Auf die Revision des Klägers wird das
Urteil des Finanzgerichts Münster vom 25.01.2018 - 6 K 1013/15
= SIS 18 05 65 aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht
Münster zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung
zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die
Kosten des Verfahrens übertragen.
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I. Der Kläger und Revisionskläger
(Kläger) ist Insolvenzverwalter des Nachlasses des im Jahr
2017 verstorbenen E (Schuldner).
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Der Schuldner war Geschäftsführer
und Gesellschafter der E GmbH (GmbH), deren Geschäftsbetrieb
nach den Angaben des Schuldners seit 2005 ruhte. Fortan war er als
eingetragener Kaufmann … tätig.
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Seit dem Jahr 2005 gab der Schuldner
für sein Einzelgewerbe keine Steuererklärungen mehr ab.
Die Besteuerungsgrundlagen wurden seitdem gemäß §
162 der Abgabenordnung (AO) geschätzt. In der letzten Bilanz
des Einzelunternehmens von 2008 ist ein nicht durch Eigenkapital
gedeckter Fehlbetrag in Höhe von … EUR ausgewiesen. Zur
Aufrechterhaltung des Betriebs stellte die Ehefrau des Schuldners
diesem aus ihrem Privatvermögen erhebliche Mittel zur
Verfügung.
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Der Beklagte und Revisionsbeklagte
(Finanzamt - FA - ) setzte aufgrund einer im Jahr 2007
durchgeführten Lohnsteueraußenprüfung erhebliche
Nachforderungen gegenüber der GmbH und dem Schuldner fest.
Eine von der Deutschen Rentenversicherung durchgeführte
Betriebsprüfung ergab ebenfalls eine Nachforderung gegen den
Schuldner.
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Mit Beschluss vom 15.10.2007, zuletzt
geändert durch Beschluss vom 26.01.2010, arrestierte das
Amtsgericht U auf Antrag der Staatsanwaltschaft
Steuererstattungsansprüche des Schuldners gegen das FA in
Höhe von (zuletzt) … EUR. Im Zeitraum von Oktober 2007
bis Juli 2011 wurden die bei der Staatsanwaltschaft vom FA und den
Sozialversicherungsträgern angemeldeten Forderungen mit den
arrestierten Umsatzsteuererstattungsansprüchen
verrechnet.
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[Im Jahr] 2012 beantragte der Schuldner
selbst beim Amtsgericht - Insolvenzgericht - U die Eröffnung
des Insolvenzverfahrens (Aktenzeichen …). Dieses wurde [im
Jahr] 2012 eröffnet und der Kläger (nach Versterben des
ursprünglichen Insolvenzverwalters …) zum
Insolvenzverwalter bestellt. Nachdem der Schuldner [im Jahr] 2017
verstorben war, leitete das Amtsgericht - Insolvenzgericht - U mit
Beschluss vom … das Insolvenzverfahren über den
Nachlass des Schuldners ein.
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Das FA hatte im Zeitraum von April 2009 bis
Oktober 2011 auf mehrfache Bitte des Schuldners Aufrechnungen von
fälligen Umsatzsteuererstattungsbeträgen mit
Lohnsteuerforderungen vorgenommen. In der Folge kam es zu
Aufrechnungen in Höhe eines noch streitigen Betrags von
… EUR.
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Ab Mai 2013 machte der Kläger
verschiedene Anfechtungsansprüche gegenüber dem FA
geltend und wies darauf hin, dass die Aufrechnungen nach § 96
Abs. 1 Nr. 3 der Insolvenzordnung (InsO) unwirksam seien, weil das
FA die Möglichkeit der Aufrechnung der
Umsatzsteuererstattungsansprüche unter anderem für den
Zeitraum April 2009 bis Oktober 2011 mit seinen
Lohnsteuerforderungen gegen den Schuldner in nach § 133 InsO
anfechtbarer Weise erlangt habe.
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Das FA erließ am 19.08.2014 einen
Abrechnungsbescheid nach § 218 Abs. 2 AO, in dem es
feststellte, dass die Umsatzsteuererstattungsansprüche mit den
Lohnsteuerforderungen von März 2009 bis Dezember 2011 wirksam
aufgerechnet worden und deshalb erloschen seien.
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Dem hiergegen eingelegten Einspruch half
das FA in Bezug auf die Umsatzsteuererstattungsansprüche
für November 2011 und für Dezember 2011 ab und wies den
Einspruch im Übrigen zurück (vergleiche
Einspruchsentscheidung vom 27.02.2015).
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Das Finanzgericht (FG) urteilte, die
Aufrechnungen durch das FA seien wirksam und der
Abrechnungsbescheid daher rechtmäßig. Im Zeitpunkt der
Aufrechnungserklärungen durch das FA habe eine
Aufrechnungslage bestanden. Die erklärten Aufrechnungen seien
nicht nach § 96 Abs. 1 Nr. 3, § 133 InsO unzulässig.
Die anfechtbaren Rechtshandlungen seien vorliegend in der
Inanspruchnahme von umsatzsteuerpflichtigen (Dienst-)Leistungen zu
sehen, die beim Schuldner zu den
Umsatzsteuererstattungsansprüchen geführt hätten.
Infolge dieser Rechtshandlungen sei eine (jedenfalls mittelbare)
objektive Gläubigerbenachteiligung im Sinne von § 129
Abs. 1 InsO eingetreten. Das FA habe durch die
Leistungserbringungen und die daraus folgenden Ansprüche auf
Anrechnung von Vorsteuern die Möglichkeit zur Aufrechnung
erhalten, sodass die Umsatzsteuererstattungen nicht dem Schuldner
zugutegekommen seien und sich die Befriedigungsmöglichkeiten
der Gläubiger schlechter gestaltet hätten.
