Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil
des Finanzgerichts Düsseldorf vom 21.10.2021 - 9 K 1517/20 E
aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht
Düsseldorf zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung
zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die
Kosten des Verfahrens übertragen.
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I. Die Kläger, Revisionsbeklagten und
Revisionskläger (Kläger) wohnen in der Bundesrepublik
Deutschland (Deutschland) und wurden im Streitjahr 2018 zur
Einkommensteuer zusammenveranlagt. Der Kläger war im Inland
nichtselbständig tätig und bezog Arbeitslohn in Höhe
von 32.851 EUR. Die Klägerin arbeitete als selbständige
Hebamme in den Niederlanden und erzielte aus dieser Tätigkeit
einen (nach deutschem Recht ermittelten) Gewinn von 30.267 EUR. Sie
hatte den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) zufolge in den
Niederlanden neben einem einkommensunabhängigen gesetzlichen
Basisbeitrag zur Krankenversicherung (sogenannte Kopfpauschale) in
Höhe von 1.352 EUR weitere einkommensabhängige
Sozialversicherungsbeiträge geleistet, und zwar 6.084 EUR zur
Rentenversicherung, 3.113 EUR zur Pflegeversicherung sowie 1.120
EUR zur Krankenversicherung.
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Ebenfalls nach den Feststellungen des FG
unterlag der von der Klägerin erzielte Gewinn in den
Niederlanden nach Berücksichtigung von Grundfreibeträgen
und der wegen der Lebens- und Einkommenssituation der Klägerin
insgesamt höheren „Heffingskorting“
(Steuerabzug für die persönlichen Verhältnisse) in
Höhe von 7.460 EUR keiner Einkommensteuerbelastung.
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Der Beklagte, Revisionskläger und
Revisionsbeklagte (Finanzamt - FA - ) berücksichtigte den
Gewinn der Klägerin bei der Ermittlung der Einkünfte
nicht, erfasste ihn aber im Rahmen des Progressionsvorbehalts. Die
Beiträge zur niederländischen Sozialversicherung hingegen
blieben sowohl bei der Ermittlung des Einkommens als auch bei der
Höhe des Progressionsvorbehalts unberücksichtigt.
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Die dagegen gerichtete Klage hatte
teilweise Erfolg (EFG 2023, 127). Das FG entschied, das FA habe
zwar zu Recht die in den Niederlanden gezahlten
einkommensabhängigen Vorsorgeaufwendungen (Renten- und
Pflegeversicherungsbeiträge sowie Beiträge zur
Zusatzversicherung zur Krankenversicherung) nicht als
Sonderausgaben berücksichtigt und diese minderten auch nicht
die im Rahmen des Progressionsvorbehalts anzusetzenden steuerfreien
Einkünfte. Allerdings sei eine Berücksichtigung der
einkommensunabhängigen Beiträge zur niederländischen
Krankenversicherung, der sogenannten Kopfpauschale, europarechtlich
geboten; denn § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 des
Einkommensteuergesetzes (EStG) müsse bei einem unmittelbaren
Zusammenhang der Vorsorgeaufwendungen mit Einnahmen aus
selbständiger Arbeit jedenfalls dann sinngemäß
angewendet werden, wenn - wie im Streitfall - Selbständige
ebenso wie Nichtselbständige Pflichtbeiträge in ein
Sozialversicherungssystem zu leisten hätten. Dies ergebe sich
unmittelbar aus der europarechtlichen Niederlassungsfreiheit (Art.
49 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen
Union - AEUV - ) und der Rechtsprechung des Gerichtshofs der
Europäischen Union (EuGH), insbesondere aus dem EuGH-Urteil
Bechtel vom 22.06.2017 - C-20/16 (EU:C:2017:488, BStBl II 2017,
1271 = SIS 17 14 35).
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Dagegen wendet sich das FA mit seiner
Revision. Da die von der Klägerin in den Niederlanden
erzielten Einnahmen in Deutschland steuerfrei gewesen seien,
dürften die in den Niederlanden geleisteten
Versicherungsbeiträge gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1
Nr. 1 Teilsatz 1 EStG in Deutschland insgesamt nicht
berücksichtigt werden; denn sowohl die
einkommensabhängigen Versorgungsbeiträge als auch die
sogenannte Kopfpauschale stünden in unmittelbarem
wirtschaftlichen Zusammenhang mit den steuerfreien Einnahmen der
Klägerin. Ausgenommen von diesem Abzugsverbot seien
gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. a
EStG nur Einnahmen aus nichtselbständiger Tätigkeit, die
die Klägerin aber unstreitig nicht erzielt habe. Der Wortlaut
dieser Regelung sei eindeutig. Es liege auch keine
Regelungslücke vor, die eine entsprechende Anwendung
rechtfertigen würde. Es sei davon auszugehen, dass der
Gesetzgeber bewusst aufgrund der Arbeitnehmerfreizügigkeit
gemäß Art. 45 AEUV in der Europäischen Union (EU)
nur Nichtselbständige habe begünstigen wollen.
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Ungeachtet dessen setze die
Ausnahmeregelung gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1
Teilsatz 2 Buchst. c EStG außerdem voraus, dass der
Beschäftigungsstaat im Rahmen der dortigen Besteuerung der
Einnahmen keinerlei steuerliche Berücksichtigung von
Vorsorgeaufwendungen zulasse. Diese Voraussetzung sei hier nicht
erfüllt; denn nach den Feststellungen des FG sei in den
Niederlanden zumindest ein Teil der Vorsorgeaufwendungen der
Klägerin im Rahmen der Heffingskorting steuerlich
berücksichtigt worden. Dies betreffe vorliegend sogar
Vorsorgeaufwendungen derselben Sparte (Krankenversicherung). Dass
die in den Niederlanden geleisteten Vorsorgeaufwendungen in
Deutschland nicht berücksichtigt werden könnten,
verstoße somit auch nicht gegen die
Niederlassungsfreiheit.
