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I. Die Antragstellerin und
Beschwerdegegnerin (Antragstellerin) ist als Schadensregulierer bei
Unfällen mit Kraftfahrzeugen, die bei ausländischen
Versicherungsgesellschaften versichert sind, tätig. Nach dem
in dieser Streitsache ergangenen Beschluss des Finanzgerichts (FG)
war „Auftraggeber“ der Antragstellerin ein
inländischer Verein, bei dem es sich um eine Einrichtung der
deutschen Autohaftpflichtversicherer zur Abwicklung von
Autohaftpflichtfällen im Rahmen des sog.
Grüne-Karte-Systems handelt. Dabei übernahm der Verein
die Pflichten eines Haftpflichtversicherers für
ausländische Kraftfahrzeuge in Deutschland. Der Verein
regulierte die Schadensfälle nicht selbst, sondern
übertrug die Abwicklung des Falles insbesondere privaten
Schadensregulierern wie z.B. der Antragstellerin, die dann
„im Auftrage“ des Vereins tätig wurden.
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Die Antragstellerin hatte für die
Streitjahre (2005 bis 2008) Umsatzsteuer-Voranmeldungen abgegeben
und darin ihre Umsätze als Schadensregulierer nicht der
Umsatzsteuer unterworfen, da sich der Ort ihrer Leistungen nicht im
Inland befunden habe. Im Anschluss an eine
Umsatzsteuer-Sonderprüfung für die
Voranmeldungszeiträume Januar 2007 bis Mai 2007 ging der
Antragsgegner und Beschwerdeführer (das Finanzamt - FA - )
demgegenüber davon aus, dass die Tätigkeit der
Antragstellerin lediglich Verwaltungscharakter gehabt habe und mit
der Tätigkeit eines Rechtsanwalts nicht vergleichbar sei, so
dass die von der Antragstellerin erbrachten Leistungen
Inlandsumsätze seien. Das FA erhöhte dementsprechend die
steuerpflichtigen Inlandsumsätze unter Verminderung der
nichtsteuerbaren Auslandsumsätze für die Streitjahre 2005
bis 2008 in den Umsatzsteueränderungsbescheiden vom 22.11.2010
in Höhe von insgesamt 141.940 EUR. Dabei versagte das FA
für das Streitjahr 2007 auch den Vorsteuerabzug aus
Eingangsleistungen im Zusammenhang mit zwei steuerpflichtigen
Mietverhältnissen, da die dem Vorsteuerabzug zugrunde
liegenden Rechnungen fehlerhaft gewesen seien.
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Gegen die Änderungsbescheide legte die
Antragstellerin am 23.12.2010 Einspruch ein, über den das FA
noch nicht entschieden hat. Einen Antrag auf Aussetzung der
Vollziehung (AdV) lehnte das FA ab. Auch hiergegen legte die
Antragstellerin Einspruch ein, dem das FA nur insoweit abhalf, als
es die bisher als nichtsteuerbar behandelten Auslandsumsätze
nicht mehr als Entgelt, sondern als Gegenleistung für
steuerpflichtige Inlandsleistungen ansah und AdV in Höhe von
27.702,78 EUR gewährte.
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Das FG gab daraufhin dem bei ihm
hinsichtlich der weiteren Steuernachforderung gestellten Antrag auf
AdV mit seinem in EFG 2011, 1930 = SIS 11 25 71
veröffentlichten Beschluss ganz überwiegend statt. Ein
Unternehmen, das für ausländische
Versicherungsunternehmen die Schadensregulierung bei
Kraftfahrzeugunfällen im Inland vornehme, erbringe
Rechtsdienstleistungen i.S. von § 2 Abs. 1 des
Rechtsdienstleistungsgesetzes (RDG) und übe damit eine
anwaltsähnliche Tätigkeit i.S. von § 3a Abs. 3 Satz
1 und Abs. 4 Nr. 3 des Umsatzsteuergesetzes 2005 (UStG) aus. Eine
„ähnliche Leistung“ i.S. des § 3a Abs. 4 Nr.
3 UStG könne auch vorliegen, wenn sie keine Beratungsleistung
darstelle. Entgegen der Auffassung der Antragstellerin habe die
Rechnungsberichtigung nach § 14c Abs. 1 Satz 2 UStG i.V.m.
