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I. Die im Dezember 1972 geborene Frau T ist
die Tochter des Beigeladenen, der kindergeldberechtigt ist. T ist
seit ihrer Kindheit schwerbehindert. Der Schwerbehindertenausweis
weist den Grad der Behinderung mit 100 sowie die Merkzeichen B, G,
H und RF aus. T ist auf Kosten des Klägers und
Revisionsklägers (Kläger), des Bezirks B, in einem
Wohnheim und einer Werkstatt für behinderte Menschen
untergebracht.
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Der Kläger begehrte die Auszahlung von
Kindergeld nach § 74 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in
Höhe von monatlich 46 EUR ab Oktober 2005 wegen
unterhaltsrechtlicher Leistungsunfähigkeit des Beigeladenen.
Mit Bescheid vom 16.2.2006 lehnte die Beklagte und
Revisionsbeklagte (Familienkasse) diesen Antrag ab. Den hiergegen
gerichteten Einspruch wies die Familienkasse mit
Einspruchsentscheidung vom 3.11.2006 als unbegründet
zurück. Zur Begründung wurde u.a. ausgeführt, dass
eine Abzweigung ausscheide, weil der kindergeldberechtigte
Elternteil seine Unterhaltspflicht erfülle.
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Die hiergegen gerichtete Klage wies das
Finanzgericht (FG) nach Beiladung des Vaters der T als
unbegründet ab. Zur Begründung verwies es im Wesentlichen
darauf, dass die Entscheidung der Familienkasse, das Kindergeld in
voller Höhe an den Beigeladenen auszuzahlen und keinen
Teilbetrag an den Kläger abzuzweigen, ermessensfehlerfrei
zustande gekommen sei.
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Mit der Revision rügt der Kläger
die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
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Der Kläger beantragt, das Urteil des
FG aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, im Rahmen der
Abzweigung an den Kläger Kindergeld in Höhe des
anteiligen Unterhaltsbeitrages in Höhe von 46 EUR ab
1.10.2005, 48,99 EUR ab 1.1.2009 und 54,96 EUR ab 1.1.2010 zu
leisten.
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Die Familienkasse beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
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Der Beigeladene beantragt, entsprechend dem
Urteil des FG zu entscheiden.
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II. Die Revision ist begründet. Sie
führt nach § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der
Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung der Vorentscheidung sowie
zur Zurückverweisung der Sache an das FG.
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1. a) Das FG hat die Grundsätze über
die Auslegung des Klagebegehrens nicht hinreichend beachtet. Nach
§ 96 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 FGO ist das Gericht an die
Fassung des Klageantrags nicht gebunden, sondern hat im Wege der
Auslegung den Willen der Partei anhand der erkennbaren
Umstände zu ermitteln (vgl. Senatsurteil vom 27.1.2011 III R
65/09, BFH/NV 2011, 991 = SIS 11 15 79, m.w.N.). Dies ist auch noch
in der Revisionsinstanz möglich und geboten. Das Wesen der
Klage wird nicht durch den Wortlaut des Klageantrags bestimmt,
sondern durch den begehrten richterlichen Ausspruch. Hierbei ist zu
berücksichtigen, dass im Zweifel das gewollt ist, was nach den
Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der
recht verstandenen Interessenlage entspricht (vgl. Urteil des
Bundesfinanzhofs - BFH - vom 29.4.2009 X R 35/08, BFH/NV 2009, 1777
= SIS 09 32 33, m.w.N.). Nur eine solche Auslegung trägt dem
Grundsatz der Rechtsschutz gewährenden Auslegung nach Art. 19
Abs. 4 des Grundgesetzes Rechnung (Senatsurteil in BFH/NV 2011, 991
= SIS 11 15 79, m.w.N.).
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Für den Fall, dass ein
Sozialleistungsträger das Begehren auf Auszahlung des
zugunsten des Berechtigten festgesetzten Kindergelds erhebt, die
Anspruchsgrundlage für dieses Begehren jedoch nicht eindeutig
oder unzutreffend darlegt, hat der Senat bereits entschieden, dass
im Wege der Auslegung zu ermitteln ist, ob eine Abzweigung nach
§ 74 Abs. 1 Satz 4 EStG oder eine Erstattung nach § 74
Abs. 2 EStG begehrt wird (vgl. Urteil vom 25.9.2008 III R 16/06,
BFH/NV 2009, 164 = SIS 09 02 58). Zu berücksichtigen ist dabei
in verfahrensrechtlicher Hinsicht, dass der Erstattungsanspruch
ohne Durchführung eines Vorverfahrens im Wege der nicht
fristgebundenen allgemeinen Leistungsklage geltend gemacht werden
kann (Senatsurteil vom 26.1.2006 III R 89/03, BFHE 212, 1, BStBl II
2006, 544 = SIS 06 16 77, m.w.N.).