Denn nach ständiger Rechtsprechung sei ein solcher Ausschluss
unter dem Gesichtspunkt der zu wahrenden Aufteilung der
Besteuerungsbefugnisse unionsrechtlich gerechtfertigt und damit
zulässig, wenn im Falle einer grenzüberschreitenden
Erwerbstätigkeit der Beschäftigungsstaat
Vergünstigungen, die die persönliche und familiäre
Situation des Erwerbstätigen beträfen, auf freiwilliger
Basis gewähre und dadurch die gesamte persönliche und
familiäre Situation des Steuerpflichtigen „im Ganzen
gebührend“ berücksichtigt werde
(Hinweis auf Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 13.04.2021 - I
R 19/19, BFH/NV 2021, 1357 = SIS 21 14 38, Rz 19). Diese
Voraussetzung sei im Streitfall erfüllt; der Großteil
des Vorsorgeaufwands der Klägerin habe Eingang in die
niederländische Steuerermittlung gefunden. Die
Berücksichtigung sei auch nicht so geringfügig, dass aus
unionsrechtlichen Gründen der Sonderausgabenabzug in
Deutschland geboten sei (Hinweis auf Senatsurteil vom 05.11.2019 -
X R 23/17, BFHE 267, 34, BStBl II 2020, 763 = SIS 20 03 39, Rz
56).
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Das FA beantragt,
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das angefochtene Urteil aufzuheben und die
Klage vollumfänglich abzuweisen.
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Die Kläger haben in Bezug auf die
Revision des FA keinen Antrag gestellt.
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Mit ihrer eigenen Revision machen die
Kläger geltend, auch die einkommensabhängigen
Vorsorgeaufwendungen seien als Sonderausgaben zu
berücksichtigen. Zum einen stelle die Heffingskorting schon
keine steuerliche Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen
dar; denn die sich daraus in Form eines Steuerabzugs ergebende
Kürzung stehe weder dem Grunde noch der Höhe nach in
einem Zusammenhang mit den tatsächlich gezahlten
Sozialversicherungsbeiträgen. Zum andern sei die
Bundesrepublik Deutschland in dem mit dem Königreich der
Niederlande geschlossenen Abkommen zur Vermeidung der
Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung
auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen vom 12.04.2012 (BGBl II
2012, 1415) in der Fassung des Änderungsprotokolls vom
11.01.2016 (BGBl II 2016, 868 - DBA-Niederlande 2012 - ) von ihrer
Verpflichtung zur vollständigen Berücksichtigung der
persönlichen und familiären Situation der
Steuerpflichtigen, die in Deutschland wohnten und ihre
wirtschaftliche Betätigung in den Niederlanden ausübten,
nicht entbunden worden. Daher werde selbst eine
Doppelberücksichtigung von Vergünstigungen - die im
Streitfall allerdings nicht vorläge - rechtlich nicht
ausgeschlossen. Darüber hinaus sei das DBA-Niederlande 2012
mit Wirkung zum 01.01.2016 im Hinblick auf die Besteuerung von
Alterseinkünften gravierend geändert worden. Mit Ausnahme
beamtenrechtlicher Bezüge sei das Besteuerungsrecht für
sämtliche Alterseinkünfte dem Wohnsitzstaat zugeordnet
worden. Für den Streitfall bedeute dies, dass die durch die
Rentenversicherungsbeiträge erworbenen Ansprüche der
Klägerin in der Auszahlungsphase im Wohnsitzstaat Deutschland
nachgelagert besteuert würden. Allein daraus müsse sich
schon ein Abzug der geleisteten Beiträge ergeben.
Schließlich sei darauf hinzuweisen, dass sich das FG nicht
mit dem niederländischen Steuersystem auseinandergesetzt
habe.
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Die Kläger beantragen
(sinngemäß),
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das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit
damit die Klage abgewiesen worden ist, und den geänderten
Einkommensteuerbescheid für 2018 vom 06.05.2020 in Gestalt der
Einspruchsentscheidung vom 19.05.2020 dahingehend zu ändern,
dass weitere Sonderausgaben in Höhe von 11.669 EUR abgezogen
werden.
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11
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Das FA tritt dem entgegen und ist der
Auffassung, es fehle jedenfalls an der in § 10 Abs. 2 Satz 1
Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. c EStG genannten Voraussetzung, da das FG
bindend festgestellt habe, dass die Heffingskorting eine
steuerliche Berücksichtigung der einkommensabhängigen
Sozialversicherungsbeiträge darstelle. Dies betreffe die
(einkommensabhängigen) Beiträge der Klägerin zur
niederländischen Rentenversicherung, Krankenversicherung (ohne
sogenannte Kopfpauschale) und Pflegeversicherung. Ebenfalls bindend
festgestellt habe das FG, dass die sogenannte Kopfpauschale in den
Niederlanden steuerlich nicht berücksichtigt werde. Da jedoch
der Großteil des Vorsorgeaufwands Eingang in die
niederländische Steuerermittlung gefunden habe und dabei auch
sämtliche Sparten von Vorsorgeaufwendungen steuerlich
berücksichtigt worden seien, sei eine
staatenübergreifende Berücksichtigung der streitigen
Beträge in Deutschland als Wohnsitzstaat auch unionsrechtlich
nicht geboten.
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II. Die Revisionen des FA und der Kläger
sind begründet. Sie führen zur Aufhebung der
Vorentscheidung und Zurückverweisung der Sache an das FG zur
anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2
der Finanzgerichtsordnung - FGO - ).
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13
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Ob der Abzug der streitigen
Vorsorgeaufwendungen nach § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG
ausgeschlossen ist, lässt sich anhand der Feststellungen des
FG nicht beurteilen.
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1. Gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1
Nr. 1 Teilsatz 1 EStG ist Voraussetzung für den Abzug der in
§ 10 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 3a EStG bezeichneten Beträge
(Vorsorgeaufwendungen), dass sie nicht in unmittelbarem
wirtschaftlichen Zusammenhang mit steuerfreien Einnahmen stehen.
