 2011, 813 = SIS 11 12 68) das Urteil des FG auf und verwies
die Sache an das FG zurück. Der Kläger habe nur für
den Fall der Stattgabe der Klage wegen der langen Verfahrensdauer
die mündliche Verhandlung für entbehrlich erachtet. Die
Entscheidung gemäß § 94a FGO sei daher eine
Verletzung rechtlichen Gehörs gewesen.
|
|
|
6
|
Im zweiten Rechtsgang wies ein anderer
Senat des FG durch den Einzelrichter die jetzt unter dem Az. 2 K
370/11 geführte Klage in mündlicher Verhandlung vom
12.4.2011 erneut ab. Die der ersten Entscheidung ähnliche
Begründung ergänzte es durch Ausführungen dazu, dass
und warum das Anliegen, auf dem die zivilrechtlichen Streitigkeiten
beruhten, nämlich eine Garage, nicht existentiell sei.
|
|
|
7
|
Auf die erneute Beschwerde des Klägers
ließ der BFH die Revision zu (Az. des Revisionsverfahrens VI
R 39/11) und legte nach Erledigung der Hauptsache durch Beschluss
vom 6.2.2012 die Kosten des gesamten Verfahrens dem FA auf. Das
Urteil des FG war damit gegenstandslos.
|
|
|
8
|
Am 24.5.2012 erhob der Kläger die
vorliegende Entschädigungsklage wegen unangemessen langer
Verfahrensdauer. Die Verfahrensdauer habe allein im ersten
Rechtszug vor dem FG mehr als vier Jahre und neun Kalendermonate
betragen. Dies sei unangemessen.
|
|
|
9
|
Er habe einen Nachteil erlitten, der nicht
Vermögensnachteil sei. In den Jahren nach dem Veranlagungsjahr
2004 seien die gleichen Sachverhalte zu berücksichtigen
gewesen. Er sei zu Abgaben herangezogen worden, die nicht
berechtigt gewesen seien, habe sich mit Rechtsmitteln gegen diese
Steuerbescheide wehren und dazu Korrespondenz schwierigster Art und
Weise führen müssen. Über diese Verfahren sei noch
nicht entschieden.
|
|
|
10
|
Da § 198 Abs. 2 des
Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) in der Fassung des Gesetzes
über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren
und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24.11.2011 (BGBl I
2011, 2302) eine Entschädigung von 1.200 EUR für jedes
Kalenderjahr der Verzögerung vorsehe und die übliche
Verfahrensdauer bei einem FG wohl mit einem Jahr angenommen werden
könne, liege eine Verzögerung von drei Kalenderjahren und
neun Monaten vor. Der Kläger halte daher eine
Entschädigung in Höhe von 4.500 EUR für angemessen
und erforderlich. Er stelle diese in das Ermessen des Gerichts. Sie
sollte jedoch den Betrag von 4.200 EUR nicht
unterschreiten.
|
|
|
11
|
Der Kläger beantragt, es wird
festgestellt, dass das bei dem Hessischen Finanzgericht unter dem
Az. 12 K 3545/05 geführte Verfahren eine überlange
Verfahrensdauer aufweist. Der Beklagte wird verurteilt, eine
Entschädigung nach Maßgabe von § 198 Abs. 2 GVG zu
zahlen, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird,
die aber nicht unter 4.200 EUR betragen sollte.
|
|
|
12
|
Der Beklagte beantragt, die Klage
abzuweisen.
|
|
|
13
|
Die Klage sei zwar zulässig, jedoch
unbegründet. Eine nach den §§ 198 ff. GVG
entschädigungspflichtige Verfahrensverzögerung sei nicht
feststellbar.
