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I. Der Kläger und Revisionsbeklagte
(Kläger) bezog vom Jobcenter, dem Beigeladenen und
Revisionskläger (Beigeladener), im streitigen Zeitraum (August
2008 bis Januar 2009) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
und zur Bestreitung der Kosten für Unterkunft und Heizung nach
dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Die Leistungen beliefen
sich auf monatlich 1.414,69 EUR (August 2008) und 1.425,69 EUR (ab
September 2008). Zur Bedarfsgemeinschaft gehörten auch die
Ehefrau des Klägers sowie die gemeinsame Tochter. Der im Juli
1989 geborene Sohn (S) des Klägers lebte im streitigen
Zeitraum in einer eigenen Wohnung. Auch S erhielt Leistungen zum
Lebensunterhalt nach dem SGB II. Bei der Berechnung der Höhe
der Leistungen nach dem SGB II für den Kläger
berücksichtigte der Beigeladene im Streitzeitraum das
Kindergeld für die Tochter als Einkommen des Klägers,
nicht aber den Anspruch auf Kindergeld für S.
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Die Beklagte und Revisionsklägerin
(Familienkasse) setzte gegenüber dem Kläger Kindergeld
für S durch Bescheid vom 26.1.2009 ab August 2008 fest. Da der
Beigeladene einen Erstattungsanspruch geltend gemacht hatte,
stellte sie darüber hinaus in dem Bescheid fest, dass der
Anspruch des Klägers auf Kindergeld für S für die
Zeit von August 2008 bis Januar 2009 in Höhe von 934 EUR
erfüllt sei. Ab Februar 2009 zahlte die Familienkasse das
Kindergeld für S an den Kläger aus.
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Gegen den Abrechnungsbescheid wandte sich
der Kläger mit seinem Einspruch. Die Familienkasse wies den
Rechtsbehelf als unbegründet zurück.
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Im anschließenden Klageverfahren hob
das Finanzgericht (FG), das den Beigeladenen am Verfahren beteiligt
hatte, den Abrechnungsbescheid sowie die dazu ergangene
Einspruchsentscheidung auf (EFG 2011, 1174). Es war der Ansicht,
dass in den Fällen, in denen das Kind eines
Hilfeempfängers in einem eigenen Haushalt lebe, das Kindergeld
nur dann als dessen Einkommen anzurechnen sei, wenn es an dieses
abgezweigt worden oder ihm zumindest tatsächlich zugeflossen
sei. S habe in einem eigenen Haushalt gelebt und einen eigenen
Anspruch auf Sozialleistungen gehabt; auch sei das Kindergeld nicht
an S ausgezahlt oder abgezweigt worden. Der Beigeladene habe daher
den Kindergeldanspruch des Klägers nicht als Einkommen
berücksichtigt.
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Gegen das Urteil des FG wenden sich sowohl
die Familienkasse als auch der Beigeladene jeweils mit ihrer
Revision.
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Die Familienkasse trägt zur
Begründung ihrer Revision vor, das FG gehe zwar zutreffend
davon aus, dass abgezweigtes oder weitergeleitetes Kindergeld als
Einkommen des im eigenen Haushalt lebenden Kindes anzusehen sei.
Allerdings sei der Umkehrschluss unzutreffend, dass das Kindergeld
in den übrigen Fällen nicht als Einkommen von Eltern
anzusehen sei, die selbst Leistungen nach dem SGB II
bezögen.
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Der Beigeladene trägt zur
Begründung der von ihm eingelegten Revision im Wesentlichen
vor, die für einen Erstattungsanspruch erforderliche
Gleichartigkeit von Kindergeld und Leistungen nach dem SGB II sei
hier gegeben, weil das Kindergeld für S, wenn es an den
Kläger ausgezahlt worden wäre, als dessen Einkommen
anzusehen gewesen wäre. Lediglich für die im Haushalt des
Klägers lebende Tochter sei das Kindergeld angerechnet
worden.
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Die Familienkasse und der Beigeladene
beantragen, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage
abzuweisen.
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Der Kläger beantragt, die Revisionen
als unbegründet zurückzuweisen.