Durch diese Regelung soll ein ansonsten eintretender doppelter
steuerlicher Vorteil vermieden werden (Senatsurteile vom 05.11.2019
- X R 23/17, BFHE 267, 34, BStBl II 2020, 763 = SIS 20 03 39, Rz 15
sowie vom 27.10.2021 - X R 11/20, BFHE 275, 52 = SIS 22 02 75, Rz
16 und vom 14.12.2022 - X R 25/21, DStR 2023, 927 = SIS 23 06 48,
Rz 20; BFH-Beschluss vom 22.02.2023 - I R 55/20, BFH/NV 2023, 801 =
SIS 23 06 83; Kulosa in Herrmann/Heuer/Raupach - HHR -, § 10
EStG Rz 303; Schmidt/Krüger, EStG, 42. Aufl., § 10 Rz
136).
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15
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Gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1
Teilsatz 2 EStG sind ungeachtet dessen die genannten
Vorsorgeaufwendungen zu berücksichtigen, soweit sie in
unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang mit in einem
Mitgliedstaat der EU oder einem Vertragsstaat des Abkommens
über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) oder in der
Schweizerischen Eidgenossenschaft erzielten Einnahmen aus
nichtselbständiger Tätigkeit stehen (Buchst. a), diese
Einnahmen nach einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung
im Inland steuerfrei sind (Buchst. b) und der
Beschäftigungsstaat keinerlei steuerliche
Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen im Rahmen der
Besteuerung dieser Einnahmen zulässt (Buchst. c). Diese
Regelungen sind gemäß § 52 Abs. 18 Satz 4 EStG
i.d.F. des Gesetzes zur Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen
beim Handel mit Waren im Internet und zur Änderung weiterer
steuerlicher Vorschriften vom 11.12.2018 (BGBl I 2018, 2338, BStBl
I 2018, 1377) auf alle „offenen
Fälle“ anzuwenden.
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2. Im vorliegenden Streitfall kann schon nicht
festgestellt werden, ob es sich bei den von der Klägerin in
den Niederlanden geleisteten streitigen Beiträgen
tatsächlich um Vorsorgeaufwendungen im Sinne von § 10
Abs. 1 Nr. 2, 3 und 3a EStG handelt und in welcher Höhe
gegebenenfalls entsprechende Beiträge geleistet worden
sind.
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a) Zwar hat das FG ausgeführt, die
Klägerin habe „sowohl einkommensabhängige
Beiträge zur Renten- und Pflegeversicherung ... und zur
Krankenversicherung als auch den gesetzlichen Basisbeitrag zur
Krankenversicherung“ geleistet. Zudem geht das
FG offenbar davon aus, dass es sich hierbei um Beiträge im
Sinne von § 10 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 3a EStG gehandelt hat.
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Allerdings lässt sich dem angefochtenen
Urteil nicht entnehmen, auf welcher tatsächlichen Grundlage
und nach welchen rechtlichen Bestimmungen das FG zu diesem Schluss
gelangt ist. Die vom FG genannten Zahlungen lassen sich weder dem
Grunde nach den jeweiligen Versicherungen zuordnen noch der
Höhe nach nachvollziehen. Entsprechende Ausführungen
finden sich in dem angefochtenen Urteil nicht. Die dem Senat
vorliegenden Akten enthalten auch keine Abrechnungen oder Belege,
aus denen sich entsprechende Zahlungen in der vom FG angenommenen
Höhe ergeben würden.
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b) Es genügt nicht, dass die Beteiligten
selbst übereinstimmend von entsprechenden Zahlungen
ausgegangen sind und die diesbezüglichen Feststellungen des FG
demgemäß auch nicht angegriffen haben.
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aa) Gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1
FGO erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen.
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Umfang und Intensität der dabei
anzustellenden Ermittlungen können zwar einerseits auch vom
Vortrag und Verhalten der Beteiligten abhängen. Insbesondere
ist das FG nicht verpflichtet, einen zwischen den Beteiligten nicht
streitigen Sachverhalt ohne bestimmten Anlass zu erforschen (vgl.
BFH-Urteil vom 25.02.2015 - XI R 15/14, BFHE 249, 343, BStBl II
2023, 514 = SIS 15 06 40, Rz 85; BFH-Beschluss vom 22.08.2006 - I B
21/06, BFH/NV 2007, 10 = SIS 06 47 90, unter 1.a).
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22
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Andererseits rechtfertigt jedoch allein der
Umstand, dass das FA dem Vortrag eines Steuerpflichtigen nicht
entgegengetreten ist, für sich genommen nicht, auf weitere
Sachverhaltsaufklärung zu verzichten; § 138 Abs. 3 der
Zivilprozessordnung (ZPO) gilt im finanzgerichtlichen Verfahren
nicht. Insbesondere dann, wenn sich in Bezug auf
entscheidungserhebliche Tatsachen Zweifel ergeben, kann und muss
das FG diesen daher auch dann nachgehen, wenn die Beteiligten
darüber nicht streiten (vgl. Senatsurteil vom 17.05.1995 - X R
185/93, BFH/NV 1995, 1076, unter 1. und Senatsbeschluss vom
28.09.2011 - X B 35/11, BFH/NV 2012, 177 = SIS 12 00 19, Rz 10;
ebenso BFH-Urteil vom 25.02.2015 - XI R 15/14, BFHE 249, 343, BStBl
II 2023, 514 = SIS 15 06 40, Rz 84; BFH-Beschluss vom 22.08.2006 -
V B 59/04, BFH/NV 2007, 116 = SIS 06 48 77).
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bb) Im vorliegenden Streitfall ergeben sich in
Bezug auf die streitigen Vorsorgeaufwendungen schon deshalb
Zweifel, weil sich die von den Klägern geltend gemachten
Beträge nicht den Beträgen, die sich aus den vorgelegten
Bescheiden des niederländischen Belastingdienstes (Bl. 58 f.
und Bl. 60 f. der FG-Akte) ergeben, zuordnen lassen.