|
|
|
14
|
Das zu beurteilende Verfahren sei durch
eine Reihe von Besonderheiten gekennzeichnet. Bei der Beurteilung
von Bedeutung und Schwierigkeit des Verfahrens sei zu beachten,
dass die Frage der Berücksichtigung von Zivilprozesskosten als
außergewöhnliche Belastungen bereits im Zeitpunkt der
Klageerhebung nicht unumstritten gewesen sei. Zwar habe eine
ständige Rechtsprechung des BFH bestanden. Diese habe aber zum
einen eine Würdigung der den geltend gemachten Kosten zu
Grunde liegenden Prozesse erfordert. Sie sei zum anderen bereits
mit rechtlich bedeutsamen Argumenten von namhaften Teilen der
Literatur angegriffen worden. Insoweit habe sich für das FG
die Frage gestellt, ob möglicherweise von der bisherigen
Rechtsprechung des BFH abgewichen werden sollte. Angesichts der
tatsächlich mit Urteil vom 12.5.2011 VI R 42/10 (BFHE 234, 30,
BStBl II 2011, 1015 = SIS 11 22 60) vorgenommenen Änderung der
Rechtsprechung sei dies nicht abwegig.
|
|
|
15
|
Vor diesem Hintergrund habe es sich bei dem
finanzgerichtlichen Klageverfahren trotz Überschaubarkeit des
zu beurteilenden Sachverhalts um einen Fall mit rechtlich durchaus
gehobener Schwierigkeit gehandelt. Dem stehe die Übertragung
auf den Einzelrichter nicht entgegen.
|
|
|
16
|
Die durchschnittliche Dauer
finanzgerichtlicher Klageverfahren, über die zwischen 2007 und
2010 in der Sache selbst durch Urteil oder Gerichtsbescheid
entschieden worden sei, habe etwa 25 Monate betragen (so der
Geschäftsbericht der Finanzgerichte der Bundesrepublik
Deutschland für die Jahre 2009 und 2010, EFG 2011, 1578).
Danach erscheine der im Streitfall zwischen der Klageerhebung und
dem Ergehen des ersten Urteils am 9.9.2010 verstrichene Zeitraum
von vier Jahren und neun Monaten als grenzwertig, aber noch
angemessen.
|
|
|
17
|
Wenn überhaupt eine unangemessene
Verfahrensdauer angenommen werden könne, komme eine
Entschädigung wegen eines - ohnehin unstreitig nicht als
Vermögensnachteil zu qualifizierenden - Nachteils nicht in
Betracht. Hinsichtlich der Folgejahre sei keine erhebliche
Benachteiligung erkennbar. Da insoweit eine identische Streitfrage
vorliege, habe sich der Kläger dabei im Wesentlichen auf einen
Hinweis auf bisheriges Vorbringen oder bisherige Schriftsätze
beschränken können. Ein nennenswerter zeitlicher
Mehraufwand im Rechtsbehelfsverfahren sei nicht erkennbar, zumal er
selbst vorgetragen habe, dass hinsichtlich der Folgejahre die
Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung über das
im Jahre 2005 begonnene Verfahren ausgesetzt worden seien.
|
|
|
18
|
Danach erscheine eine etwaige Feststellung
der Unangemessenheit der Verfahrensdauer zur Wiedergutmachung
ausreichend und eine Entschädigung nicht geboten.
|
|
|
19
|
Zudem sei die begehrte Höhe der
Entschädigung in Anbetracht der Umstände des Falles
unbillig. Der Kläger habe mit der Klage lediglich eine
Einkommensteuerminderung von 169 EUR begehrt. Erst durch die
relativ späte Entscheidung des Gerichts sei ihm die
Rechtsprechungsänderung des BFH zugutegekommen.
|
|
|
20
|
II. Die Klage ist unbegründet. Der
Kläger hat weder einen Anspruch auf Feststellung einer
unangemessenen Verfahrensdauer noch auf Entschädigung.
|
|
|
21
|
a) Nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG wird, wer
infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als
Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, angemessen
entschädigt. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet
sich gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG nach den
Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der
Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten
der Verfahrensbeteiligten und Dritter.
|
|
|
22
|
Nach § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG wird ein
Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, vermutet, wenn ein
Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Nach § 198
Abs. 2 Satz 2 GVG kann Entschädigung hierfür nur
beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des
Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß
Abs. 4 ausreichend ist.
|
|
|
23
|
Nach § 198 Abs. 4 Satz 1 GVG ist
Wiedergutmachung auf andere Weise insbesondere möglich durch
die Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die
Verfahrensdauer unangemessen war, nach Satz 2 auch ohne Antrag.