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Ein Erstattungsanspruch bestehe nicht. Das
Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe im Beschluss vom 14.7.2011 1
BvR 932/10 (NJW 2011, 3215 = SIS 11 27 60) klargestellt, dass das
Kindergeld in voller Höhe für das Kind einzusetzen sei.
Dies gelte auch dann, wenn es in einem eigenen Haushalt lebe. Aus
diesem Grund sei das Kindergeld nicht als sein - -des Klägers
- Einkommen anzusetzen.
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II. Die Revisionen der Familienkasse und des
Beigeladenen sind begründet. Sie führen zur Aufhebung des
angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs.
3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO - ). Das FG hat
einen Erstattungsanspruch des Beigeladenen zu Unrecht verneint. Der
angefochtene Abrechnungsbescheid ist rechtmäßig.
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1. Das FG hat zutreffend entschieden, dass der
Kindergeldanspruch des Klägers nicht nach § 74 Abs. 2 des
Einkommensteuergesetzes in der für den Streitzeitraum
maßgeblichen Fassung (EStG) i.V.m. § 104 des Zehnten
Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) wegen eines Erstattungsanspruchs
des Beigeladenen im Hinblick auf die gegenüber S erbrachten
Sozialleistungen erloschen ist.
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a) Hat ein nachrangig verpflichteter
Leistungsträger Sozialleistungen erbracht, ohne dass die -
hier nicht einschlägigen - Voraussetzungen des § 103 Abs.
1 SGB X vorliegen, ist nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X der
Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der
Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit der
Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er
von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt
hat. Nachrangig verpflichtet ist ein Leistungsträger, soweit
er bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung
eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung
verpflichtet gewesen wäre (§ 104 Abs. 1 Satz 2 SGB
X).
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b) Eine Erstattung nach § 104 Abs. 1 SGB
X setzt voraus, dass die von verschiedenen Trägern erbrachten
Leistungen gleichartig sind, d.h. dass sie für die gleichen
Zeiträume bestimmt sind und sich in der Leistungsart und
Zweckbestimmung entsprechen. Außerdem muss zwischen ihnen ein
Verhältnis von vorrangiger und nachrangiger Verpflichtung zur
Leistung bestehen (Senatsurteile vom 17.4.2008 III R 33/05, BFHE
221, 47, BStBl II 2009, 919 = SIS 08 29 13; vom 17.7.2008 III R
87/06, BFH/NV 2008, 1833 = SIS 08 38 04; vom 19.6.2008 III R 89/07,
BFH/NV 2008, 1995 = SIS 08 41 21; vom 19.4.2012 III R 85/09, BFHE
237, 145, BFH/NV 2012, 1369 = SIS 12 16 83; vom 26.7.2012 III R
28/10, BFH/NV 2012, 1874 = SIS 12 27 00).
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c) Lebt das durch Sozialleistungen nach dem
SGB II unterstützte Kind, für das ein Elternteil
Kindergeld begehrt, im eigenen Haushalt, so fehlt es hinsichtlich
der an das Kind gezahlten Leistungen und dem Kindergeld am
Verhältnis von Gleichartigkeit und Nachrangigkeit, sofern das
Kindergeld nicht an das Kind abgezweigt oder an das Kind
weitergeleitet wird (Senatsurteile in BFHE 221, 47, BStBl II 2009,
919 = SIS 08 29 13, sowie in BFH/NV 2012, 1874 = SIS 12 27 00). In
einem solchen Fall ist das Kindergeld sozialrechtlich dem Einkommen
des Kindergeldberechtigten zuzurechnen (Senatsurteil in BFH/NV
2012, 1874 = SIS 12 27 00). Auch § 104 Abs. 2 SGB X erlaubt es
nicht, die an den im eigenen Haushalt lebenden Angehörigen -
im Streitfall an S - erbrachten Sozialleistungen dem
Kindergeldberechtigten zuzurechnen. Denn der Erstattungsanspruch
nach § 104 Abs. 2 SGB X ist kein von den Voraussetzungen des
§ 104 Abs. 1 SGB X unabhängiger Anspruch eigener Art,
sondern erweitert diesen nur (Senatsurteile in BFHE 221, 47, BStBl
II 2009, 919 = SIS 08 29 13; in BFH/NV 2008, 1833 = SIS 08 38 04;
vom 7.4.2011 III R 88/09, BFH/NV 2011, 1326 = SIS 11 23 32, sowie
in BFH/NV 2012, 1874 = SIS 12 27 00).
