Kind, vollstationäre Unterbringung auf Kosten des Sozialhilfeträgers, Kindergeldabzweigung: 1. Ist ein behindertes volljähriges Kind auf Kosten des Sozialhilfeträgers vollstationär in einer Pflegeeinrichtung untergebracht und wird der Kindergeldberechtigte aufgrund der Billigkeitsregelung in § 91 Abs. 2 Satz 2 BSHG a.F. nicht in Anspruch genommen, kommt dieser seiner Unterhaltspflicht nicht nach, so dass die Familienkasse das Kindergeld nach § 74 Abs. 1 Sätze 1 und 4 EStG an den Sozialhilfeträger abzweigen kann. - 2. Auch wenn der Kindergeldberechtigte neben den Leistungen des Sozialhilfeträgers nur geringe eigene Unterhaltsleistungen für das Kind erbringt, ist die Ermessensentscheidung der Familienkasse, ob und in welcher Höhe das Kindergeld an den Sozialhilfeträger abgezweigt wird, nicht dahin gehend auf Null reduziert, dass das gesamte Kindergeld an den Sozialhilfeträger auszuzahlen ist. - Urt.; BFH 23.2.2006, III R 65/04; SIS 06 30 01
I. Der Kläger und Revisionskläger
(Kläger) ist Vater eines im Jahr 1956 geborenen Sohnes, der
schon von Kindheit an zu 100 % schwerbehindert und in einer
Einrichtung für Behinderte vollstationär untergebracht
ist. Das Sozialamt (die Beigeladene) gewährte dem Sohn
für die Unterbringung in der Pflegeeinrichtung
Eingliederungshilfe. Vom Kläger wurde gemäß §
91 Abs. 2 Satz 2 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) i.d.F. vom
23.7.1996 (BGBl I 1996, 1088) keine Erstattung der Kosten
verlangt.
Die monatlichen Kosten betrugen nach
Auskunft der Beigeladenen im Jahr 2001 monatlich 3.495,75 EUR
(Heimunterbringung 3.373,20 EUR, Barbetrag 122,55 EUR). Zur Deckung
der Kosten für die Unterbringung erhielt sie die
Erwerbsunfähigkeitsrente des Sohnes in Höhe von 682,74
EUR, seinen Kostenbeitrag aus den Einnahmen für die
Tätigkeit in der Behindertenwerkstatt in Höhe von 22,31
EUR und das Kindergeld in Höhe von 138 EUR. In den Vorjahren
seien ähnliche Beträge gezahlt worden.
Die Beklagte und Revisionsbeklagte
(Familienkasse) hob ab Januar 1997 die Festsetzung des Kindergeldes
auf. Nach der seit 1996 geltenden Rechtslage bestehe von 1977 an
nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes 1996
(EStG) kein Anspruch mehr auf Kindergeld, weil der Sohn aufgrund
der Eingliederungshilfe in der Lage sei, sich selbst zu
unterhalten. Nachdem der Bundesfinanzhof (BFH) entschieden hatte,
ein volljähriges behindertes Kind sei auch dann
außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es im Rahmen
der Eingliederungshilfe vollstationär untergebracht sei
(BFH-Urteil vom 15.10.1999 VI R 40/98, BFHE 189, 449, BStBl II
2000, 75 = SIS 00 01 14), setzte die Familienkasse durch Bescheid
vom 21.7.2000 Kindergeld für den Sohn des Klägers
rückwirkend ab Januar 1997 fest und verfügte, dem Antrag
der Beigeladenen entsprechend, dass das Kindergeld in voller
Höhe an die Beigeladene auszuzahlen sei. Den Einspruch des
Klägers gegen die Abzweigung des Kindergeldes wies die
Familienkasse zurück.