Nach § 198 Abs. 4 Satz 3 GVG kann sie in schwerwiegenden
Fällen neben der Entschädigung ausgesprochen werden;
ebenso kann sie ausgesprochen werden, wenn eine oder mehrere
Voraussetzungen des Abs. 3 nicht erfüllt sind.
|
|
|
24
|
b) Es kann dahinstehen, ob das Verfahren des
FG unangemessen lang war. Der Kläger hat hierdurch jedenfalls
keinen Nachteil i.S. von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG erlitten. Ein
solcher kann auch nicht nach § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG vermutet
werden. Die Vermutung ist widerleglich (aa) und im vorliegenden
Falle widerlegt (bb). Die Wiedergutmachung, gleich, ob durch
Feststellung unangemessener Verfahrensdauer oder durch
Entschädigung, setzt zwingend einen Nachteil voraus (cc).
|
|
|
25
|
aa) Der Anspruch auf Entschädigung
und/oder Feststellung unangemessener Verfahrensdauer setzt nach
§ 198 Abs. 1 Satz 1 GVG einen auf der unangemessenen Dauer
eines Gerichtsverfahrens beruhenden Nachteil voraus. Ein Nachteil,
der nicht Vermögensnachteil ist, wird nach § 198 Abs. 2
Satz 1 GVG im Falle unangemessener Dauer vermutet.
|
|
|
26
|
aaa) Diese Vermutung ist schon nach dem
Wortlaut der genannten Vorschriften nicht unwiderleglich (vgl.
Gesetzentwurf der Bundesregierung BTDrucks 17/3802, S. 19). Von
einem wiedergutmachungspflichtigen Nachteil ist demnach nicht
auszugehen, wenn (sicher) festgestellt werden kann, dass die (ggf.
unangemessene) Verfahrensdauer nicht zu einem Nachteil geführt
hat, sei es, dass kein Nachteil vorliegt, sei es, dass kein
Kausalzusammenhang zwischen Verfahrensdauer und Nachteil
vorliegt.
|
|
|
27
|
bbb) Die Vermutung des auf der Verfahrensdauer
beruhenden Nachteils ist insbesondere dann widerlegt, wenn (sicher)
festgestellt werden kann, dass die Verfahrensdauer für den
betreffenden Verfahrensbeteiligten - abgesehen von der Dauer selbst
- ausschließlich von erheblichem Vorteil war.
|
|
|
28
|
Die Prüfung, ob die Verfahrensdauer zu
einem Nachteil geführt hat, setzt eine Gesamtbewertung der
Folgen voraus, die die Verfahrensdauer mit sich gebracht hat. Die
der langen Verfahrensdauer immanente Ungewissheit über den
Verfahrensausgang mit der ihr eigenen Belastung für den
rechtsschutzsuchenden Bürger kann für sich allein nicht
dazu führen, dass ungeachtet sonstiger Folgen der
Verfahrensdauer stets von einem Nachteil von § 198 Abs. 1 Satz
1 GVG auszugehen wäre. Da der der überlangen
Verfahrensdauer immanente Nachteil der langen Ungewissheit unter
der Voraussetzung überlanger Verfahrensdauer
naturgemäß ausnahmslos vorliegt, würde mit einer
derartigen Schlussfolgerung die widerlegliche Nachteilsvermutung
tatsächlich zu einer unwiderleglichen Vermutung, was der
Konzeption des Gesetzes nicht entspricht.