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Die dem FG gegebene Auskunft des FA, die in
dem niederländischen Steuerbescheid aufgeführten
Beträge entsprächen „den tatsächlichen
Beiträgen ohne Anwendung des von der Finanzverwaltung im
Hinblick auf die Heffingskorting entwickelten
Tools“ (s. Telefonvermerk vom 08.10.2021 - Bl.
71 der FG-Akte), lässt sich so ebenfalls nicht nachvollziehen.
Einen Nachweis über die „tatsächlichen
Beiträge“ haben die Kläger offenbar
nicht vorgelegt. Welche Modifikationen das genannte
„Tool“ vornimmt und warum eine solche
notwendig ist beziehungsweise ob die sich daraus ergebenden
Beträge zutreffend sind, hätte vom FG aufgeklärt
werden müssen. Dies gilt vor allem vor dem Hintergrund, dass
es aus Sicht des FA auf einen Nachweis der geltend gemachten
Beträge nicht ankam, da vom Rechtsstandpunkt des FA aus die
Beträge insgesamt nicht zu berücksichtigen sind.
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3. Im Streitfall kann die Frage, ob es sich
bei den von der Klägerin in den Niederlanden geleisteten
streitigen Beiträgen um Vorsorgeaufwendungen im Sinne von
§ 10 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 3a EStG handelt und in welcher
Höhe - gegebenenfalls - entsprechende Beiträge geleistet
worden sind, nicht dahingestellt bleiben. Denn eine
Berücksichtigung als Sonderausgaben ist entgegen der
Auffassung des FA nicht schon von vornherein nach § 10 Abs. 2
Satz 1 Nr. 1 EStG ausgeschlossen.
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Zwar handelt es sich bei den Beiträgen -
gegebenenfalls - um Vorsorgeaufwendungen, die in unmittelbarem
wirtschaftlichen Zusammenhang mit steuerfreien Einnahmen
gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 1 EStG
stehen (unter a). Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass
diese Vorsorgeaufwendungen gleichwohl gemäß § 10
Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 EStG zu berücksichtigen sind
(unter b).
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a) Die von der Klägerin geltend gemachten
Vorsorgeaufwendungen stehen - gegebenenfalls - in unmittelbarem
wirtschaftlichen Zusammenhang mit steuerfreien Einnahmen
gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 1 EStG.
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aa) Ein solcher Zusammenhang ist immer dann
anzunehmen, wenn die Einnahmen und die Aufwendungen durch dasselbe
Ereignis veranlasst sind. Diese Voraussetzung wiederum ist
erfüllt, wenn ein Steuerpflichtiger steuerfreie Einnahmen
erzielt und dieser Tatbestand gleichzeitig Pflichtbeiträge an
einen Sozialversicherungsträger auslöst; in diesem Fall
geht die Steuerbefreiung dem Sonderausgabenabzug vor. Die mit der
Verausgabung der Pflichtbeiträge verbundene Minderung der
Leistungsfähigkeit wird bereits durch den Bezug der
steuerfreien Einnahmen aufgefangen (Senatsurteile vom 05.11.2019 -
X R 23/17, BFHE 267, 34, BStBl II 2020, 763 = SIS 20 03 39, Rz 15
und vom 18.04.2012 - X R 62/09, BFHE 237, 434, BStBl II 2012, 721 =
SIS 12 19 47, Rz 17, m.w.N.). Ein doppelter steuerlicher Vorteil -
also Steuerbefreiung und Sonderausgabenabzug - soll ausgeschlossen
werden (BFH-Beschluss vom 22.02.2023 - I R 55/20, BFH/NV 2023, 801
= SIS 23 06 83, Rz 10, m.w.N.).
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Eine solche Konstellation ist nach der
Senatsrechtsprechung unter anderem dann gegeben, wenn
grundsätzlich abzugsfähige Vorsorgeaufwendungen auf
Einnahmen beruhen, die im Inland aufgrund eines
Doppelbesteuerungsabkommens steuerfrei gestellt werden, und zwar -
entgegen der Ansicht der Kläger - unabhängig davon, ob
die künftigen Leistungen aus einer Rentenversicherung im
Inland steuerpflichtig sind (Senatsurteile vom 14.12.2022 - X R
25/21, DStR 2023, 927 = SIS 23 06 48, Rz 24 und vom 05.11.2019 - X
R 23/17, BFHE 267, 34, BStBl II 2020, 763 = SIS 20 03 39, Rz 16,
jeweils m.w.N.).
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bb) Ob hier die streitigen Aufwendungen im
unmittelbaren wirtschaftlichen Zusammenhang mit den Einnahmen der
Klägerin aus ihrer in den Niederlanden ausgeübten
Tätigkeit als selbständige Hebamme stehen und ob diese
Einnahmen gemäß Art. 7 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 Buchst. g
DBA-Niederlande 2012 im Inland steuerfrei sind, kann der Senat
allerdings gegenwärtig nicht entscheiden. Denn das FG hat auch
insoweit keine Feststellungen getroffen, die es erlauben
würden, hierzu eine rechtliche Einordnung vorzunehmen
beziehungsweise die von dem FG vorgenommene Einordnung
nachzuvollziehen. Es ist bereits nicht festgestellt worden, in
welcher Weise die Klägerin ihre Tätigkeit als
selbständige Hebamme in den Niederlanden ausgeübt hat;
vor allem aber geht aus dem angefochtenen Urteil nicht hervor, nach
welchen (niederländischen) Vorschriften die von der
Klägerin erzielten Einkünfte Pflichtbeiträge zum
niederländischen Sozialversicherungssystem ausgelöst
haben. Auf welcher Grundlage das FG annimmt, dass ein solcher
Zusammenhang „offenkundig“ sei, kann der
erkennende Senat wiederum nicht nachvollziehen.