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d) Im Streitfall wurde das Kindergeld nicht an
S abgezweigt oder an ihn weitergeleitet, so dass es sozialrechtlich
dem Einkommen des Klägers zuzurechnen gewesen wäre, wenn
es an ihn ausgezahlt worden wäre. Im Hinblick auf die an S
erbrachten Leistungen nach dem SGB II gilt der Kindergeldanspruch
des Klägers somit nicht nach § 107 SGB X als
erfüllt.
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2. Das FG hat jedoch zu Unrecht nicht
geprüft, ob hinsichtlich der vom Kläger bezogenen
Sozialleistungen und seines Anspruchs auf Kindergeld für S die
Voraussetzungen der Gleichartigkeit und des Verhältnisses von
Vor- und Nachrangigkeit erfüllt sind. Dies ist zu bejahen.
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a) Das nach den §§ 62 ff. EStG zu
gewährende Kindergeld ist, soweit es der
Familienförderung dient, ebenso dazu bestimmt, die allgemeinen
Lebenshaltungskosten zu bestreiten, wie dies bei den vom
Sozialleistungsträger erbrachten oder zu erbringenden
Leistungen zum Lebensunterhalt der Fall ist (Urteil des
Bundesfinanzhofs vom 14.5.2002 VIII R 88/01, BFH/NV 2002, 1156 =
SIS 02 87 05; Senatsurteile in BFH/NV 2008, 1833 = SIS 08 38 04,
sowie in BFHE 221, 47, BStBl II 2009, 919 = SIS 08 29 13, jeweils
zur Sozialhilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz. Senatsurteil in
BFH/NV 2012, 1874 = SIS 12 27 00, auch zu Leistungen nach dem SGB
II).
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b) Auch sind die Leistungen nach dem SGB II,
die an den Kläger für seine Bedarfsgemeinschaft
ausgezahlt wurden, nachrangig gegenüber dem Kindergeld. Dieses
wäre bei einer vorherigen Auszahlung bei der Ermittlung der
Höhe der Leistungen nach dem SGB II zu berücksichtigen
gewesen (Senatsurteil in BFH/NV 2012, 1874 = SIS 12 27 00). Die vom
Kläger für die Bedarfsgemeinschaft bezogenen Leistungen
waren unstreitig nicht im Hinblick auf seinen Anspruch auf
Kindergeld für S gemindert. Diesen ungekürzten Leistungen
ist der Kindergeldanspruch für S gegenüberzustellen.
Kindergeld, das nicht im Wege der Abzweigung oder der Weiterleitung
an das Kind gelangt ist, führt - wie bereits ausgeführt -
sozialrechtlich zu Einkommen des Kindergeldberechtigten. Da es bei
Anwendung des § 104 SGB X allein auf die sozialrechtliche
Zuweisung des Kindergeldes ankommt, ist es unerheblich, dass
aufgrund der ab 1.1.2008 in Kraft getretenen Änderung des
§ 1612b des Bürgerlichen Gesetzbuches das Kindergeld
zivilrechtlich dem Einkommen des Kindes zugewiesen wird (s.
Beschluss des BVerfG in NJW 2011, 3215 = SIS 11 27 60).
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c) Im Hinblick auf die vom Kläger
bezogenen Leistungen nach dem SGB II gilt der Kindergeldanspruch
gemäß § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 107 Abs. 1 SGB
X als erfüllt. Der Abrechnungsbescheid vom 26.1.2009, in dem
diese Erfüllungsfiktion für den Zeitraum August 2008 bis
Januar 2009 in Höhe von 934 EUR festgestellt wird, ist
rechtmäßig.
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