§ 31 Abs. 5 der Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung
(UStDV) für die Vorsteuerkorrektur aber nur ex nunc-Wirkung.
Der erst nach Ablauf der Streitjahre erfolgten Rechnungskorrektur
komme daher keine Rückwirkung zu.
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Hiergegen wendet sich das FA mit der vom FG
zugelassenen Beschwerde. Die Tätigkeit der Antragstellerin sei
nicht mit der eines Rechtsanwalts vergleichbar. Sie könne
keine Interessenvertretung übernehmen und sei kein Organ der
Rechtspflege. Die von der Antragstellerin nur rudimentär
vorgenommene rechtliche Beurteilung sei nur eine
Nebenleistung.
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Das FA beantragt, den Beschluss des FG
aufzuheben und den Antrag in vollem Umfang als unbegründet
zurückzuweisen.
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Die Antragstellerin beantragt, die
Beschwerde zurückzuweisen.
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II. Die gemäß § 128 Abs. 3 der
Finanzgerichtsordnung (FGO) zulässige Beschwerde des FA ist
überwiegend begründet. Unter Aufhebung des angefochtenen
Beschlusses wird der Antrag auf AdV zur Umsatzsteuer 2005, 2006 und
2008 als unbegründet zurückgewiesen. Im Übrigen wird
das Verfahren an das FG zur erneuten Entscheidung
zurückverwiesen. Entgegen dem Beschluss des FG bestehen keine
ernstlichen Zweifel an der inländischen Steuerpflicht der
durch die Antragstellerin erbrachten Leistungen bei der
Schadensregulierung. Der Senat kann aber für das Streitjahr
2007 nicht abschließend entscheiden, ob ernstliche Zweifel an
der Versagung des Vorsteuerabzugs bestehen.
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1. Nach § 128 Abs. 3 i.V.m. § 69
Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 FGO ist die Vollziehung eines
angefochtenen Verwaltungsaktes ganz oder teilweise auszusetzen,
wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des
angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen. Ernstliche Zweifel i.S.
von § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO liegen bereits dann vor, wenn bei
summarischer Prüfung des angefochtenen Bescheides neben
für seine Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen
gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder
Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in
der Beurteilung entscheidungserheblicher Tatfragen bewirken
(ständige Rechtsprechung seit dem Beschluss des
Bundesfinanzhofs - BFH - vom 10.2.1967 III B 9/66, BFHE 87, 447,
BStBl III 1967, 182 = SIS 67 01 06; BFH-Beschluss vom 8.4.2009 I B
223/08, BFH/NV 2009, 1437 = SIS 09 26 67). Die Entscheidung
hierüber ergeht bei der im AdV-Verfahren gebotenen
summarischen Prüfung aufgrund des Sachverhalts, der sich aus
dem Vortrag der Beteiligten und der Aktenlage ergibt (vgl.
BFH-Beschluss vom 7.9.2011 I B 157/10, BFH/NV 2012, 95 = SIS 11 37 51, unter II.2., m.w.N.). Zur Gewährung der AdV ist es nicht
erforderlich, dass die für die Rechtswidrigkeit sprechenden
Gründe im Sinne einer Erfolgswahrscheinlichkeit
überwiegen (BFH-Beschluss in BFH/NV 2012, 95 = SIS 11 37 51,
unter II.2.).
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2. Entgegen dem Beschluss des FG bestehen
keine ernstlichen Zweifel am Vorliegen eines inländischen
Leistungsorts gemäß § 3a Abs. 1 UStG. Die
Voraussetzungen für eine hiervon abweichende Ortsbestimmung
gemäß § 3a Abs. 4 Nr. 3 UStG liegen entgegen dem
Beschluss des FG nicht vor, da die Leistungen der Antragstellerin
bei der im Aussetzungsverfahren gebotenen summarischen Prüfung
nicht als ähnliche Beratungsleistungen im Sinne dieser
Vorschrift anzusehen sind.