Mit der Klage machte der Kläger
geltend, eine Abzweigung nach § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG sei
nicht zulässig, da er seine Unterhaltspflicht nicht verletzt
habe (§ 74 Abs. 1 Satz 1 EStG). Zudem habe er für seinen
Sohn erhebliche zu dessen Lebensführung erforderliche
Aufwendungen erbracht. So habe er beispielsweise
Einrichtungsgegenstände für das Zimmer seines Sohnes im
Heim gekauft, stelle seinem Sohn im Elternhaus ein eigenes Zimmer
zur Verfügung, übernehme die Fahrtkosten für einen
dreimal im Jahr stattfindenden Besuch, trage die Kosten für
den einmal im Jahr stattfindenden einwöchigen Radurlaub und
für den zweimaligen Besuch pro Jahr von Elterntagungen. Die
jährlichen Kosten, die nicht mehr exakt nachgewiesen werden
könnten, lägen bei deutlich über 1.000 DM im
Jahr.
Das Finanzgericht (FG) hat die Klage
abgewiesen. Das Urteil ist in EFG 2004, 1543 = SIS 04 23 33
veröffentlicht.
Mit der Revision rügt der Kläger
die Verletzung des § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG.
Der Kläger beantragt
sinngemäß, das Urteil des FG aufzuheben sowie den
Bescheid über die Abzweigung des Kindergeldes und die
Einspruchsentscheidung aufzuheben.
Die Familienkasse beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
II. Die Revision des Klägers ist
begründet. Das finanzgerichtliche Urteil sowie der Bescheid
über die Abzweigung des Kindergeldes und die dazu ergangene
Einspruchsentscheidung werden aufgehoben (§ 126 Abs. 3 Nr. 1
der Finanzgerichtsordnung - FGO - ).
Das FG hat zwar zu Recht angenommen, dass die
tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Abzweigung des
Kindergeldes an die Beigeladene nach § 74 Abs. 1 EStG
erfüllt sind. Entgegen der Auffassung des FG ist jedoch die
Entscheidung, das Kindergeld in voller Höhe an die Beigeladene
auszuzahlen, nicht ermessensgerecht i.S. des § 5 der
Abgabenordnung (AO 1977).
1. Nach § 74 Abs. 1 Sätze 1 und 4
EStG kann das für ein Kind festgesetzte Kindergeld nach §
66 Abs. 1 EStG auch an die Person oder Stelle ausgezahlt werden,
die dem Kind Unterhalt gewährt, wenn der Kindergeldberechtigte
seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt.
a) Nach §§ 1601 ff. des
Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) ist der Kläger seinem
Sohn zur Gewährung von Unterhalt verpflichtet, da dieser sich
nicht selbst unterhalten kann. Der Unterhaltsanspruch umfasst nach
§ 1610 Abs. 2 BGB den gesamten Lebensbedarf. Dazu gehören
auch die krankheitsbedingten Mehrkosten eines behinderten und
dauernd pflegebedürftigen Kindes (MünchKommBGB/Born, 4.
Aufl., § 1610 Rdnr. 75). Die Eingliederungshilfe mindert nicht
die Bedürftigkeit des Sohnes, da sie subsidiär ist und
den Unterhaltspflichtigen nicht von seiner Verpflichtung befreien
soll (vgl. § 2 BSHG; MünchKommBGB/ Luthin, 4. Aufl.,
§ 1602 Rdnr. 32). In der Regel geht der Unterhaltsanspruch des
Kindes nach § 91 Abs. 1 Satz 1 BSHG in Höhe der
geleisteten Aufwendungen auf den Sozialträger über.
Die Verpflichtung zur Unterhaltsgewährung
bleibt auch dann bestehen, wenn der Anspruch gegen den nach
bürgerlichem Recht Unterhaltspflichtigen nach § 91 Abs. 2
Satz 2 BSHG wegen unbilliger Härte nicht auf den
Sozialträger übergeht. Eine unbillige Härte liegt in
der Regel bei unterhaltspflichtigen Eltern vor, soweit ihrem
behinderten Kind nach Vollendung des 21. Lebensjahres
Eingliederungshilfe für Behinderte gewährt wird. Die
Regelung in § 91 Abs. 2 Satz 2 BSHG hat lediglich zur Folge,
dass der gesetzliche Übergang des Unterhaltsanspruchs auf den
Sozialhilfeträger nach § 91 Abs. 1 Satz 1 BSHG
ausgeschlossen ist. Der Tatbestand des § 91 Abs. 2 Satz 2 BSHG
setzt folglich voraus, dass überhaupt ein Unterhaltsanspruch
vorhanden ist. Denn soweit ein Unterhaltsanspruch nicht besteht,
kann er auch nicht auf den Sozialhilfeträger übergehen
(vgl. Urteil des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 21.4.2004 XII ZR
251/01, Zeitschrift für Familienrecht - FamRZ - 2004,
1097).