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Es könne dahinstehen, ob der Schuldner
diese Rechtshandlungen mit dem Vorsatz vorgenommen habe, seine
Gläubiger zu benachteiligen. Es spreche jedoch viel
dafür, dass der Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des
Schuldners ausgeschlossen sei, weil die Voraussetzungen einer
bargeschäftsähnlichen Lage im Sinne der Rechtsprechung
des Bundesgerichtshofs (BGH) angenommen werden müssten.
Aufgrund verschiedener Anhaltspunkte, zum Beispiel bestehender
Aufträge, könne jedenfalls nicht ausgeschlossen werden,
dass der Schuldner im hier zu beurteilenden Zeitraum noch die
berechtigte Erwartung gehabt habe, durch die Fortsetzung des
Betriebs die eigene Insolvenz abzuwenden, die vorhandenen
Liquiditätslücken schließen oder einen anderen
Nutzen für die Gläubiger erzielen zu können.
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Jedenfalls habe das FA keine Kenntnis vom
Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners gehabt. Im
Fall des bargeschäftsähnlichen Leistungsaustauschs sei
der Schluss von einer erkannten drohenden oder eingetretenen
Zahlungsunfähigkeit des Schuldners auf eine durch die
angefochtene Rechtshandlung bewirkte Gläubigerbehandlung nach
der Rechtsprechung des BGH nicht gerechtfertigt. Dem
Anfechtungsgegner könne in diesem Fall wegen des
gleichwertigen Leistungsaustauschs trotz Kenntnis von der
Zahlungsunfähigkeit des Schuldners die
gläubigerbenachteiligende Wirkung der Rechtshandlung nicht
bewusst geworden sein. Das FA habe zwar von der
Zahlungsunfähigkeit des Schuldners gewusst, aufgrund anderer
Anhaltspunkte habe es jedoch davon ausgehen dürfen, dass die
übrigen Gläubiger nicht benachteiligt
würden.
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Seine Revision begründet der
Kläger folgendermaßen: Die Fortsetzung des
Geschäftsbetriebs sei unmittelbare Voraussetzung für das
Entstehen der Umsatzsteuererstattungsansprüche und stelle eine
Rechtshandlung im Sinne von § 133 InsO dar. Das FA habe von
der eingetretenen Zahlungsunfähigkeit und von den bereits
gestellten Anträgen anderer Gläubiger gewusst. Es
verstoße dann aber gegen Denkgesetze anzunehmen, dass das FA
keine Kenntnis von einer defizitären Fortsetzung des Betriebs
gehabt habe. Der Kläger habe vor dem FG umfassend zum
defizitären Geschäftsbetrieb des Schuldners
spätestens seit April 2009 vorgetragen. Aufgrund der
Rechtsanwendung des FG würden die vom BGH aufgestellten
Voraussetzungen für das Vorliegen einer
bargeschäftsähnlichen Lage in unzulässiger Weise
ausgehöhlt. Nach der Auffassung des FG käme es lediglich
darauf an, dass eine kongruente Leistung, die zur Fortführung
des Unternehmens des Insolvenzschuldners erforderlich sei, erbracht
werde. Das Erfordernis einer Leistung Zug um Zug sowie die
Voraussetzung eines allgemeinen Nutzens für die übrigen
Gläubiger würden jedoch wegfallen und der
bargeschäftsähnliche Leistungsaustausch zur Regel in
Fällen der kongruenten Deckung. Jedenfalls sei die
Rechtsprechung des BGH zur bargeschäftsähnlichen
Situation auf den Streitfall nicht übertragbar, weil sich
diese nur auf ein Zwei-Personen-Verhältnis beziehe.
Voraussetzung für einen bargeschäftsähnlichen
Leistungsaustausch sei stets die Unmittelbarkeit von Leistung und
Gegenleistung. Die Verpflichtung, die Umsatzsteuer, die mit
Rechnungstellung fällig werde, abzuführen, und die
Möglichkeit, Vorsteuer anzumelden, hätten keinen
Aussagegehalt im Hinblick auf die tatsächliche Zahlung durch
den Schuldner an seinen Vertragspartner.
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Der Kläger beantragt,
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das FA unter Aufhebung der Vorentscheidung
zu verurteilen, den Abrechnungsbescheid vom 19.08.2014 in Gestalt
der Einspruchsentscheidung vom 27.02.2015 dahin zu ändern,
dass ein Erstattungsanspruch in Höhe von … EUR nebst
Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem
Basiszinssatz seit dem …2012 festgestellt wird.
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Das FA beantragt,
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die Revision zurückzuweisen.
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Es liege bereits keine Rechtshandlung des
Schuldners im Sinne von § 133 InsO vor. Anders als im Rahmen
der Deckungsanfechtung nach §§ 130, 131 InsO müsse
die Rechtshandlung im Sinne von § 133 InsO vom Schuldner
vorgenommen worden sein. Hieran fehle es, wenn sich der Schuldner
darauf beschränke, die berechtigte Vollstreckung eines
Gläubigers hinzunehmen, und sich angesichts einer
bevorstehenden oder bereits eingeleiteten
Vollstreckungsmaßnahme nicht anders verhalte, als er dies
ohne die Vollstreckungsmaßnahme getan hätte.