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b) Im Streitfall hat der Kläger mit
Schreiben vom 11.10.2005 gegenüber der Familienkasse den
Erstattungsanspruch nach § 104 des Zehnten Buches
Sozialgesetzbuch (SGB X) angezeigt und nach § 74 Abs. 2 EStG
Erstattung verlangt. Im Bescheid vom 16.2.2006 hat die
Familienkasse auch nur die Erstattung nach § 74 EStG i.V.m.
§§ 103, 104 SGB X abgelehnt. Zu beachten ist auch, dass
der Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X kraft Gesetzes
entsteht und daher im Gegensatz zur Abzweigung nach § 74 Abs.
1 Satz 4 EStG keine Ermessensentscheidung der Familienkasse
erforderlich ist. Zudem hat der Kläger seinen
Auszahlungsanspruch nicht auf den gesamten monatlichen
Kindergeldbetrag gerichtet, sondern ihn auf den von dem
Beigeladenen nach § 94 Abs. 2 des Zwölften Buches
Sozialgesetzbuch (SGB XII) geforderten Unterhaltsbeitrag in
Höhe von zunächst 46 EUR pro Monat beschränkt. Liegt
ein solcher von § 104 Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 SGB X erfasster
Fall der Geltendmachung eines Aufwendungsersatzanspruchs bzw. der
Erhebung eines Kostenbeitrags vor, kommt hinzu, dass nach §
104 Abs. 1 Satz 4 2. Halbsatz SGB X - anders als bei dem
Erstattungsanspruch nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X - auch die
Erfordernisse der Gleichartigkeit und Nachrangigkeit der von dem
Sozialleistungsträger erbrachten Leistungen gegenüber dem
Kindergeld nicht erfüllt sein müssen. Dies spricht unter
Berücksichtigung der Interessenslage des Klägers
dafür, den Antrag dahin auszulegen, dass das
Auszahlungsbegehren nicht nur auf den Abzweigungsanspruch nach
§ 74 Abs. 1 EStG, sondern jedenfalls auch - wenn nicht sogar
primär - auf den Erstattungsanspruch nach § 74 Abs. 2
EStG i.V.m. § 104 Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 SGB X oder
gegebenenfalls auch i.V.m. § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X
gestützt wird. Entsprechend hat der Kläger in seinen
Schreiben selbst teils von Abzweigung und teils von Erstattung
gesprochen.
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2. Voraussetzung für diesen
Erstattungsanspruch nach § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 104
Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 SGB X ist nur, dass der Kläger
gegenüber dem Beigeladenen einen Kostenbeitrag festgesetzt hat
(vgl. BFH-Urteil vom 25.5.2004 VIII R 21/03, BFH/NV 2005, 171 = SIS 05 07 48, m.w.N.) und der Beigeladene diesen nicht oder nicht in
vollem Umfang erbracht hat. Hierauf deuten die Schreiben des
Klägers vom 11.10.2005 (Bl. 525 der Kindergeldakte) und
20.1.2006 (Bl. 537 der Kindergeldakte) hin. Im Einzelnen ist dies
aber von dem FG noch festzustellen.
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Liegt ein solcher bestandskräftiger
Bescheid vor, sehen im Übrigen bereits die einschlägigen
Verwaltungsanweisungen eine Erstattungspflicht der Familienkasse in
dem Umfang vor, in dem der Kostenbeitrag nicht geleistet wurde bzw.
wird (vgl. DA 74.2.1 Abs. 3 der Dienstanweisung zur
Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X.
Abschnitt des Einkommensteuergesetzes, Stand 2011, BStBl I 2009,
1033, BStBl I 2011, 21, 716 = SIS 10 42 38).
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3. Alternativ käme auch ein
Erstattungsanspruch nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X in
Betracht. Hierbei wäre jedoch zu berücksichtigen, dass
für den Erstattungsanspruch nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB
X die Gleichartigkeit der gewährten Sozialleistungen und die
Nachrangigkeit der von dem Kläger gewährten
Sozialleistungen gegenüber dem von der Familienkasse
gewährten Kindergeld erforderlich sind. Insoweit wäre die
genaue Zusammensetzung der für T von dem Kläger
gewährten Leistungen noch durch das FG festzustellen. Auf die
insoweit ergangenen Entscheidungen des BFH zur Sozialhilfe (vgl.
Urteil vom 14.5.2002 VIII R 88/01, BFH/NV 2002, 1156 = SIS 02 87 05) und zur Eingliederungshilfe für behinderte Menschen (vgl.