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a) Nach § 3a Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 Nr. 3
UStG in seiner in den Streitjahren geltenden Fassung wurden die
sonstigen Leistungen aus der Tätigkeit als Rechtsanwalt,
Patentanwalt, Steuerberater, Steuerbevollmächtigter,
Wirtschaftsprüfer, vereidigter Buchprüfer,
Sachverständiger, Ingenieur, Aufsichtsratsmitglied,
Dolmetscher und Übersetzer sowie ähnliche Leistungen
anderer Unternehmer, insbesondere die rechtliche, wirtschaftliche
und technische Beratung dort ausgeführt, wo der Empfänger
sein Unternehmen betreibt. § 3a Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 Nr. 3
UStG ist entsprechend dem ihm unionsrechtlich zugrunde liegenden
Art. 9 Abs. 2 Buchst. e dritter Gedankenstrich der Sechsten
Richtlinie des Rates vom 17.5.1977 zur Harmonisierung der
Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern
77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) auszulegen (vgl. z.B. BFH-Urteil
vom 9.2.2012 V R 20/11, juris = SIS 12 19 25). Danach gilt als Ort
der Leistungen von Beratern, Ingenieuren, Studienbüros,
Anwälten, Buchprüfern und sonstiger ähnlicher
Leistungen sowie der Datenverarbeitung und der Überlassung von
Informationen der Ort, an dem der Empfänger den Sitz seiner
wirtschaftlichen Tätigkeit hat. Für die Streitjahre 2007
und 2008 folgt dies aus Art. 56 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie des
Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem
2006/112/EG (MwStSystRL).
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b) Der Senat braucht im Streitfall nicht zu
entscheiden, ob die Anwendung von § 3a Abs. 3 Satz 1, Abs. 4
Nr. 3 UStG im Streitfall bereits daran scheitert, dass der Verein
als „Auftraggeber“ im Inland Empfänger der
von der Antragstellerin erbrachten Leistungen war (zur Bestimmung
der Person des Leistungsempfängers nach dem der Leistung
zugrunde liegenden Rechtsverhältnis vgl. z.B. BFH-Urteil vom
18.2.2009 V R 82/07, BFHE 225, 198, BStBl II 2009, 876 = SIS 09 16 37, unter II.2.a aa). Unabhängig hiervon kommt die Anwendung
des Empfängerortprinzips nicht in Betracht, da die
Antragstellerin keine sonstige Leistung i.S. von § 3a Abs. 4
Nr. 3 UStG erbracht hat.
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aa) Der bei richtlinienkonformer Auslegung von
§ 3a Abs. 4 Nr. 3 UStG zu berücksichtigende Art. 9 Abs. 2
Buchst. e dritter Gedankenstrich der Richtlinie 77/388/EWG bezieht
sich nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen
Union (EuGH) nicht auf Berufe, sondern „zieht die in
dieser Bestimmung aufgeführten Berufe heran, um die dort
angesprochenen Arten von Leistungen zu definieren“
(EuGH-Urteile vom 16.9.1997 C-145/96, von Hoffmann, Slg. 1997,
I-4857 = SIS 97 22 39 Rdnr. 15, und vom 7.10.2010 C-222/09,
Kronospan Mielec, BFH/NV 2010, 2377 = SIS 10 33 41 Rdnr. 19). Dabei
muss es sich um Leistungen handeln, die hauptsächlich und
gewöhnlich im Rahmen eines dieser Berufe erbracht werden
(EuGH-Urteile von Hoffmann in Slg. 1997, I-4857 Rdnr. 16, und
Kronospan Mielec in BFH/NV 2010, 2377 = SIS 10 33 41 Rdnr. 20;
BFH-Urteil vom 10.11.2010 V R 40/09, BFH/NV 2011, 1026 = SIS 11 16 03, unter II.1.c).