b) Der Kläger ist seiner gesetzlichen
Unterhaltspflicht nicht i.S. des § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG
nachgekommen, da er jedenfalls die zum Lebensbedarf seines Sohnes
gehörenden laufenden Kosten für die Unterbringung in der
Pflegeeinrichtung nicht übernommen hat.
Der Unterhaltspflicht nicht nachkommen
bedeutet, dass der Kindergeldberechtigte objektiv und dauerhaft
für den wesentlichen Unterhalt des Kindes nicht aufkommt. Eine
Abzweigung nach § 74 Abs. 1 Sätze 1 und 4 EStG setzt
nicht voraus, dass der Kindergeldberechtigte seine
Unterhaltspflicht schuldhaft nicht erfüllt oder gar den
Straftatbestand der Unterhaltspflichtverletzung (§ 170b des
Strafgesetzbuches) verwirklicht (vgl. Felix, in
Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 74 Rdnr. B 11 ff.;
Bergkemper in Herrmann/Heuer/Raupach, § 74 EStG Anm. 8). Auf
die Gründe für die Nichterfüllung der
Unterhaltspflicht - hier Ausschluss des Übergangs des
Unterhaltsanspruchs aus Billigkeitsgründen - kommt es deshalb
nicht an.
Die Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 Satz
1 EStG für eine Abzweigung sind auch dann erfüllt, wenn
der Kindergeldberechtigte in geringem Umfang Unterhaltsleistungen
erbringt. Diese Unterhaltsleistungen sind aber bei der
Ausübung des Ermessens, ob und in welcher Höhe das
Kindergeld abzuzweigen ist, zu berücksichtigen.
c) Entgegen der Auffassung des Klägers
besteht kein Anlass, § 74 Abs. 1 EStG im Wege einer
teleologischen Reduktion in den Fällen nicht anzuwenden, in
denen - wie im Streitfall - zugleich die Voraussetzungen des §
91 Abs. 2 Satz 2 BSHG vorliegen.
Aus der Abzweigung des Kindergeldes ergibt
sich kein Wertungswiderspruch zu § 91 Abs. 2 Satz 2 BSHG, da
der Zweck des § 91 Abs. 2 Satz 2 BSHG, einen Rückgriff
des Unterhalt leistenden Sozialhilfeträgers auf den
Unterhaltsverpflichteten auszuschließen, durch die Abzweigung
des Kindergeldes nicht beeinträchtigt wird. Der Zweck des
§ 74 Abs. 1 EStG liegt darin, das Kindergeld an das Kind oder
an eine anstelle des Kindergeldberechtigten Unterhalt leistende
Person oder Einrichtung auszuzahlen, wenn dem
Kindergeldberechtigten kein kindbedingter Aufwand durch den
Unterhalt entsteht. Diese Regelung steht im Einklang mit dem Zweck
des Kindergeldes, Eltern wegen ihrer Unterhaltsaufwendungen
für ihre Kinder zu entlasten. Tragen Eltern aber keine oder
nur geringe Kosten, ist eine derartige Entlastung nicht oder nur in
entsprechend geringem Umfang erforderlich (vgl. BFH-Urteil vom
27.10.2004 VIII R 65/04, BFH/NV 2005, 538 = SIS 05 15 83).
Infolgedessen kann in der Abzweigung des Kindergeldes nach §
74 Abs. 1 EStG keine - mit der Regelung des § 91 Abs. 2 Satz 2
BSHG nicht beabsichtigte - Inanspruchnahme des
Unterhaltsverpflichteten aus dem Unterhaltsanspruch gesehen
werden.