Urteil vom 7.12.2004 VIII R 57/04, BFH/NV 2005, 862 = SIS 05 22 00)
wird verwiesen.
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4. a) Schließlich käme auch ein
Abzweigungsanspruch nach § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG in Betracht.
Insoweit ist das FG bei der Prüfung, ob die Familienkasse ihr
Ermessen im Rahmen der durch die Einspruchsentscheidung vom
3.11.2006 erfolgten Ablehnung der Abzweigung
ordnungsgemäß ausgeübt hat, von anderen
Rechtsgrundsätzen ausgegangen, als sie der Senat in dem - nach
der FG-Entscheidung ergangenen - Urteil vom 9.2.2009 III R 37/07
(BFHE 224, 290, BStBl II 2009, 928 = SIS 09 15 26) zugrunde gelegt
hat. In dieser Entscheidung hat der Senat die aus dem Senatsurteil
vom 23.2.2006 III R 65/04 (BFHE 212, 481, BStBl II 2008, 753 = SIS 06 30 01) zu ziehenden Folgerungen nochmals erläutert. Danach
hängt die Entscheidung über die Abzweigung davon ab, ob
und in welcher Höhe den Eltern - den Grund- und den
behinderungsbedingten Mehrbedarf betreffende - Aufwendungen
für das Kind entstanden sind. Dabei sind auch im
Verhältnis zu den Kosten des Sozialleistungsträgers
geringe Aufwendungen für das Kind miteinzubeziehen. Zu
berücksichtigen sind jedoch nur die den Eltern im Zusammenhang
mit der Betreuung und dem Umgang mit dem Kind tatsächlich
entstandenen und glaubhaft gemachten Aufwendungen. Dagegen
dürfen keine fiktiven Betreuungskosten berücksichtigt
werden und es kann auch nicht grundsätzlich auf eine
Bezifferung oder gegebenenfalls eine Schätzung des den Eltern
entstandenen Aufwands verzichtet werden.
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b) Im Streitfall hat das FG dagegen nur
ausgeführt, die Entscheidung der Familienkasse sei nicht
ermessensfehlerhaft, da der Beigeladene mitgeteilt habe, dass er T
praktisch zu 50 % der Zeit betreue, und dies durch
Kalendermarkierungen glaubhaft gemacht habe. Insofern hätte
das FG jedoch im Rahmen der nach § 102 Satz 1 FGO
durchzuführenden Überprüfung feststellen
müssen, ob die Familienkasse ihre Entscheidung auf der
Grundlage des einwandfrei und erschöpfend ermittelten
Sachverhalts getroffen und dabei die Gesichtspunkte
tatsächlicher und rechtlicher Art berücksichtigt hat, die
nach Sinn und Zweck der Norm, die das Ermessen einräumt,
maßgeblich sind (vgl. BFH-Urteile vom 22.2.1972 VII R 80/69,
BFHE 105, 220, BStBl II 1972, 544 = SIS 72 03 21, und vom 22.6.1990
III R 150/85, BFHE 161, 4, BStBl II 1991, 864 = SIS 90 19 52; Kruse
in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 102
FGO Rz 5). Hierzu wäre erforderlich gewesen, dass für den
konkreten Streitzeitraum die Anzahl der Fahrten des Beigeladenen
und die Aufenthaltstage der T bei dem Beigeladenen ermittelt worden
wären und festgestellt bzw. erforderlichenfalls geschätzt
worden wäre, welche Kosten dem Beigeladenen insoweit
entstanden sind. Sofern der Beigeladene andere Aufwendungen im
Zusammenhang mit dem Grund- und/oder dem behinderungsbedingten
Mehrbedarf der T geltend macht, wäre ebenfalls festzustellen
gewesen, ob und gegebenenfalls inwieweit der Beigeladene
tatsächlich solche Kosten getragen hat.
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Sofern der Kläger nicht bereits über
den geltend gemachten Erstattungsanspruch sein Klageziel erreicht,
hat das FG eine Prüfung der Sachverhaltsermittlung durch die
Familienkasse im zweiten Rechtsgang nachzuholen.
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5. Im Übrigen muss der Senat nicht
entscheiden, ob dem FG die von dem Kläger gerügten
Verfahrensfehler unterlaufen sind. Führt die Revision - wie im
Streitfall - aus materiellen Gründen zur Aufhebung der
Vorentscheidung, muss nicht mehr darüber entschieden werden,
ob außerdem ein Verfahrensfehler vorliegt (vgl. BFH-Urteil
vom 21.1.2010 VI R 51/08, BFHE 228, 85, BStBl II 2010, 700 = SIS 10 05 61; Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 118 FGO Rz
256).
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