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b) Auch wenn man - mit den Beteiligten und mit
dem FG - davon ausgeht, dass die streitigen Vorsorgeaufwendungen in
einem unmittelbaren wirtschaftlichen Zusammenhang mit steuerfreien
Einnahmen der Klägerin stehen, kann nicht von vornherein
ausgeschlossen werden, dass die streitigen Vorsorgeaufwendungen
gleichwohl gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz
2 EStG als Sonderausgaben zu berücksichtigen sind.
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aa) Zutreffend ist das FG davon ausgegangen,
dass § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. a EStG auch
für Vorsorgeaufwendungen gilt, die im Zusammenhang mit
Einkünften aus einer freiberuflichen Tätigkeit
stehen.
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(1) Zwar ist dem FA zuzugeben, dass sich
dieses Ergebnis nicht aus der Regelung des § 10 Abs. 2 Satz 1
Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. a EStG selbst herleiten lässt. Der
sachliche Anwendungsbereich dieser Bestimmung ist nach ihrem
Wortlaut ausdrücklich und unmissverständlich auf
Einnahmen aus nichtselbständiger Tätigkeit
beschränkt und soll zudem nach ihrer Entstehungsgeschichte (s.
Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 24.09.2018, BT-Drucks.
19/4455, S. 41 f.) und ebenso nach ihrem Sinn und Zweck allein der
unionsrechtlichen Arbeitnehmerfreizügigkeit gemäß
Art. 45 AEUV Geltung verschaffen. Eine Auslegung gegen den Wortlaut
stünde damit im Widerspruch zu dem klar erkennbaren Willen des
Gesetzgebers und ließe sich auch nicht mit
verfassungsrechtlichen Überlegungen rechtfertigen (vgl.
allgemein Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG -
vom 15.10.1996 - 1 BvL 44, 48/92, BVerfGE 95, 64, 93 und vom
16.08.2001 - 1 BvL 6/01, NVwZ - Rechtsprechungs-Report 2002, 117,
unter II.1.).
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34
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(2) Doch muss die in § 10 Abs. 2 Satz 1
Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. a EStG enthaltene Ausnahme vom Ausschluss
des Sonderausgabenabzugs entgegen dem Wortlaut dieser Regelung auch
dann Anwendung finden, wenn eine Steuerpflichtige - wie im
Streitfall - in einem anderen Mitgliedstaat der EU als
Beschäftigungsstaat einer selbständigen Tätigkeit
nachgeht.
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(a) Dies gebietet die Niederlassungsfreiheit
gemäß Art. 49 AEUV, die von einem nationalen Gericht im
Rahmen ihrer Zuständigkeit als unmittelbar geltendes Recht zu
beachten ist. Dieses ist nach dem Grundsatz des Vorrangs des
Unionsrechts verpflichtet, für die volle Wirksamkeit der
Anforderungen dieses Rechts in dem bei ihm anhängigen
Rechtsstreit Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede
nationale Regelung, die einer Grundfreiheit entgegensteht, aus
eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, ohne dass es
die vorherige Beseitigung dieser nationalen Regelung oder Praxis
auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes
verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten
müsste (ständige Rechtsprechung, vgl. EuGH-Urteile T.C.
u.a. vom 16.02.2023 - C-638/22 PPU, EU:C:2023:103, Zeitschrift
für das gesamte Familienrecht 2023, 692, Rz 90 und The
Minister for Justice and Equality and Commissioner of the Garda
Siochana vom 04.12.2018 - C-378/17, EU:C:2018:979, Neue Zeitschrift
für Arbeitsrecht 2019, 27, Rz 35, m.w.N.).
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36
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Der EuGH hat in seiner Entscheidung Bechtel
(EU:C:2017:488, BStBl II 2017, 1271 = SIS 17 14 35, Rz 44 ff.) den
Ausschluss des Sonderausgabenabzugs für Vorsorgeaufwendungen
gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG a.F. unter
bestimmten Voraussetzungen als nicht mit der
Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV) vereinbar angesehen,
sofern ein Steuerpflichtiger, der von dieser Grundfreiheit Gebrauch
macht, im Hinblick auf die unter Progressionsvorbehalt
stattfindende Steuerfreistellung des ausländischen
Arbeitslohns in seinem Wohnsitzstaat Aufwendungen, die die
persönliche und familiäre Situation betreffen, steuerlich
nicht in Abzug bringen kann und somit schlechter steht, als wenn er
in seinem Wohnsitzstaat als Arbeitnehmer tätig wäre.
Aufgrund dessen haben zunächst die Finanzverwaltung (Schreiben
des Bundesministeriums der Finanzen vom 11.12.2017, BStBl I 2017,
1624 = SIS 17 22 24) und nachfolgend der Gesetzgeber den
Abzugsausschluss im Hinblick auf die eingangs genannten
Voraussetzungen modifiziert, dies aber - offensichtlich
anknüpfend an die Konstellation der EuGH-Entscheidung - (unter
anderem) auf Einnahmen aus nichtselbständiger Tätigkeit
beschränkt.
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(b) Das FG hat insoweit zutreffend erkannt,
dass die Gründe, die der EuGH in seiner Entscheidung für
den von ihm festgestellten Verstoß des § 10 Abs. 2 Satz
1 Nr. 1 EStG a.F. gegen die in Art. 45 AEUV gewährleistete
Arbeitnehmerfreizügigkeit angeführt hat, in gleicher
Weise auch - unter Berücksichtigung der in Art. 49 AEUV
gewährleisteten Niederlassungsfreiheit - für eine
entsprechende Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen
herangezogen werden können, die in einem unmittelbaren
wirtschaftlichen Zusammenhang mit steuerfreien Einnahmen aus einer
selbständigen Tätigkeit stehen. Denn die
Einschränkung des Abzugs von Vorsorgeaufwendungen nach §
10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 1 EStG verbunden mit der fehlenden
Aufnahme der selbständigen Tätigkeit in die
Ausnahmeregelung des § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2
Buchst. a EStG beschränkt die Niederlassungsfreiheit
gemäß Art. 49 AEUV in gleicher Weise, wie die
Einschränkung des § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG a.F. die
Arbeitnehmerfreizügigkeit gemäß Art. 45 AEUV
beschränkt hat. Warum in einem solchen Fall im Hinblick auf
die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV andere
Maßstäbe gelten sollten, erschließt sich dem
erkennenden Senat nicht (vgl. auch Korn, DStR 2019, 1, 5; Reddig,
juris PraxisReport Steuerrecht 26/2020, Anm. 2, unter C.IV.;
Lutter, EFG 2021, 628, 629; HHR/Kulosa, § 10 EStG Rz 304;
Bleschick in Kirchhof/Seer, EStG, 22. Aufl., § 10 Rz 35b;
Kempny in Musil/Weber-Grellet, 2. Aufl., EStG § 10 Rz
31a).