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Der Schuldner habe dem FA gegenüber
auch nicht mit Gläubigerbenachteiligungsvorsatz gehandelt. In
der Fortführung der normalen Arbeitstätigkeit könne
keine vorsätzliche Gläubigerbenachteiligung
begründet liegen. Die Rechtsprechung des BGH zum
bargeschäftsähnlichen Leistungsaustausch sei auf den
vorliegenden Sachverhalt übertragbar. Liege ein
bargeschäftsähnlicher Leistungsaustausch entweder
objektiv vor oder sei ein solcher zumindest aus Sicht des
Anfechtungsgegners anzunehmen, fehle es in jedem Fall an einer
Kenntnis der Gläubigerbenachteiligungsabsicht. Das FG habe
für den Bundesfinanzhof (BFH) bindend festgestellt, dass die
ausgewiesenen Leistungen gleichwertig und jeweils Zug um Zug in
einem zeitlichen Zusammenhang von Leistung und Gegenleistung
erbracht worden seien und daher unmittelbare Leistungsaustausche
vorlägen. Es werde auch bestritten, dass es - das FA -
Kenntnis von der Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung
des Schuldners gehabt habe. Es habe vielmehr seit 2005 keinen
Überblick über die gesamte finanzielle Situation des
Schuldners gehabt.
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II. Die Revision ist begründet und die
Vorentscheidung daher aufzuheben. Die Vorentscheidung verletzt
Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung -
FGO - ). Die Sache ist zur anderweitigen Verhandlung und
Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3
Satz 1 Nr. 2 FGO), weil der erkennende Senat nicht
abschließend in der Sache entscheiden kann. Das FG hat
bislang keine ausreichenden Feststellungen zu einem eventuellen
Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners und einer
Kenntnis des FA hiervon getroffen.
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1. Bezüglich der Aufrechnung der
Lohnsteuerforderungen gegen die
Umsatzsteuererstattungsansprüche des Schuldners hat das FG zu
Recht die allgemeinen Voraussetzungen der Aufrechnung bejaht. Es
ist allerdings zu Unrecht zu dem Ergebnis gekommen, dass die
Rechtsprechung des BGH zur bargeschäftsähnlichen Lage auf
den Streitfall übertragen werden kann und der Aufrechnung
demnach kein Aufrechnungsverbot entgegenstand.
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a) Gemäß § 218 Abs. 1 und Abs.
2 Satz 1 AO ergeht unter anderem dann ein Abrechnungsbescheid, wenn
die Verwirklichung von Ansprüchen aus dem
Steuerschuldverhältnis (§ 37 AO) und ihr Erlöschen
(§ 47 AO) durch Aufrechnung (§ 226 Abs. 1 AO i.V.m.
§§ 387 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuchs - BGB - )
streitig sind (vgl. z.B. Senatsurteil vom 18.02.2020 - VII R 39/18,
BFHE 268, 391, BStBl II 2023, 224 = SIS 20 10 33, Rz 22,
m.w.N.).
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Im Streitfall hat das FA zu Recht einen
Abrechnungsbescheid erlassen, weil (vorliegend noch) streitig ist,
ob die Lohnsteuerforderungen des FA betreffend den Zeitraum
März 2009 bis Oktober 2011 in Höhe von … EUR
wirksam gegen Umsatzsteuererstattungsansprüche des Schuldners
gemäß § 226 AO i.V.m. §§ 387 ff. BGB
aufgerechnet wurden und damit gemäß § 47 AO
erloschen sind.
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b) Die allgemeinen Voraussetzungen für
eine Aufrechnung gemäß § 226 AO i.V.m. § 387
ff. BGB waren erfüllt.
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aa) Die sich gegenüberstehenden
Forderungen waren gleichartig, weil es sich sowohl bei den
Lohnsteuerforderungen als auch bei den
Umsatzsteuererstattungsansprüchen um Geldforderungen
handelte.
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bb) Es handelte sich um gegenseitige
Forderungen, weil sie im Verhältnis zwischen dem Schuldner und
dem FA jeweils gegen den anderen gerichtet waren.
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cc) Die Lohnsteuerforderungen waren
gemäß § 41a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des
Einkommensteuergesetzes (EStG) am zehnten Tag nach Ablauf des
jeweiligen Lohnsteuer-Anmeldezeitraums - vorliegend der
Kalendermonat nach § 41a Abs. 2 Satz 1 EStG - fällig.
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dd) Die Umsatzsteuererstattungsansprüche
waren erfüllbar, weil das FA diesen gemäß §
168 AO zugestimmt hatte. Die Umsatzsteuer entsteht nach § 13
Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a des Umsatzsteuergesetzes (UStG) mit Ablauf
des Voranmeldungszeitraums, in dem die Leistungen ausgeführt
wurden.
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c) Das FG hat jedoch zu Unrecht die
Voraussetzungen einer bargeschäftsähnlichen Lage bejaht
und unter Anwendung dieser Grundsätze angenommen, dass der
Aufrechnung das Aufrechnungsverbot gemäß § 96 Abs.
1 Nr. 3 InsO nicht entgegenstand.
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aa) Nach § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO ist die
Aufrechnung unzulässig, wenn ein Insolvenzgläubiger die
Möglichkeit der Aufrechnung durch eine anfechtbare
Rechtshandlung erlangt hat. Die Vorschrift verfolgt das Ziel, den
Anfechtungsvorschriften der Insolvenzordnung (§§ 129 ff.