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Darüber hinaus bezieht sich der Begriff
der sonstigen ähnlichen Leistungen i.S. von Art. 9 Abs. 2
Buchst. e dritter Gedankenstrich der Richtlinie 77/388/EWG nicht
auf ein Element, das den in dieser Bestimmung aufgeführten
unterschiedlichen Tätigkeiten gemeinsam ist, sondern auf
Leistungen, die irgendeiner dieser Tätigkeiten - bei
gesonderter Betrachtung - ähnlich sind. Dabei ist eine
Leistung dann einer in dieser Bestimmung aufgeführten
Tätigkeit ähnlich, wenn beide Tätigkeiten dem
gleichen Zweck dienen (vgl. EuGH-Urteile vom 6.3.1997 C-167/95,
Linthorst, Pouwels en J. Scheren, Slg. 1997, I-1195 = SIS 97 10 38
Rdnrn. 19 bis 22; von Hoffmann in Slg. 1997, I-4857 Rdnrn. 20 und
21, und vom 6.12.2007 C-401/06, Kommission/Deutschland, Slg. 2007,
I-10609 = SIS 08 07 28 Rdnr. 31). Dies ist bei der
richtlinienkonformen Auslegung der Tatbestandsmerkmale
„rechtliche, wirtschaftlich und technische Beratung
gemäß § 3a Abs. 4 Nr. 3 UStG“ zu
berücksichtigen.
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Danach entsprechen z.B. die Leistungen eines
Testamentsvollstreckers nicht denen eines Rechtsanwalts. Denn
während die Leistungen des Rechtsanwalts vor allem der
Rechtspflege dienen, sind die Leistungen der Testamentsvollstrecker
wirtschaftlicher Art und dienen der Bewertung und Verteilung des
Vermögens des Erblassers sowie dem Schutz dieses
Vermögens und der Fruchtziehung aus diesem (EuGH-Urteil
Kommission/ Deutschland in Slg. 2007, I-10609 Rdnr. 39).
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bb) Im Streitfall bestehen keine ernstlichen
Zweifel daran, dass ein von § 3a Abs. 1 UStG abweichender
Leistungsort nach § 3a Abs. 4 Nr. 3 UStG aufgrund einer
Ähnlichkeit mit einer Rechtsanwaltsleistung nicht in Betracht
kommt. Denn die Rechtsanwaltsleistung wird durch das Handeln zur
Rechtspflege geprägt, während die Leistungen der
Antragstellerin bei der Schadensregulierung - ähnlich einer
Testamentsvollstreckung - eher wirtschaftlicher Art sind, dem
Vermögensschutz der Versicherung dienen und insoweit
Vermögensbetreuungscharakter haben.
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cc) Für ihre Gegenauffassung kann sich
die Antragstellerin auch nicht auf die vom FG gezogene Parallele
zum RDG berufen. Der Senat hat im Streitfall nicht zu entscheiden,
ob die Antragstellerin Rechtsdienstleistungen i.S. von § 2
Abs. 1 RDG erbracht hat und danach in konkreten fremden
Angelegenheiten mit einer rechtlichen Prüfung des Einzelfalls
tätig war.
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Selbst wenn zugunsten der Antragstellerin
unterstellt wird, dass sie Rechtsdienstleistungen i.S. von § 2
Abs. 1 RDG erbracht hat, scheitert eine Anwendung von § 3a
Abs. 4 Nr. 3 UStG zu ihren Gunsten zumindest daran, dass
Schwerpunkt ihrer Leistungstätigkeit keine
Rechtsdienstleistungen sind, wie sie hauptsächlich und
gewöhnlich im Rahmen einer Anwaltstätigkeit erbracht
werden. Hierfür spricht bereits, dass der Antragstellerin die
Erbringung von Rechtsdienstleistungen weder nach den §§ 6
ff. RDG als nicht registrierte Person noch nach den §§ 10
ff. RDG als registrierte Person erlaubt war. Sie durfte daher
gemäß § 5 Abs. 1 RDG Rechtsdienstleistungen nur im
Zusammenhang mit einer anderen Tätigkeit erbringen, wenn die
Rechtsdienstleistung als Nebenleistung zu einem „Berufs-
oder Tätigkeitsbild“ gehört, wobei sich das
Vorliegen einer Nebenleistung nach ihrem Inhalt, dem Umfang und dem
sachlichen Zusammenhang mit der Haupttätigkeit unter
Berücksichtigung der Rechtskenntnisse, die für die
Haupttätigkeit erforderlich sind, beurteilt.