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Die oben dargestellten Grundsätze hat der
EuGH erkennbar nicht allein auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit
bezogen; in seinem Urteil Imfeld und Garcet vom 12.12.2013 -
C-303/12 (EU:C:2013:822, HFR 2014, 183 = SIS 14 04 42) hat er sie
unter anderem auch auf die Niederlassungsfreiheit angewandt. Zudem
zeigt das EuGH-Urteil Montag vom 06.12.2018 - C-480/17
(EU:C:2018:987, DStR 2018, 2622 = SIS 18 20 96), auch wenn es darin
um einen beschränkt Steuerpflichtigen ging, dass der EuGH in
Bezug auf die Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen in
Form von Pflichtbeiträgen Einnahmen aus einer
selbständigen Tätigkeit grundsätzlich nicht anders
behandelt als Einnahmen aus einer nichtselbständigen
Tätigkeit.
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(c) Es entspricht ständiger
höchstrichterlicher Rechtsprechung, im Fall einer solchen
Kollision von Unionsrecht und nationalem Recht dem
Anwendungsvorrang des Unionsrechts dadurch Geltung zu verschaffen,
dass die einschlägige nationale Regelung normerhaltend in der
Weise angewendet wird, dass das unionsrechtswidrige
Tatbestandsmerkmal bei der Rechtsanwendung unberücksichtigt
bleibt (Senatsurteile vom 27.10.2021 - X R 11/20, BFHE 275, 52 =
SIS 22 02 75, Rz 27 und vom 05.11.2019 - X R 23/17, BFHE 267, 34,
BStBl II 2020, 763 = SIS 20 03 39, Rz 44; BFH-Urteile vom
20.09.2006 - I R 113/03, BFH/NV 2007, 220 = SIS 07 03 60, unter
III.1. und vom 22.07.2008 - VIII R 101/02, BFHE 222, 453, BStBl II
2010, 265 = SIS 08 33 42, unter IV.1.; vgl. auch Englisch in
Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Aufl., Kap. 4 Rz 24 ff.).
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Folglich führt der Anwendungsvorrang der
Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV im Streitfall
dazu, dass bei der Anwendung des § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1
Teilsatz 2 Buchst. a EStG die unionsrechtswidrige Beschränkung
des sachlichen Anwendungsbereichs der Ausnahmeregelung auf
Einnahmen aus „nichtselbständiger“
Tätigkeit nicht beachtet wird. Die Regelung ist vielmehr auch
auf Einnahmen aus selbständiger Tätigkeit anzuwenden.
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(3) Eine Vorlage zur Vorabentscheidung an den
EuGH gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV kommt insoweit nicht in
Betracht. Die Unionsrechtslage ist, insbesondere unter
Berücksichtigung des EuGH-Urteils Montag (EU:C:2018:987, DStR
2018, 2622 = SIS 18 20 96), in Bezug auf die Bedeutung der
Niederlassungsfreiheit für die Frage nach der
Zulässigkeit von Beschränkungen beim steuerlichen Abzug
von Aufwendungen für die persönliche und familiäre
Situation des Steuerpflichtigen hinreichend geklärt und damit
eindeutig (vgl. zur acte-clair-Rechtsprechung u.a. EuGH-Urteil
C.I.L.F.I.T. vom 06.10.1982 - Rs. 283/81, EU:C:1982:335, Slg. 1982,
3415, Rz 13 ff.; BVerfG-Beschluss vom 04.03.2021 - 2 BvR 1161/19,
HFR 2021, 504 = SIS 21 05 21, Rz 55, m.w.N.; Senatsurteil vom
27.10.2021 - X R 11/20, BFHE 275, 52 = SIS 22 02 75, Rz 32 und
BFH-Urteil vom 13.04.2021 - I R 19/19, BFH/NV 2021, 1357 = SIS 21 14 38, Rz 27; Fehling in Schaumburg/Englisch, Europäisches
Steuerrecht, 2. Aufl., Gerichtliche Durchsetzung des Unionsrechts,
Rz 27.16.).
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bb) Ob im Streitfall auch die Voraussetzungen
des § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. b EStG
erfüllt sind, dass die Einnahmen der Klägerin aus
selbständiger Arbeit nach einem Abkommen zur Vermeidung der
Doppelbesteuerung (DBA) im Inland steuerfrei sind, kann der
erkennende Senat nicht ohne finanzgerichtliche Feststellungen zu
der Frage entscheiden, in welcher Weise die Klägerin ihre
Tätigkeit als Hebamme in den Niederlanden ausgeübt hat.
Die Ausübung einer freiberuflichen oder sonstigen
selbständigen Tätigkeit wird gemäß Art. 3 Abs.
1 Buchst. f und g DBA-Niederlande 2012 den Unternehmensgewinnen
zugerechnet und für Unternehmensgewinne gilt gemäß
Art. 7 Abs. 1 Satz 1 DBA-Niederlande 2012 vom Ausgangspunkt her das
Wohnsitzprinzip. Das Besteuerungsrecht liegt damit beim
Wohnsitzstaat (hier: Deutschland), wenn die
Geschäftstätigkeit nicht durch eine in dem anderen Staat
(hier: den Niederlanden) belegene Betriebsstätte (Art. 5
DBA-Niederlande 2012) ausgeübt wird. Feststellungen zu einer
Betriebsstätte der Klägerin fehlen jedoch bislang. Auch
in der niederländischen Gewinnermittlung der Klägerin
finden sich - soweit ersichtlich - keine Hinweise auf Aufwendungen
für eine Praxis oder sonstige Räumlichkeiten.