InsO) im Hinblick auf eine von einem Insolvenzgläubiger
erklärte Aufrechnung in dem Sinne Geltung zu verschaffen, dass
einer etwaigen Aufrechnungserklärung die Rechtswirkung
genommen und dadurch eine anderenfalls etwa notwendige Anfechtung
der betreffenden Rechtsvorgänge seitens des
Insolvenzverwalters überflüssig wird (vgl. Windel in
Jaeger, Insolvenzordnung, § 96 Rz 45 f.; Uhlenbruck/Sinz,
Insolvenzordnung, 16. Aufl., § 96 Rz 46). Sie ist dahin zu
verstehen, dass der Erwerb der Möglichkeit der Aufrechnung
zugunsten eines späteren Insolvenzgläubigers erfolgt sein
muss, dieser also nicht etwa bereits beim Erwerb dieser
Möglichkeit Insolvenzgläubiger, mithin das
Insolvenzverfahren beim Erwerb noch nicht anhängig gewesen
sein muss. Vielmehr schränkt § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO
gerade § 94 InsO ein, der grundsätzlich eine vor
Verfahrenseröffnung eingetretene Aufrechnungslage während
des Insolvenzverfahrens fortbestehen lässt und die Abgabe
einer Aufrechnungserklärung während desselben
zulässt (Karsten Schmidt/Thole, InsO, 20. Aufl., § 96 Rz
12; Senatsurteil vom 02.11.2010 - VII R 6/10, BFHE 231, 488, BStBl
II 2011, 374 = SIS 11 01 56, Rz 19, m.w.N.).
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bb) Im Streitfall liegen die in § 129
InsO geregelten allgemeinen Voraussetzungen der Insolvenzanfechtung
vor.
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(1) Das FA ist Insolvenzgläubiger der
Lohnsteuerforderungen, weil diese vor Eröffnung des
Insolvenzverfahrens [im Jahr] 2012 (Aktenzeichen …)
begründet worden waren und noch nicht beglichen worden sind
(§ 38 InsO).
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(2) Im Streitfall liegen anfechtbare
Rechtshandlungen vor.
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(a) Der Begriff der Rechtshandlung im Sinne
der §§ 129 ff. InsO ist weit auszulegen. Als
Rechtshandlung kommt jede Handlung in Betracht, die zum Erwerb
einer Gläubiger- oder Schuldnerstellung führt, das
heißt ein von einem Willen getragenes Handeln, das rechtliche
Wirkungen auslöst und das Vermögen des Schuldners zum
Nachteil der Insolvenzgläubiger verändern kann
(BGH-Urteil vom 22.10.2009 - IX ZR 147/06, HFR 2010, 413 = SIS 10 06 34, unter II.2.b aa, m.w.N.; vgl. auch BGH-Urteil vom 20.04.2017
- IX ZR 252/16, BGHZ 214, 350, Rz 28, m.w.N.). Erfasst werden nicht
nur Rechtsgeschäfte, sondern auch
rechtsgeschäftsähnliche Handlungen und Realakte, denen
das Gesetz Rechtswirkungen beimisst (BGH-Urteile vom 22.10.2009 -
IX ZR 147/06, HFR 2010, 413 = SIS 10 06 34, unter II.2.b aa; vom
14.12.2006 - IX ZR 102/03, BGHZ 170, 196, unter II.3.a, zum
Einbringen einer Sache, das zu einem Vermieterpfandrecht führt
und vom 09.07.2009 - IX ZR 86/08, Zeitschrift für
Wirtschaftsrecht - ZIP - 2009, 1674 = SIS 09 33 67, unter II.2.c aa, m.w.N., zum Brauen von Bier,
welches die Biersteuer und die Sachhaftung des Bieres entstehen
lässt). Dass die Rechtswirkungen (unabhängig vom Willen
der Beteiligten) kraft Gesetzes eintreten, ist dabei unbeachtlich
(vgl. Senatsurteil vom 02.11.2010 - VII R 62/10, BFHE 232, 290,
BStBl II 2011, 439 = SIS 11 09 31, Rz 20 f., unter Aufgabe der
früheren Rechtsprechung im Senatsurteil vom 16.11.2004 - VII R
75/03, BFHE 208, 296, BStBl II 2006, 193 = SIS 05 17 32).
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Unter anderem hat der erkennende Senat in
Übereinstimmung mit dem BGH und der allgemein vertretenen
Auffassung die Leistungserbringung im Umsatzsteuerrecht als eine
Rechtshandlung im Sinne des § 129 InsO angesehen (vgl.
Senatsurteile vom 02.11.2010 - VII R 62/10, BFHE 232, 290, BStBl II
2011, 439 = SIS 11 09 31, Rz 20 f. und vom 02.11.2010 - VII R 6/10,
BFHE 231, 488, BStBl II 2011, 374 = SIS 11 01 56, Rz 25; Probst in
Hartmann/Metzenmacher, Umsatzsteuergesetz, VIII.4.3.3 Rz 190; Kirch
in eKomm (Stand 22.02.2023), § 251 AO, Rz 57; Jatzke in
Hübschmann/Hepp/Spitaler - HHSp -, § 251 AO Rz 266). Die
Umsatzsteuer entsteht zwar von Gesetzes wegen, das Entstehen von
Umsatzsteuer beziehungsweise Vorsteuer setzt jedoch voraus, dass
eine Leistung erbracht wird (Senatsurteil vom 02.11.2010 - VII R
62/10, BFHE 232, 290, BStBl II 2011, 439 = SIS 11 09 31, Rz 20).
Auch der XI. Senat hat entschieden, dass Handlungen des Schuldners
oder Dritter, die zum Entstehen einer Umsatzsteuerschuld
führen, eine Rechtshandlung darstellen, durch die das
Schuldnervermögen belastet wird (BFH-Urteil vom 03.08.2022 -
XI R 44/20, BFHE 277, 46 = SIS 23 00 24, Rz 27). Nach dem
erkennenden Senat ist diese Rechtsprechung auch auf die Lohnsteuer
anzuwenden (Senatsurteil vom 18.04.2023 - VII R 35/19, zur
Veröffentlichung bestimmt); auf den Umstand, dass die
Lohnsteuer kraft Gesetzes durch Erfüllung der gesetzlichen
Tatbestandsvoraussetzungen, nämlich nach § 38 Abs. 2 Satz
2 EStG mit Zahlung des Arbeitslohns entsteht und nicht durch die
Rechtshandlung selbst, kommt es nicht an.