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Im Rahmen der im Aussetzungsverfahren
gebotenen summarischen Prüfung ist dabei davon auszugehen,
dass die Antragstellerin die ihr nach dem RDG zustehenden
Befugnisse nicht überschritten hat. Soweit sie
Rechtsdienstleistungen erbracht haben sollte, handelte es sich
daher bei diesen nur um „Nebenleistungen“ zu der
Haupttätigkeit eines gewerblichen Schadensregulierers. Dass
nur eine Nebenleistung und damit nur ein Teilaspekt mit einer durch
Rechtsanwälte erbrachten Leistung vergleichbar ist, reicht
indes zur Begründung einer ähnlichen Leistung nicht
aus.
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3. Der Senat kann demgegenüber nicht
entscheiden, ob eine Vollziehungsaussetzung für das Streitjahr
2007 insoweit in Betracht kommt, als das FA den Vorsteuerabzug mit
der Begründung versagt hat, der Antragstellerin seien für
die von ihr bezogenen Leistungen unvollständige oder
unrichtige Rechnungen ausgestellt worden und einer erst
späteren Rechnungsberichtigung komme keine Rückwirkung
auf den Zeitpunkt der Rechnungserteilung zu. Insoweit war der
Beschluss des FG aufzuheben und die Sache an das FG zur erneuten
Entscheidung zurückzuverweisen.
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a) Nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 UStG
setzt die Ausübung des Vorsteuerabzugs voraus, dass der
Unternehmer eine nach den §§ 14, 14a UStG ausgestellte
Rechnung besitzt. Die Regelung beruht unionsrechtlich auf Art. 17
Abs. 2 Buchst. a und Art. 18 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie
77/388/EWG sowie in den Streitjahren 2007 und 2008 auf Art. 168
Buchst. a und Art. 178 Buchst. a MwStSystRL.
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b) Bei der Beantwortung der Frage, ob eine
Rechnungsberichtigung mit Rückwirkung auf den Zeitpunkt der
erstmaligen Rechnungserteilung erfolgen kann, ist das Urteil des
EuGH vom 15.7.2010 C-368/09, Pannon Gép (Slg. 2010, I-7467 =
SIS 10 22 16) zu berücksichtigen.
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aa) Nach dem EuGH-Urteil Pannon Gép in
Slg. 2010, I-7467 steht das Unionsrecht „einer nationalen
Regelung oder Praxis entgegen, nach der die nationalen
Behörden einem Steuerpflichtigen das Recht, den für ihm
erbrachte Dienstleistungen geschuldeten oder entrichteten
Mehrwertsteuerbetrag von der von ihm geschuldeten Mehrwertsteuer
als Vorsteuer abzuziehen, mit der Begründung absprechen, dass
die ursprüngliche Rechnung, die zum Zeitpunkt der Vornahme des
Vorsteuerabzugs in seinem Besitz war, ein falsches Datum des
Abschlusses der Dienstleistung aufgewiesen habe und dass die
später berichtigte Rechnung und die die ursprüngliche
Rechnung aufhebende Gutschrift nicht fortlaufend nummeriert gewesen
seien (...), wenn die materiell-rechtlichen Voraussetzungen
für den Vorsteuerabzug erfüllt sind und der
Steuerpflichtige der betreffenden Behörde vor Erlass ihrer
Entscheidung eine berichtigte Rechnung zugeleitet hat, in der das
zutreffende Datum des Abschlusses der genannten Dienstleistung
vermerkt war, auch wenn diese Rechnung und die die
ursprüngliche Rechnung aufhebende Gutschrift keine
fortlaufende Nummerierung aufweisen“.
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bb) Ob sich hieraus eine Rückwirkung
für den Fall der Rechnungsberichtigung auf den Zeitpunkt der
erstmaligen Rechnungserteilung ergibt, ist höchstrichterlich
noch nicht entschieden und finanzgerichtlich sowie im Schrifttum
umstritten.
