1
|
I. Streitig ist, ob eine
Umsatzsteuerfestsetzung gegen Treu und Glauben
verstößt.
|
|
|
2
|
Die Klägerin und Revisionsbeklagte
(Klägerin) ist Diplom-Psychologin und betreibt eine
psychotherapeutische Praxis. Daneben erstellt sie für
Familiengerichte psychologische Gutachten zur Frage des Sorge- und
Umgangsrechts, in denen auch die Frage nach der
Erziehungsfähigkeit eines Elternteils oder beider Elternteile
zu beurteilen sein kann, sowie aussagepsychologische Gutachten in
Strafverfahren für die Staatsanwaltschaft oder auch für
Familiengerichte, die die Feststellung der Aussagetüchtigkeit
eines meist kindlichen Zeugen sowie die Glaubwürdigkeit und
Glaubhaftigkeit einer Aussage zum Gegenstand haben.
|
|
|
3
|
Auf telefonische Anfragen der Klägerin
und nach Vorlage zweier von ihr erstellter Gutachten erteilte ihr
ein Mitarbeiter des Veranlagungsbezirks des Beklagten und
Revisionsklägers (Finanzamt - FA - ) unter dem 2.1.1997
folgende schriftliche Auskunft:
|
|
|
4
|
„Sehr geehrte Frau ..., die
Voraussetzung der Steuerfreiheit für Gerichtsgutachten ist die
Annahme einer ‘ähnlichen heilberuflichen
Tätigkeit’. Voraussetzung ist hierfür u.a. bei
nichtärztlichen Psychotherapeuten das Vorliegen einer
Erlaubnis nach § 1 Abs. 1 HeilpraktG und diese damit der
staatlichen Überprüfung unterliegen. Die erforderliche
Erlaubnis wurde von Ihnen bereits vorgelegt. Die Erstellung von
Gutachten für Gerichte stellt bei Ärzten und
Heilpraktikern eine ‘heilberufliche Tätigkeit’ im
Sinne des Absch. 88 Abs. 2 S. 2 i.V.m. Abs. 3 Nr. 1
Umsatzsteuerrichtlinien dar. Die Steuerfreiheit nach § 4 Nr.
14 Umsatzsteuergesetz ist nach Aktenlage also gegeben. Eine
verbindliche Auskunft kann ich Ihnen leider nicht erteilen, da die
Voraussetzungen nach § 204 der Abgabenordnung nicht
erfüllt sind.“
|
|
|
5
|
Die Klägerin stellte nachfolgend die
Rechnungen über ihre Gutachtertätigkeit ohne Ausweis von
Umsatzsteuer aus und gab keine Umsatzsteuererklärungen
ab.
|
|
|
6
|
Bei der Einkommensteuerveranlagung für
2002 vermerkte der Sachbearbeiter des FA auf der
Einnahmen-Überschussrechnung der Klägerin vom 10.3.2003
bei den erklärten Einnahmen aus schriftlichen Gutachten
„USt-Pflicht?“, nahm bei den erklärten Ausgaben
(Kfz-Kosten 95 %, Bewirtungskosten 80 %, Telefon und Geschenke)
Anmerkungen vor und brachte den Vermerk „Bp melden!“
an.
|
|
|
7
|
Im April 2003 meldete der veranlagende
Teilbezirk des FA den Steuerfall der zuständigen
Betriebsprüfungsstelle zur Durchführung einer
Außenprüfung und erhielt im Mai 2003 die Antwort, eine
Prüfung (für die Veranlagungszeiträume 2002 bis
2004) sei für das Kalenderjahr 2006 vorgemerkt.
|
|
|
8
|
Aufgrund einer Prüfungsanordnung vom
9.3.2006 fand bei der Klägerin im Frühjahr/Sommer 2006
eine Außenprüfung statt, die sich auf die
Veranlagungszeiträume für 2002 bis 2004 bezog und auch
die Besteuerungsgrundlagen für die Umsatzsteuer
umfasste.