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35
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Darüber hinaus hat der erkennende Senat
auch die Herstellung einer Aufrechnungslage durch Rechtshandlungen
als eigenständige Rechtshandlung angesehen und ihre
selbständige Anfechtbarkeit bejaht (vgl. Senatsurteil vom
18.02.2020 - VII R 39/18, BFHE 268, 391, BStBl II 2023, 224 = SIS 20 10 33, Rz 37; vgl. auch BGH-Urteil vom 22.10.2009 - IX ZR
147/06, HFR 2010, 413 = SIS 10 06 34). Die Herstellung einer
Aufrechnungslage durch Rechtshandlungen wirkt grundsätzlich
gläubigerbenachteiligend im Sinne des § 129 Abs. 1 InsO,
da sich die Befriedigungsmöglichkeiten der übrigen
Insolvenzgläubiger durch eine wirksame Aufrechnung eines
Insolvenzgläubigers verschlechtern (vgl. BGH-Urteil vom
22.10.2009 - IX ZR 147/06, HFR 2010, 413 = SIS 10 06 34, unter
II.2.a; Senatsurteil vom 02.11.2010 - VII R 62/10, BFHE 232, 290,
BStBl II 2011, 439 = SIS 11 09 31, Rz 22 ff.).
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36
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Dass die Rechtshandlung unmittelbar und
unabhängig vom Hinzutreten etwaiger weiterer Umstände
(zum Beispiel Abgabe einer Steueranmeldung) eine Aufrechnungslage
zum Entstehen bringen müsste, setzt § 96 Abs. 1 Nr. 3
InsO nicht voraus. Er verlangt lediglich, dass die Rechtshandlung
vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorgenommen worden ist,
sie irgendeine Voraussetzung für die
Aufrechnungsmöglichkeit des Insolvenzschuldners geschaffen hat
und die Insolvenzgläubiger benachteiligt (Senatsurteile vom
02.11.2010 - VII R 62/10, BFHE 232, 290, BStBl II 2011, 439 = SIS 11 09 31, Rz 21 und vom 02.11.2010 - VII R 6/10, BFHE 231, 488,
BStBl II 2011, 374 = SIS 11 01 56, Rz 26, m.w.N.).
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37
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(b) Im Streitfall hat der Schuldner drei
Rechtshandlungen vorgenommen.
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(aa) Zunächst hat der Schuldner von
seinen Lieferanten Lieferungen und Leistungen gegen Entgelt
bezogen. Infolgedessen ist gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 1
Buchst. a UStG mit Ablauf des jeweiligen Voranmeldungszeitraums
Umsatzsteuer entstanden.
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(bb) Eine weitere Rechtshandlung liegt in der
Zahlung der Arbeitslöhne, wodurch gemäß § 38
Abs. 2 Satz 2 EStG im Zeitpunkt des Zuflusses des jeweiligen
Arbeitslohns Lohnsteuer entstanden ist.
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40
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(cc) Schließlich ist auch die
Herstellung einer Aufrechnungslage als Rechtshandlung anzusehen
(siehe oben).
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41
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(c) Zumindest die Überweisung der
Löhne und die Herstellung einer Aufrechnungslage haben zu
einer objektiven Gläubigerbenachteiligung geführt. Denn
durch die Überweisung der Löhne ist beim Schuldner
insofern eine Verschlechterung der Vermögenssituation
eingetreten, als er infolgedessen für die Entrichtung der
Lohnsteuer einzustehen hatte. Wie bereits aufgezeigt, entsteht die
Lohnsteuer gemäß § 38 Abs. 2 Satz 2 EStG in dem
Zeitpunkt, in dem der Arbeitslohn dem Arbeitnehmer zufließt.
Zwar ist gemäß § 38 Abs. 2 Satz 1 EStG der
Arbeitnehmer Schuldner der Lohnsteuer. Der Arbeitgeber haftet
jedoch gemäß § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG für die
Lohnsteuer, die er einzubehalten und abzuführen hat. Der
Haftungsanspruch entsteht (§ 38 AO), sobald die
einzubehaltende Lohnsteuer zum Fälligkeitszeitpunkt nicht an
das FA abgeführt wird (Schmidt/Krüger, EStG, 42. Aufl.,
§ 42d Rz 10). Dadurch besteht - zumindest mittelbar - die
Möglichkeit, dass das Vermögen des Schuldners
beeinträchtigt wird.
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42
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Ob auch die Beziehung von Lieferungen und
Leistungen zu einer objektiven Gläubigerbenachteiligung
geführt hat, ist zumindest insofern zweifelhaft, als der
Schuldner dadurch Umsatzsteuererstattungsansprüche erworben
hat.
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43
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cc) Das FG hat zu Unrecht die Voraussetzungen
des § 133 Abs. 1 InsO verneint.
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44
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Nach § 133 Abs. 1 InsO ist eine
Rechtshandlung anfechtbar, die der Schuldner in den letzten zehn
Jahren vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens
oder nach diesem Antrag mit dem Vorsatz, seine Gläubiger zu
benachteiligen, vorgenommen hat, wenn der andere Teil zur Zeit der
Handlung den Vorsatz des Schuldners kannte. Diese Kenntnis wird
vermutet, wenn der andere Teil wusste, dass die
Zahlungsunfähigkeit des Schuldners drohte und dass die
Handlung die Gläubiger benachteiligte.
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(1) Die oben genannten Rechtshandlungen wurden
innerhalb von zehn Jahren vor dem Antrag auf Eröffnung des
Insolvenzverfahrens vorgenommen. Dieser Antrag ist [im Jahr] 2012
beim Amtsgericht - Insolvenzgericht - U eingegangen.