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cc) Ob und gegebenenfalls in welchem Umfang
schließlich eine Berücksichtigung der streitigen
Aufwendungen im Inland gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr.
1 Teilsatz 2 Buchst. c EStG aufgrund einer steuerlichen
Berücksichtigung in den Niederlanden ausgeschlossen ist, kann
der erkennende Senat ebenfalls nicht entscheiden, da das FG auch
keine Feststellungen zu der Frage getroffen hat, in welcher Weise
in den Niederlanden Vorsorgeaufwendungen bei der Besteuerung von
Einnahmen aus selbständiger Tätigkeit berücksichtigt
werden. Dies gilt sowohl in Bezug auf die einkommensabhängigen
Beiträge zur Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung als auch
in Bezug auf den gesetzlichen Basisbeitrag zur Krankenversicherung,
die sogenannte Kopfpauschale.
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Zwar geht das FG in Bezug auf die
einkommensabhängigen Sozialversicherungsbeiträge in dem
angefochtenen Urteil (auf S. 7, erster Absatz) davon aus, dass
diese in den Niederlanden „bei der Besteuerung der
Einkünfte der Klägerin im Wege einer Kürzung oder
Verrechnung (in Gestalt der Heffingskorting)
berücksichtigt“ worden sind. Wie eine
solche Berücksichtigung vorgenommen worden sein soll, kann der
erkennende Senat jedoch wiederum nicht nachvollziehen, da das FG
auch insoweit keine Feststellungen getroffen hat. Zunächst
lässt das FG offen, aus welchen Vorschriften des
niederländischen Steuerrechts sich ergibt, dass mit dem
niederländischen Heffingskorting Vorsorgeaufwendungen im
Rahmen der Besteuerung der Einnahmen der Klägerin aus
selbständiger Arbeit berücksichtigt werden. Des Weiteren
bleibt offen, in welcher Art und Weise und in welchem
tatsächlichen Umfang im Streitfall eine solche
Berücksichtigung erfolgt ist.
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In Bezug auf die sogenannte Kopfpauschale, den
gesetzlichen Basisbeitrag zur Krankenversicherung, gilt dies
gleichermaßen. Denn da bereits nicht ersichtlich ist, in
welcher Weise die einkommensabhängigen
Sozialversicherungsbeiträge steuerlich berücksichtigt
worden sind, lässt sich auch keine Aussage zu der Frage
treffen, ob eine Berücksichtigung weiterer,
einkommensunabhängiger Beiträge nach § 10 Abs. 2
Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. c EStG ausgeschlossen ist.
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4. In Anbetracht dessen ist das angefochtene
Urteil aufzuheben und die Sache an das FG zur anderweitigen
Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Eine eigene
Entscheidung ist dem Senat nicht möglich, da das FG - wie
dargelegt - weder die notwendigen Tatsachenfeststellungen noch die
erforderlichen Feststellungen zum maßgeblichen
ausländischen Recht getroffen hat.
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a) Nach ständiger
höchstrichterlicher Rechtsprechung ist es Aufgabe des FG als
Tatsacheninstanz, das maßgebende ausländische Recht
gemäß § 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 293 ZPO von
Amts wegen zu ermitteln. Wie es dies tut, steht in seinem
pflichtgemäßen Ermessen. Die Anforderungen an Umfang und
Intensität der Ermittlungspflicht des Tatrichters lassen sich
nur in sehr eingeschränktem Maße generell-abstrakt
bestimmen. Jedenfalls sind an die Ermittlungspflicht umso
höhere Anforderungen zu stellen, je komplexer oder je fremder
das anzuwendende Recht im Vergleich zum eigenen ist. Gleiches gilt,
wenn die Beteiligten zur ausländischen Rechtspraxis
detailliert und kontrovers vortragen. Der Umstand, dass das
ausländische Recht gegebenenfalls sehr komplex ist, kann das
FG von dieser Ermittlungspflicht nicht entbinden (s. im Einzelnen
Senatsurteil vom 22.03.2018 - X R 5/16, BFHE 261, 132, BStBl II
2018, 651 = SIS 18 08 71, Rz 22 ff. und BFH-Urteil vom 19.10.2021 -
VII R 7/18, BFHE 276, 189 = SIS 22 01 51, Rz 63 ff., jeweils
m.w.N.).
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Eine Revision kann nicht darauf gestützt
werden, dass die Vorentscheidung auf einer fehlerhaften Anwendung
ausländischen Rechts beruhe; denn ausländisches Recht
gehört nicht zum „Bundesrecht“ im
Sinne des § 118 Abs. 1 FGO. Vielmehr sind die Feststellungen
über das Bestehen und den Inhalt ausländischen Rechts
für das Revisionsgericht grundsätzlich bindend (§
155 Satz 1 FGO i.V.m. § 560 ZPO). Sie sind revisionsrechtlich
wie Tatsachenfeststellungen zu behandeln (z.B. BFH-Urteile vom
19.10.2021 - VII R 7/18, BFHE 276, 189 = SIS 22 01 51, Rz 63 und
vom 19.01.2017 - IV R 50/14, BFHE 257, 35, BStBl II 2017, 456 = SIS 17 06 28, Rz 61), auch wenn die ausländischen Rechtssätze
dadurch nicht selbst zu Tatsachen werden und eine Entscheidung nach
den Grundsätzen der Feststellungslast in diesem Bereich daher
nicht möglich ist (Senatsurteil vom 22.03.2018 - X R 5/16,
BFHE 261, 132, BStBl II 2018, 651 = SIS 18 08 71, Rz 23 und
BFH-Urteil vom 25.06.2021 - II R 13/19, BFHE 275, 231, BStBl II
2022, 481 = SIS 22 05 05, Rz 22, jeweils m.w.N.).