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(1) Mehrere FGs (Niedersächsisches FG,
Urteil vom 25.10.2010 5 K 425/08, DStRE 2011, 1337 = SIS 11 21 34,
Rev. eingelegt, Az. des BFH: XI R 41/10; ebenso Beschluss des FG
Berlin-Brandenburg vom 22.2.2011 5 V 5004/11, EFG 2011, 1295 = SIS 11 17 28; Urteil des FG Köln vom 13.7.2011 2 K 2695/10, juris
= SIS 12 02 51, und Beschluss des FG Hamburg vom 6.12.2011 2 V
149/11, sowie Huschens, Umsatz- und Verkehrsteuer-Recht - UVR -
2010, 333; Meurer, DStR 2010, 2442, und wohl auch Nieskens, UR
2010, 693) gehen davon aus, dass einer Rechnungsberichtigung auch
unter Berücksichtigung des EuGH-Urteils Pannon Gép in
Slg. 2010, I-7467 keine Rückwirkung zukommt, da sich der EuGH
nicht ausdrücklich zur Frage der Rückwirkung
geäußert habe (Huschens, UVR 2010, 333, 335, und Meurer,
DStR 2010, 2442, 2443), nach dem nationalen Recht des diese
Rechtssache betreffenden Ausgangsverfahrens die Möglichkeit
einer Rechnungskorrektur mit Rückwirkung bestehe (Huschens,
UVR 2010, 333, 336) und § 31 Abs. 5 UStDV nur zum Ausdruck
bringen solle, dass das Fehlen oder die Unrichtigkeit von
Rechnungsangaben nicht zu einem endgültigen Verlust des
Vorsteuerabzugs führt (Huschens, UVR 2010, 333, 336).
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(2) Demgegenüber kann das EuGH-Urteil
Pannon Gép in Slg. 2010, I-7467 unter Berücksichtigung
des dieser Rechtssache zugrunde liegenden Sachverhalts auch
dahingehend zu verstehen sein, dass das FA nicht berechtigt ist,
den in dieser Rechtssache streitigen Vorsteuerabzug für das
Jahr 2007 durch einen in 2009 ergangenen Nachforderungsbescheid zu
versagen, wenn dem FA im Zeitpunkt des Erlasses dieses Bescheides
eine bereits in 2008 erfolgte Rechnungsberichtigung vorliegt
(für ernstliche Zweifel z.B. Beschluss des FG Nürnberg
vom 7.10.2010 2 V 802/2009, EFG 2011, 1113 = SIS 11 07 72;
Beschluss des FG des Saarlandes vom 16.2.2012 2 V 1343/11, EFG
2012, 1115 = SIS 12 17 35, Beschwerde eingelegt, Az. des BFH: XI B
33/12; vgl. auch Martin, BFH/PR 2010, 388; Sterzinger, UR 2010,
700; Wäger, DStR 2010, 1478, und Wagner, UVR 2010, 311).
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c) Ob einer Rechnungsberichtigung unter
Berücksichtigung des EuGH-Urteils Pannon Gép in Slg.
2010, I-7467 Rückwirkung auf den Zeitpunkt der erstmaligen
Rechnungserteilung zukommen kann, hat der Senat in seiner
bisherigen Rechtsprechung offengelassen (BFH-Urteil vom 2.9.2010 V
R 55/09, BFHE 231, 332, BStBl II 2011, 235 = SIS 10 36 34, unter
II.5.). Diese Frage ist auch im Streitfall, der ein Verfahren des
einstweiligen Rechtsschutzes betrifft, nicht abschließend zu
entscheiden.
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Für das Vorliegen der im Streitfall
allein entscheidungserheblichen ernstlichen Zweifel an der
Rechtmäßigkeit des vom FA festgesetzten Steueranspruchs
trotz der vom FG angenommenen Rechnungsberichtigung spricht nun,
dass eine derartige Rückwirkung mit dem Wortlaut des § 31
Abs. 5 UStDV vereinbar ist (vgl. Widmann, UR 2009, 249, 250;
Widmann in Plückebaum/ Malitzky, UStG, § 14 Rz 114, und
Wagner, in Sölch/Ringleb, UStG, § 14 Rz 484 ff.) und der
EuGH in seinem Urteil Pannon Gép in Slg. 2010, I-7467
für eine vergleichbare Fallkonstellation ebenfalls eine
Rückwirkung der Rechnungsberichtigung zu bejahen scheint.