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(2) Weiterhin muss der Schuldner die
Rechtshandlung mit dem Vorsatz vorgenommen haben, seine
Gläubiger zu benachteiligen.
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(a) Nach der BGH-Rechtsprechung handelt ein
Schuldner, der zahlungsunfähig ist und seine
Zahlungsunfähigkeit kennt, in der Regel mit
Benachteiligungsvorsatz. In diesem Fall weiß er, dass sein
Vermögen nicht ausreicht, um sämtliche Gläubiger zu
befriedigen (BGH-Urteile vom 12.02.2015 - IX ZR 180/12,
Wertpapier-Mitteilungen/Zeitschrift für Wirtschafts- und
Bankrecht - WM - 2015, 591, Rz 16 und vom 17.11.2016 - IX ZR 65/15,
DB 2016, 2958, Rz 13, jeweils m.w.N.). In Fällen kongruenter
Leistungen hat der BGH allerdings anerkannt, dass der Schuldner
trotz der Indizwirkung einer erkannten Zahlungsunfähigkeit
ausnahmsweise nicht mit Gläubigerbenachteiligungsvorsatz
handelt, wenn er seine Leistung Zug um Zug gegen eine zur
Fortführung seines Unternehmens unentbehrliche Gegenleistung
erbracht hat, die den Gläubigern im Allgemeinen nutzt. Der
subjektive Tatbestand kann hiernach entfallen, wenn im
unmittelbaren Zusammenhang mit der potentiell anfechtbaren
Rechtshandlung eine gleichwertige Gegenleistung in das
Vermögen des Schuldners gelangt, also ein Leistungsaustausch
ähnlich einem Bargeschäft stattfindet. Dem liegt die
Überlegung zugrunde, dass dem Schuldner in diesem Fall infolge
des gleichwertigen Leistungsaustauschs die dadurch eingetretene
mittelbare Gläubigerbenachteiligung nicht bewusst geworden
sein kann (BGH-Urteile vom 12.02.2015 - IX ZR 180/12, WM 2015, 591,
Rz 22; vom 17.12.2015 - IX ZR 61/14, WM 2016, 172, Rz 36 und vom
17.11.2016 - IX ZR 65/15, WM 2017, 51, Rz 31, jeweils m.w.N.).
Für das Vorliegen einer bargeschäftsähnlichen Lage
hat der BGH den unmittelbaren Austausch zwischen Leistung und
Gegenleistung als wesentlich angesehen (BGH-Urteil vom 12.02.2015 -
IX ZR 180/12, WM 2015, 591, Rz 24, m.w.N.). Auch im Falle eines
bargeschäftsähnlichen Leistungsaustauschs wird sich der
Schuldner der eintretenden mittelbaren
Gläubigerbenachteiligung allerdings dann bewusst werden, wenn
er weiß, dass er trotz Belieferung zu marktgerechten Preisen
fortlaufend unrentabel arbeitet und deshalb bei der
Fortführung seines Geschäfts mittels der durch
bargeschäftsähnliche Handlungen erworbenen
Gegenstände weitere Verluste anhäuft, die die
Befriedigungsaussichten der Gläubiger weiter mindern, ohne
dass auf längere Sicht Aussicht auf Ausgleich besteht
(BGH-Urteil vom 04.05.2017 - IX ZR 285/16, DB 2017, 1378, Rz 7,
m.w.N.).
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48
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(b) Ob der Schuldner die Rechtshandlungen mit
dem Vorsatz vorgenommen hat, seine Gläubiger zu
benachteiligen, hat das FG ausdrücklich offengelassen.
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49
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Die Würdigung der wesentlichen
Umstände des Einzelfalls obliegt dem FG (vgl. z.B.
BFH-Beschluss vom 21.06.2022 - VI R 20/20, BFHE 277, 338, BStBl II
2023, 87 = SIS 22 18 61, Rz 14, m.w.N.), weshalb eine
abschließende Entscheidung des erkennenden Senats nicht
möglich ist.
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50
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(3) Schließlich setzt eine
Anfechtbarkeit im Sinne von § 133 InsO voraus, dass der andere
Teil zur Zeit der Handlung den
Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners kannte.
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51
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(a) Die nach § 133 Abs. 1 Satz 1 InsO
erforderliche Kenntnis des Anfechtungsgegners vom
Benachteiligungsvorsatz des Schuldners muss sich, da Gegenstand
dieses Vorsatzes die vom Schuldner veranlasste
gläubigerbenachteiligende Rechtshandlung ist, auch darauf
erstrecken, dass die Gläubigerbenachteiligung durch eine vom
Schuldner ausgehende Rechtshandlung verursacht worden ist. Die
Voraussetzungen einer solchen Kenntnis dürfen nicht
überspannt werden. Der Anfechtungsgegner muss nicht alle
Einzelheiten kennen, aus denen sich das Vorliegen einer
Schuldnerhandlung ergibt. Es genügt, dass er einen solchen
Sachverhalt im Allgemeinen erkannt hat. Dies ist der Fall, wenn er
sich der Kenntnis nicht verschließen konnte, dass sein
Vermögenserwerb auf einer die Gläubigergesamtheit
benachteiligenden Rechtshandlung des Schuldners beruhte (BGH-Urteil
vom 01.06.2017 - IX ZR 48/15, ZIP 2017, 1281, Rz 25, m.w.N.).
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52
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Im Falle eines bargeschäftsähnlichen
Leistungsaustauschs ist dieser Schluss von erkannter drohender oder
eingetretener Zahlungsunfähigkeit des Schuldners auf eine
durch die angefochtene Zahlung bewirkte
Gläubigerbenachteiligung nicht gerechtfertigt. Insofern gilt
für die Kenntnis des Anfechtungsgegners nichts anderes als
für den Benachteiligungsvorsatz des Schuldners. Dem
Gläubiger kann in diesem Fall wegen des gleichwertigen
Leistungsaustauschs ebenso wie dem Schuldner trotz Kenntnis von
dessen Zahlungsunfähigkeit die gläubigerbenachteiligende
Wirkung der an ihn bewirkten Leistung nicht bewusst geworden sein.