|
|
|
29
|
bb) Die lange Verfahrensdauer hat dem
Kläger - abgesehen von der langen Ungewissheit über den
Verfahrensausgang - ausschließlich gewichtige Vorteile
verschafft. Bei dieser Sachlage ist die Nachteilsvermutung als
widerlegt anzusehen.
|
|
|
30
|
aaa) Der im Ergebnis für den Kläger
positive Ausgang des gesamten Rechtsstreits - die Anerkennung der
Zivilprozesskosten als außergewöhnliche Belastung - ist
nur durch die lange Verfahrensdauer bei dem FG ermöglicht
worden.
|
|
|
31
|
Dieser Vorteil hebt zwar für sich
genommen den Nachteil der langen Ungewissheit noch nicht auf. Die
Ungewissheit ist eine grundsätzlich vom Ausgang des jeweiligen
Prozesses unabhängige Belastung. Der Kläger aber hat den
Vorteil, den Rechtsstreit gewonnen zu haben, ausschließlich
deswegen erreicht und erreichen können, weil das Verfahren so
lange gedauert hat. Hätte das FG auch nur geringfügig
früher entschieden, hätte er den Rechtsstreit verloren.
Im konkreten Fall wird der aus der überlangen Verfahrensdauer
folgende Nachteil ausnahmsweise durch die dem Kläger
zugutekommende - erst während der überlangen
Verfahrensdauer eingetretene - Rechtsprechungsänderung
ausgeglichen und kompensiert.
|
|
|
32
|
(1) Bis zum Jahre 2011 - und damit auch noch
zum Zeitpunkt der erstmaligen Entscheidung des FG am 9.9.2010 - war
nach ständiger Rechtsprechung des BFH davon auszugehen, dass
die Kosten eines Zivilprozesses grundsätzlich nicht
zwangsläufig waren.
|
|
|
33
|
Derartige Kosten galten nur dann als
zwangsläufig, wenn der Prozess existentiell wichtige Bereiche
oder den Kernbereich menschlichen Lebens berühre, der
Steuerpflichtige ohne den Rechtsstreit Gefahr laufe, seine
Existenzgrundlage zu verlieren und seine lebensnotwendigen
Bedürfnisse in dem üblichen Rahmen nicht mehr befriedigen
zu können (vgl. die Zusammenfassung der bisherigen
Rechtsprechung in dem BFH-Urteil in BFHE 234, 30, BStBl II 2011,
1015 = SIS 11 22 60, unter II.1.b).
|
|
|
34
|
Die jüngste in BFHE 234, 30, BStBl II
2011, 1015 = SIS 11 22 60 für diese Rechtsgrundsätze
zitierte Entscheidung des BFH datierte aus dem Jahre 2008 (Urteil
vom 27.8.2008 III R 50/06, BFH/NV 2009, 553 = SIS 09 08 88). Der
VI. Senat hat noch in einem Beschluss über eine Beschwerde
gegen die Nichtzulassung der Revision vom 11.1.2011 VI B 60/10
(BFH/NV 2011, 876 = SIS 11 12 47) auf diese Rechtsprechung Bezug
genommen, ohne sie in Frage zu stellen.
|
|
|
35
|
Nach diesen Grundsätzen hätte die
Klage des Klägers im Ausgangsverfahren keinen Erfolg haben
können, wenn über sie innerhalb desjenigen Zeitraums
entschieden worden wäre, den der Kläger als noch
angemessene Verfahrensdauer ansieht.
|
|
|
36
|
(2) Erst mit der Entscheidung in BFHE 234, 30,
BStBl II 2011, 1015 = SIS 11 22 60 im Mai 2011 änderte der BFH
seine Rechtsprechung und erkannte Zivilprozesskosten als
außergewöhnliche Belastungen i.S. von § 33 EStG
über die bisherigen Grundsätze hinaus auch dann an, wenn
der Steuerpflichtige den Zivilprozess unter verständiger
Würdigung des Für und Wider einschließlich des
Kostenrisikos eingegangen war, mithin (nur) dann nicht, wenn die
beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung aus Sicht
eines verständigen Dritten keine hinreichende Aussicht auf
Erfolg bot.