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49
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Die revisionsrechtliche Bindungswirkung
entfällt allerdings, soweit die erforderlichen Feststellungen
zum maßgeblichen ausländischen Recht fehlen oder auf
einem nur kursorischen Überblick über die zu behandelnde
Materie beruhen. In diesem Fall liegt ein materieller Mangel der
Vorentscheidung vor (z.B. BFH-Urteile vom 20.04.2021 - IV R 3/20,
BFHE 273, 119 = SIS 21 12 89, Rz 50 und vom 19.01.2017 - IV R
50/14, BFHE 257, 35, BStBl II 2017, 456 = SIS 17 06 28, Rz 61).
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50
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b) Unter Berücksichtigung dieser
Rechtsgrundsätze liegt im Streitfall ein materieller Mangel
vor; denn es fehlen jegliche Feststellungen zum maßgeblichen
niederländischen Recht. Solche Feststellungen wären aber
schon deswegen geboten gewesen, weil die Rechtsfiguren des
allgemeinen „Heffingskorting“, des
„Arbeitskorting“ und des
„einkommensabhängigen
Kombinationskorting“ dem deutschen
Einkommensteuerrecht fremd sind.
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5. Für den zweiten Rechtsgang weist der
Senat - ohne Bindungswirkung nach § 126 Abs. 5 FGO - auf
Folgendes hin:
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52
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a) Der erkennende Senat hat bereits
entschieden, dass für die Frage, ob der
Beschäftigungsstaat nach § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1
Teilsatz 2 Buchst. c EStG „keinerlei“
steuerliche Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen im
Rahmen der Besteuerung dort bezogener Einnahmen zulässt, die
einzelnen Sparten der Vorsorgeaufwendungen getrennt zu beurteilen
sind und dass Vorsorgeaufwendungen, die bei einer
grenzüberschreitenden Tätigkeit bereits der
Beschäftigungsstaat im Rahmen der Besteuerung der dort
erzielten und im Inland steuerfreien Einnahmen zum Abzug
zulässt, im Rahmen der inländischen Besteuerung nicht
nochmals als Sonderausgaben zu berücksichtigen sind
(Senatsurteil vom 27.10.2021 - X R 28/20, BFHE 275, 63 = SIS 22 02 76, Rz 29 ff.).
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53
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Die diesbezüglichen Ausführungen des
erkennenden Senats beziehen sich zwar auf die
Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV). Sie gelten aber
gleichermaßen auch im Zusammenhang mit der
Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) und werden daher auch im
vorliegenden Streitfall zu berücksichtigen sein. Wegen der
Einzelheiten wird auf die genannte Entscheidung Bezug genommen.
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54
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b) Ebenfalls durch die höchstrichterliche
Rechtsprechung geklärt ist, dass Vorsorgeaufwendungen nicht im
Rahmen des Progressionsvorbehalts zu berücksichtigen sind.
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Nach § 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG sind
die durch ein Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung von der
deutschen Besteuerung freigestellten Einkünfte im Rahmen des
Progressionsvorbehalts zu berücksichtigen. Daran
anknüpfend bestimmt § 32b Abs. 2 Nr. 2 EStG, dass die
betreffenden Einkünfte den anzuwendenden Steuersatz
erhöhen oder vermindern. Folglich gehen nur
„Einkünfte“ in die von § 32b
Abs. 2 Nr. 2 EStG vorgeschriebene Berechnung ein. Sonderausgaben
zählen jedoch nicht zu den Einkünften, sondern werden
erst im Anschluss an die Ermittlung der Einkünfte vom
Gesamtbetrag der Einkünfte abgezogen (§ 2 Abs. 4 EStG).
Dies schließt - wie auch das FG zutreffend erkannt hat - ihre
Berücksichtigung im Rahmen des Progressionsvorbehalts aus
(BFH-Urteil vom 03.11.2010 - I R 73/09, BFH/NV 2011, 773 = SIS 11 12 39, Rz 9 und Senatsurteil vom 18.04.2012 - X R 62/09, BFHE 237,
434, BStBl II 2012, 721 = SIS 12 19 47, Rz 43, m.w.N.; ebenso:
BFH-Urteil vom 13.04.2021 - I R 19/19, BFH/NV 2021, 1357 = SIS 21 14 38, Rz 24; BFH-Beschluss vom 22.02.2023 - I R 55/20, BFH/NV
2023, 801 = SIS 23 06 83, Rz 17).
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Stehen in einem Mitgliedstaat der EU oder des
EWR beziehungsweise in der Schweiz geleistete Vorsorgeaufwendungen
im Zusammenhang mit nach einem DBA steuerfreien ausländischen
Einkünften, lässt sich eine entsprechende Verpflichtung
auch nicht aus dem Unionsrecht herleiten, soweit die
Berücksichtigung dieser Vorsorgeaufwendungen durch ein DBA dem
besteuernden Beschäftigungsstaat übertragen worden ist
(BFH-Urteil vom 13.04.2021 - I R 19/19, BFH/NV 2021, 1357 = SIS 21 14 38, Rz 26). Dasselbe gilt, wenn - wie möglicherweise im
Streitfall - die Entpflichtung des Wohnsitzstaats darauf beruht,
dass der Beschäftigungsstaat die Vorsorgeaufwendungen
außerhalb einer bilateralen oder multilateralen
Übereinkunft steuerlich berücksichtigt und den
Steuerpflichtigen dadurch entlastet (Senatsurteil vom 27.10.2021 -
X R 28/20, BFHE 275, 63 = SIS 22 02 76, Rz 41). Beide Urteile sind
wiederum zur Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV)
ergangen, lassen sich aber ebenso auf die Niederlassungsfreiheit
(Art. 49 AEUV) übertragen. Wegen der Einzelheiten wird auf die
genannten Urteile Bezug genommen.
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6. Die Übertragung der Kostenentscheidung
auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
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