Die gesetzliche Vermutung des § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO greift
dann nicht ein. Der zweite Teil des Vermutungstatbestands ist nicht
erfüllt. Anders liegt es nur, wenn der Anfechtungsgegner
weiß, dass der Schuldner unrentabel arbeitet und bei der
Fortführung seines Geschäfts weitere Verluste
erwirtschaftet. Dann weiß er auch, dass der
bargeschäftsähnliche Leistungsaustausch den übrigen
Gläubigern des Schuldners keinen Nutzen, sondern infolge der
an den Anfechtungsgegner fließenden Zahlungen Nachteile
bringt (vgl. BGH-Urteil vom 04.05.2017 - IX ZR 285/16, DB 2017,
1378, Rz 9).
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53
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(b) Die Rechtsprechung des BGH zum
bargeschäftsähnlichen Leistungsaustausch ist allerdings
nicht auf ein Drei-Personen-Verhältnis - wie im Streitfall -
übertragbar.
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54
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Wie bereits erwähnt, ist das wesentliche
Kriterium für ein Bargeschäft die Verknüpfung von
Leistung und Gegenleistung („do ut
des“). Da dieses Merkmal nur zwischen den
konkreten Vertragsparteien bestehen kann, kann die Rechtsprechung
zum bargeschäftsähnlichen Leistungsaustausch
denknotwendig nicht gegenüber Dritten gelten.
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55
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Das FA ist im Streitfall jedoch Dritter. Denn
im Zusammenhang mit den Lohnsteuerforderungen des FA besteht ein
vertragliches Verhältnis nur zwischen Arbeitnehmer und
Arbeitgeber mit der Verpflichtung des Arbeitnehmers zur Erbringung
der Arbeitsleistung und der Verpflichtung des Arbeitgebers zur
Zahlung des Lohns (§ 611 BGB).
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56
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Auch wenn der Arbeitnehmer gemäß
§ 38 Abs. 2 Satz 1 EStG Schuldner der Lohnsteuer ist, wird
dadurch kein Gegenleistungsverhältnis zum FA begründet,
weil dieses seinerseits keine Leistung gegenüber dem
Arbeitnehmer zu erbringen hat. Auch ein Zurückbehaltungsrecht
für den Fall der Nichtzahlung der Lohnsteuer steht dem FA
nicht zu.
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57
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Es besteht ferner kein Verhältnis von
Leistung und Gegenleistung zwischen dem Schuldner als Arbeitgeber
und dem FA. Die Haftung des Arbeitgebers nach § 42d Abs. 1 Nr.
1 EStG für Lohnsteuer, die er einzubehalten und
abzuführen hat, steht nicht unmittelbar im Zusammenhang mit
der Erbringung der Arbeitsleistung. Vielmehr setzt die Haftung eine
Steuerschuld des Arbeitnehmers voraus und ist damit akzessorisch
(Schmidt/Krüger, EStG, 42. Aufl., § 42d Rz 2).
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58
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Auch in der Literatur wird die
Übertragung der BGH-Rechtsprechung zum
bargeschäftsähnlichen Leistungsaustausch auf
Drei-Personen-Verhältnisse beziehungsweise die Verpflichtung
zur Abführung von Lohnsteuer abgelehnt (vgl. Frotscher, BB
2006, 353 ff.; Boeker in HHSp, § 69 AO Rz 32e ff.; vgl. auch
Jatzke in Gosch, AO § 69 Rz 46).
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59
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Soweit der erkennende Senat mit
Beschlüssen vom 21.12.1998 - VII B 175/98 (BFH/NV 1999, 745 =
SIS 98 57 11) und vom 11.08.2005 - VII B 244/04 (BFHE 210, 410,
BStBl II 2006, 201 = SIS 05 41 70) im Zusammenhang mit der Zahlung
des laufend arbeitsvertraglich geschuldeten Lohns entschieden hat,
dass die vom Arbeitgeber an das FA abzuführenden
Lohnsteuerbeträge zum Arbeitslohn gehören und Entgelt
für die von den Arbeitnehmern erbrachte Arbeitsleistung
darstellen, wird daran nicht mehr festgehalten. Aufgrund dessen
hatte der Senat die Gläubigerbenachteiligung verneint, sodass
damit auch die Kenntnis des FA von der
Gläubigerbenachteiligungsabsicht entfiele (offengelassen in
Senatsbeschluss vom 09.12.2005 - VII B 124-125/05, BFH/NV 2006, 897
= SIS 06 17 01, unter II.3.d cc).
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60
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Schließlich war das FA auch an der
Beziehung des Schuldners zu seinen Lieferanten nicht beteiligt.
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61
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Das FG ist in der angefochtenen
Vorentscheidung zu Unrecht davon ausgegangen, dass die
Rechtsprechung des BGH zum bargeschäftsähnlichen
Leistungsaustausch auch auf das vorliegende
Drei-Personen-Verhältnis übertragen werden kann und
aufgrund dessen eine Kenntnis des FA vom (eventuellen)
Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners im Sinne von
§ 133 Abs. 1 Satz 2 InsO ausgeschlossen ist.
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62
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2. Im zweiten Rechtsgang wird das FG die
Voraussetzungen der § 96 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 133 InsO
und insbesondere den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz unter
Beachtung der Rechtsauffassung des erkennenden Senats erneut zu
prüfen haben.