2. Zu Unrecht hat das FG jedoch im Streitfall
eine sog. Ermessensreduzierung auf Null dahin gehend angenommen,
dass ermessensgerecht i.S. des § 5 AO 1977 allein die
Abzweigung des Kindergeldes in voller Höhe an die Beigeladene
sei.
Die Familienkasse hat bei der Ausübung
des ihr in § 74 Abs. 1 EStG eingeräumten Ermessens den
Zweck des Kindergeldes zu berücksichtigen (§ 5 AO 1977).
Das Kindergeld dient der steuerlichen Freistellung eines
Einkommensbetrages in Höhe des Existenzminimums eines Kindes
und, soweit es dafür nicht erforderlich ist, der
Förderung der Familie (§ 31 Sätze 1 und 2 EStG). Da
das Kindergeld die Eltern wegen ihrer Unterhaltsleistungen
steuerlich entlasten soll, sind bei der Prüfung, ob und
inwieweit das Kindergeld abzuzweigen ist, auch geringe
Unterhaltsleistungen des Kindergeldberechtigten
miteinzubeziehen.
Bestätigt wird dies durch § 74 Abs.
1 Satz 3 Alternative 2 EStG. Danach kann das Kindergeld auch dann
abgezweigt werden, wenn der Kindergeldberechtigte mangels
Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist oder nur in
Höhe eines unter dem Kindergeld liegenden Betrages. Hieraus
ergibt sich, dass eine Abzweigung nicht zulässig ist, soweit
der Kindergeldberechtigte seiner Unterhaltspflicht entsprechend
Unterhalt in Höhe des Kindergeldes oder darüber hinaus
leistet (vgl. BFH-Urteil vom 17.11.2004 VIII R 30/04, BFH/NV 2005,
692 = SIS 05 18 26). Da das FG im Streitfall unterstellt hat, der
Kläger habe zumindest geringe Unterhaltsaufwendungen erbracht,
ist die Abzweigung des Kindergeldes in voller Höhe nicht die
einzig ermessensgerechte Entscheidung.
3. Das FG ist von anderen
Rechtsgrundsätzen ausgegangen. Die Vorentscheidung sowie der
Bescheid über die Abzweigung des Kindergeldes und die
Einspruchsentscheidung sind aufzuheben. Der Abzweigungsbescheid und
die Einspruchsentscheidung sind mangels Ermessensausübung
entsprechend dem Zweck des § 74 Abs. 1 EStG (§ 5 AO 1977)
rechtswidrig.
Im pflichtgemäßen Ermessen der
Familienkasse liegt nicht nur die Entscheidung über die
Abzweigung des Kindergeldes dem Grunde nach, sondern auch die
Entscheidung über die Höhe des abzuzweigenden
Kindergeldes (Felix in Kirchhof/Söhn/ Mellinghoff, EStG,
§ 74 Rdnr. B 24). Hinsichtlich der Höhe des
abzuzweigenden Kindergeldes hat die Familienkasse ihr Ermessen
nicht ausgeübt (sog. Ermessensnichtgebrauch). Die
Familienkasse hat weder im Bescheid über die Abzweigung des
Kindergeldes noch in der Einspruchsentscheidung
Ermessenserwägungen zur Höhe des abzuzweigenden
Kindergeldes angestellt. Nach den tatsächlichen Feststellungen
des FG wurde der Ermessensfehler auch nicht im finanzgerichtlichen
Verfahren nach § 102 Satz 2 FGO geheilt. Beim Erlass eines
erneuten Abzweigungsbescheids wäre es nach Auffassung des
Senats nicht ermessensfehlerhaft, den vom Kläger geleisteten
Betreuungsunterhalt - ohne detaillierte Bewertung der
Unterhaltsaufwendungen - pauschal zu berücksichtigen und nur
die Hälfte des Kindergeldes an den Sozialhilfeträger
abzuzweigen (vgl. zur Aufteilung auch BFH-Urteile vom 17.2.2004
VIII R 58/03, BFHE 206, 1, BStBl II 2006, 130 = SIS 04 33 39, und
vom 17.11.2004 VIII R 30/04, BFH/NV 2005, 692 = SIS 05 18 26).