|
|
|
9
|
Die Betriebsprüferin kam hinsichtlich
der Gutachtertätigkeit der Klägerin zu der Auffassung,
dass diese umsatzsteuerpflichtig sei. Nach eigenen Angaben der
Klägerin bestehe die Kernaussage ihrer Gutachten u.a. in der
Stellungnahme über die Erziehungsfähigkeit eines
Elternteils oder die Aussagetüchtigkeit eines zu beurteilenden
Kindes. Die ggf. ausgesprochenen therapeutischen Empfehlungen seien
nicht Hauptzweck des ihr vom Gericht erteilten Auftrags. Da ein
therapeutisches Ziel, also die medizinische Betreuung bei ihrer
Tätigkeit als Gerichtssachverständige nicht im
Vordergrund stehe, liege eine umsatzsteuerpflichtige Tätigkeit
vor (Hinweis auf die Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen
- BMF - vom 13.2.2001 IV D I - S 7170 -
4/01, BStBl I 2001, 157 = SIS 01 05 40, und vom 8.11.2001 IV D I -
S 7170 - 201/01, BStBl I 2001, 826 = SIS 02 01 35).
|
|
|
10
|
Das FA folgte der Auffassung der
Betriebsprüferin und erließ am 1.2.2007 erstmalige
Umsatzsteuerbescheide für die Jahre 2002 bis 2004. Den
hiergegen eingelegten Einspruch, mit dem die Klägerin im
Wesentlichen einen Verstoß gegen Treu und Glauben geltend
machte, wies das FA für das Jahr 2004 (Streitjahr) mit
Einspruchsentscheidung vom 29.11.2007 als unbegründet
zurück, nachdem es die Einspruchsverfahren hinsichtlich der
Jahre 2002 und 2003 antragsgemäß zum Ruhen gebracht
hatte.
|
|
|
11
|
Das Finanzgericht (FG) hob den
Umsatzsteuerbescheid für 2004 und die Einspruchsentscheidung
auf. Es führte zur Begründung aus:
|
|
|
12
|
Das FA habe zwar die gutachtliche
Tätigkeit der Klägerin zutreffend als
umsatzsteuerpflichtig angesehen, weil dabei ein therapeutisches
Ziel jedenfalls nicht im Vordergrund gestanden habe (Hinweis auf
das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union - EuGH -
vom 14.9.2000 Rs. C-384/98 - D -, Slg. 2000, I-6795, BFH/NV Beilage
2001, 31, HFR 2000, 918 = SIS 00 13 96; BMF-Schreiben in BStBl I
2001, 157 = SIS 01 05 40). Das FA sei aber dennoch an der
angefochtenen Umsatzsteuerfestsetzung nach den Grundsätzen von
Treu und Glauben gehindert.
|
|
|
13
|
Die Klägerin könne sich zwar
nicht allein aufgrund der Auskunft vom 2.1.1997 auf
Vertrauensschutz berufen. Ebenso könne sie sich nicht allein
wegen der Nichtbesteuerung ihrer Umsätze in den Jahren 1997
bis 2001 entsprechend dieser Auskunft auf Vertrauensschutz berufen.
Auch allein aus dem Unterlassen eines Hinweises durch den
Veranlagungsbezirk im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung
für 2002 an die Klägerin, dass nunmehr die
Umsatzsteuerpflicht ihrer Gutachtertätigkeit in Frage stehe,
sei kein Vertrauensschutz für die Klägerin gegeben.