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63
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Außerdem wird das FG klären
müssen, ob das FA einen eventuellen
Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners kannte. Dabei
ist die Rechtsprechung des BGH zum bargeschäftsähnlichen
Leistungsaustausch außer Acht zu lassen und sind die
Umstände des vorliegenden Einzelfalls zu würdigen.
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64
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3. Sollte das FG im zweiten Rechtsgang zu dem
Ergebnis gelangen, dass die Aufrechnung aufgrund eines
Aufrechnungsverbots gemäß § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO
unzulässig war und die Umsatzsteuererstattungsansprüche
daher nicht gemäß § 47 AO erloschen sind, wird das
FG über eine Verzinsung des Erstattungsanspruchs zu
entscheiden haben.
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65
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a) Zunächst wird das FG das Klagebegehren
des Klägers ermitteln müssen. Dabei ist der Antrag des
Klägers auszulegen. Möglicherweise macht der Kläger
den insolvenzrechtlichen Zinsanspruch gemäß § 143
Abs. 1 Satz 2 InsO i.V.m. § 818 Abs. 4, §§ 819, 291,
288 Abs. 1 BGB geltend.
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66
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Nach § 96 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 FGO
ist das Gericht an die Fassung des Klageantrags nicht gebunden,
sondern hat im Wege der Auslegung den Willen der Partei anhand der
erkennbaren Umstände zu ermitteln (BFH-Urteile vom 12.06.1997
- I R 70/96, BFHE 183, 465, BStBl II 1998, 38 = SIS 98 01 43, unter
II.1., m.w.N. und vom 27.01.2011 - III R 65/09 = SIS 11 15 79, Rz 10). Hierbei ist zu
berücksichtigen, dass im Zweifel das gewollt ist, was nach den
Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der
recht verstandenen Interessenlage entspricht (BFH-Urteil vom
29.04.2009 - X R 35/08, BFH/NV 2009, 1777 = SIS 09 32 33, m.w.N.).
Nur eine solche Auslegung trägt dem Grundsatz der Rechtsschutz
gewährenden Auslegung nach Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes
Rechnung (BFH-Urteil vom 27.01.2011 - III R 65/09 = SIS 11 15 79, Rz 10, m.w.N.; Senatsbeschluss
vom 21.10.2020 - VII B 121/19 = SIS 21 00 66, Rz 24).
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67
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Eine Auslegung findet ihre Grenze in dem
erklärten Willen des Klägers. Ist der Klageantrag schon
dem Wortlaut nach eindeutig gestellt und wird dieser Wortlaut durch
die Ausführungen des Klägers im Übrigen
gestützt, so ist für eine Auslegung durch das Gericht
kein Raum mehr (Senatsurteil vom 13.12.1994 - VII R 18/93, BFH/NV
1995, 697, unter II.).
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68
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Allerdings unterscheidet § 96 Abs. 1 Satz
2 FGO zwischen dem Klagebegehren und der „Fassung der
Anträge“ und stellt dabei letztlich auf
das Klagebegehren ab. Daraus folgt, dass, wenn das FG auf die
wörtliche Fassung des Klageantrags abstellt, obwohl dieser dem
erkennbaren Klageziel des Klägers nicht entspricht, dies einen
Verstoß gegen § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO begründet
(vgl. BFH-Urteile vom 14.09.2017 - IV R 34/15 = SIS 17 22 17, Rz 16 und vom 04.09.2008 - IV R
1/07, BFHE 222, 220, BStBl II 2009, 335 = SIS 09 03 40, unter
II.3.a, m.w.N.; BFH-Beschlüsse vom 27.06.2017 - X B 106/16 =
SIS 17 18 71, Rz 22 und vom
19.08.2015 - V B 26/15 = SIS 15 22 81, Rz 18, jeweils m.w.N.).
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69
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Maßgeblich ist letztlich stets das
materielle Ziel der Klage und nicht dessen Formalisierung durch
einen Antrag (vgl. BFH-Beschlüsse vom 27.06.2017 - X B 106/16
= SIS 17 18 71, Rz 22 und vom
19.08.2015 - V B 26/15 = SIS 15 22 81, Rz 18; vgl. auch Lange in HHSp, § 96 FGO Rz 177;
Seer in Tipke/Kruse, § 96 FGO Rz 97).
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70
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b) Die allgemeine Leistungsklage ist
zulässig. Insbesondere ist die vorherige Durchführung
eines außergerichtlichen Vorverfahrens nach § 44 FGO
nicht erforderlich (vgl. auch BFH-Urteile vom 14.04.2021 - X R
25/19, BFHE 272, 319 = SIS 21 13 40, Rz 23 und vom 19.04.2012 - III
R 85/09, BFHE 237, 145, BStBl II 2013, 19 = SIS 12 16 83, Rz 10,
m.w.N.; Senatsurteil vom 18.04.2023 - VII R 35/19, zur
Veröffentlichung bestimmt).
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71
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c) Der Zinssatz des insolvenzrechtlichen
Zinsanspruchs beträgt gemäß § 288 Abs. 1 Satz
2 BGB fünf Prozentpunkte über dem Basiszinssatz. Im Fall
eines negativen Basiszinssatzes verringert sich der Zinssatz
entsprechend und liegt unter fünf Prozent. Negativ kann ein
Zins jedoch nicht werden (vgl. BGH-Urteil vom 09.05.2023 - XI ZR
544/21, Rz 26).
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72
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Bislang hatte der Kläger vor dem FG einen
Zinssatz von fünf Prozent und vor dem BFH einen Zinssatz von
fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz beantragt.
Auch insoweit hat das FG den Antrag des Klägers auszulegen
beziehungsweise auf dessen Konkretisierung durch den Kläger
hinzuwirken.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf §
143 Abs. 2 FGO.
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