|
|
|
37
|
Nach diesen geänderten
Rechtsprechungsgrundsätzen war dem Begehren des Klägers
zu folgen. Die geänderte Rechtsprechung war aber noch nicht
einmal zum Zeitpunkt der Entscheidung des FG im zweiten Rechtsgang
am 12.4.2011 bekannt. Erst im nachfolgenden Rechtsmittelverfahren
konnte das Begehren des Klägers letztlich Erfolg haben.
|
|
|
38
|
(3) Zwar kann theoretisch nicht ausgeschlossen
werden, dass der Kläger bei einer früheren Entscheidung
des FG seinerseits die tatsächlich dann im Mai 2011
eingetretene Rechtsprechungsänderung erwirkt hätte. Dies
ist allerdings eine nicht belegbare Hypothese. Eine positive
Feststellung zu der Frage, wie sich das Ausgangsverfahren unter
anderen Bedingungen entwickelt hätte, ist nicht möglich.
Für die Frage, wie sich die lange Verfahrensdauer ausgewirkt
hat, ist der tatsächliche und nicht ein auf einer Fiktion
beruhender hypothetischer Kausalverlauf maßgebend (ebenso zur
Haftung nach §§ 69 ff. der Abgabenordnung, Urteile des
BFH vom 5.6.2007 VII R 65/05, BFHE 217, 233, BStBl II 2008, 273 =
SIS 07 31 56; vom 4.12.2007 VII R 18/06, BFH/NV 2008, 521 = SIS 08 13 84; vom 11.11.2008 VII R 19/08,
BFHE 223, 303, BStBl II 2009, 342 = SIS 09 06 84).
|
|
|
39
|
(4) Ob der Streitfall anders zu beurteilen
sein könnte, wenn die Verfahrensdauer in den Bereich der sog.
absoluten Überlänge hineinragen würde, ist
vorliegend nicht zu entscheiden, da diese Grenze jedenfalls nicht
erreicht ist (vgl. hierzu Senatsurteil vom 7.11.2013 X K 13/12 =
SIS 13 32 59, unter II.2.c bb,
www.bundesfinanzhof.de/entscheidungen, Datum der
Veröffentlichung: 11.12.2013).
|
|
|
40
|
bbb) Sonstige Nachteile hat der Kläger
durch die lange Verfahrensdauer nicht erlitten.
|
|
|
41
|
Wenn er meint, die lange Verfahrensdauer habe
ihn auch in den Folgejahren in Rechtsbehelfe getrieben, die ihn
belastet hätten, ist dies unschlüssig. Soweit diese
Veranlagungen mit Rücksicht auf den anhängigen
Rechtsstreit des Jahres 2004 über Jahre hinweg nicht
bestandskräftig wurden, war das ebenso wie die lange
Verfahrensdauer hinsichtlich des Jahres 2004 für den
Kläger nur von Vorteil. Nur so konnte er auch für die
Folgejahre den Nutzen aus der Änderung der Rechtsprechung
ziehen. Hätte das FG im Sinne der damaligen Rechtsprechung
zügig entschieden, hätte ihm dies die Rechtsbehelfe in
den Folgejahren gerade nicht erspart, sondern er hätte auch
dort den Streit in der Sache endgültig verloren.
|
|
|
42
|
cc) Hat der Verfahrensbeteiligte infolge der
Dauer eines Gerichtsverfahrens keinen Nachteil erlitten, findet
eine Wiedergutmachung weder durch Feststellung unangemessener
Verfahrensdauer noch durch Entschädigung statt. Nach §
198 Abs. 1 Satz 1 GVG ist ein - ggf. nach § 198 Abs. 2 Satz 1
GVG vermuteter - Nachteil zwingende Voraussetzung der
Entschädigung.
|
|
|