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Die gleichwohl an der Bedeutung des
EuGH-Urteils Pannon Gép in Slg. 2010, I-7467 bestehenden
Zweifel, wie z.B. die Frage, wie diese Entscheidung mit der
EuGH-Rechtsprechung zu vereinbaren ist, nach der der erstmaligen
Rechnungserteilung keine Rückwirkung auf den Zeitpunkt der
Leistungserbringung zukommt (EuGH-Urteil vom 29.4.2004 C-152/02,
Terra Baubedarf-Handel, Slg. 2004, I-5583 = SIS 04 23 36), lassen
die ernstlichen Zweifel nicht entfallen. Insbesondere erscheint es
durchaus möglich, dass der Steuerpflichtige entsprechend dem
EuGH-Urteil Terra Baubedarf-Handel in Slg. 2004, I-5583 das Recht
auf Vorsteuerabzug erst ausüben kann, wenn ihm eine Rechnung
vorliegt, dass diese Rechnung bei Fehlern oder
Unvollständigkeiten aber auf den Zeitpunkt der erstmaligen
Rechnungserteilung berichtigt werden kann. Der von Huschens in UVR
2010, 333, 336 befürchtete Wertungswiderspruch, dass eine
Rechnungsberichtigung zu einem Vorsteuerabzug mit Rückwirkung
auf den Zeitpunkt der Leistungserbringung führen könne,
entsteht dann nicht.
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d) Der Senat kann über die Frage, ob
danach im Streitfall ernstliche Zweifel an dem festgesetzten
Steueranspruch bestehen, gleichwohl nicht selbst entscheiden.
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aa) Die Entscheidung über einen Antrag
auf AdV ergeht wegen dessen Eilbedürftigkeit aufgrund des
Prozessstoffs, der sich aus den dem Gericht vorliegenden
Unterlagen, insbesondere den Akten und den präsenten
Beweismitteln ergibt, aus denen das Gericht seine Feststellungen
zum Sachverhalt zu treffen hat. Zwar besteht im Beschwerdeverfahren
über die Ablehnung eines Antrags auf AdV durch das FG für
den BFH als Tatsachengericht grundsätzlich selbst die Befugnis
und Pflicht zur Tatsachenfeststellung. Dies steht aber nach der
Rechtsprechung des BFH (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 3.3.2009 X B
197/08, BFH/NV 2009, 961 = SIS 09 15 89) einer
Zurückverweisung des Verfahrens zur ergänzenden
Tatsachenfeststellung durch das FG nach §§ 132, 155 FGO
i.V.m. § 572 Abs. 3 der Zivilprozessordnung nicht entgegen,
wenn nach den Umständen des Einzelfalls die Feststellungen
besser durch das FG getroffen werden können. Dabei ist zu
berücksichtigen, dass der BFH als Revisions- und
Beschwerdegericht in erster Linie die Aufgabe hat, die
Entscheidungen der FG zu überprüfen, wohingegen die FG
dem Rechtsuchenden den ersten Zugang zum Richter zu bieten
haben.
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bb) Danach ist die Sache an das FG zur
ergänzenden Tatsachenfeststellung zurückzuverweisen. Das
FG hat zu den Mängeln der der Antragstellerin zunächst
vorliegenden Rechnungen keinerlei Feststellungen getroffen. Im
Streitfall ist es dem Senat auch weder anhand der vorliegenden
Akten noch anhand der präsenten Beweismittel feststellbar, wie
die Mängel, die die der Antragstellerin zunächst
erteilten Rechnungen aufwiesen, später behoben worden
sind.
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Insoweit ist zu beachten, dass, wenn die
Möglichkeit einer Rückwirkung der Rechnungsberichtigung
auf den Zeitpunkt der erstmaligen Rechnungserteilung zu bejahen
ist, die Rechnungsberichtigung aber von einer erstmaligen
Rechnungserteilung abzugrenzen ist. Hierzu sind weitere
Feststellungen zu treffen. Dabei kann das FG von der Berichtigung
einer bereits zuvor erteilten Rechnung jedenfalls dann ausgehen,
wenn das zunächst erteilte „Dokument“, das
später berichtigt werden soll, zumindest die Merkmale des
Rechnungsbegriffs des § 14c UStG aufweist und daher Angaben
zum Rechnungsaussteller, zum Leistungsempfänger, zur
Leistungsbeschreibung, zum Entgelt und zur gesondert ausgewiesenen
Umsatzsteuer enthält (BFH-Urteil vom 17.2.2011 V R 39/09, BFHE
233, 94, BStBl II 2011, 734 = SIS 11 16 52, unter II.c bb ddd).
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