Schließlich ergebe sich auch kein Vertrauensschutz für
die Klägerin allein aus dem Umstand, dass die Veranlagungen
für 2002 bis 2004 ebenfalls ohne Aufforderung durch das FA,
Umsatzsteuererklärungen einzureichen, durchgeführt
wurden. Vertrauensschutz könne die Klägerin aber aus dem
Zusammenwirken dieser Umstände beanspruchen.
|
|
|
14
|
Das Urteil ist in EFG 2009, 630 = SIS 09 10 83 veröffentlicht.
|
|
|
15
|
Mit der vom Senat zugelassenen Revision
macht das FA im Wesentlichen geltend, entgegen der Auffassung des
FG seien die Tatbestandsvoraussetzungen für einen
Vertrauenstatbestand - auch im Zusammenwirken aller Umstände -
im Streitfall nicht gegeben.
|
|
|
16
|
Das FA beantragt, die Vorentscheidung
aufzuheben und die Klage abzuweisen.
|
|
|
17
|
Die Klägerin beantragt, die Revision
als unbegründet zurückzuweisen.
|
|
|
18
|
Sie führt zur Begründung im
Einzelnen aus, bei der gebotenen Gesamtbetrachtung aller hier
entscheidungserheblichen Umstände sei der Tatbestand von Treu
und Glauben erfüllt und stehe der streitigen
Umsatzsteuer-Nachforderung für 2004 entgegen, wie das FG
zutreffend dargelegt habe.
|
|
|
19
|
Hierzu macht sie u.a. geltend, sie, die
Klägerin, treffe kein Mitverschulden, das die
Schutzwürdigkeit ihres Vertrauens beeinträchtige. Sie
habe eine Meinungsänderung des FA frühestens seit Erhalt
der Prüfungsanordnung vom 9.3.2006 erahnen können. Zudem
sei es um reine Rechtsfragen gegangen, deren Klärung allein
Sache des FA gewesen sei. Ihre Mitwirkungspflichten und die ihrer
Bevollmächtigten hätten sich auf die hier von Anfang an
völlig unproblematische Sachaufklärung
beschränkt.
|
|
|
20
|
Im Übrigen sei bei der Gewichtung der
beiderseitigen Pflichten zu berücksichtigen, dass hier ein
Umsatzsteuer-Rechtsverhältnis zu beurteilen sei, bei dem sie
mit Rücksicht auf ihre Indienstnahme im öffentlichen
Interesse in besonderem Maße schutzwürdig (gewesen)
sei.
|
|
|
21
|
Auf ein Billigkeitsverfahren - das
vorliegend abredegemäß ruhe - könne sie nicht
verwiesen werden.
|
|
|
22
|
II. Die Revision des FA ist begründet.
Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung
der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung
- FGO - ). Das FG hat den Grundsatz von Treu und Glauben, auf den
es seine Entscheidung gestützt hat, nicht rechtsfehlerfrei
angewendet.
|
|
|
23
|
1. Das FG hat zutreffend entschieden, dass die
Erstellung der psychologischen Gutachten der Klägerin nicht
nach § 4 Nr. 14 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) steuerfrei
ist, da ein therapeutisches Ziel bei diesen Gutachten jedenfalls
nicht im Vordergrund steht.
|
|
|
24
|
a) Nach § 4 Nr. 14 Satz 1 UStG sind
„die Umsätze aus der Tätigkeit als Arzt,
Zahnarzt, Heilpraktiker, Physiotherapeut (Krankengymnast), Hebamme
oder aus einer ähnlichen heilberuflichen Tätigkeit i.S.
des § 18 Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes und aus der
Tätigkeit als klinischer Chemiker“ steuerfrei.
|
|
|
25
|
§ 4 Nr. 14 Satz 1 UStG ist
richtlinienkonform restriktiv dahin auszulegen, dass nur
Tätigkeiten zur Diagnose, Behandlung und - soweit möglich
- Heilung von Krankheiten oder Gesundheitsstörungen steuerfrei
sind (vgl. z.B. EuGH-Urteil - D - in Slg. 2000, I-6795, BFH/NV
Beilage 2001, 31, HFR 2000, 918; Beschluss des Bundesfinanzhofs -
BFH - vom 14.12.2000 V R 54/98, BFHE 194, 275 = SIS 01 04 39, unter
II.3.a aa; BFH-Urteile vom 15.7.2004 V R 27/03, BFHE 206, 471,
BStBl II 2004, 862 = SIS 04 35 29, unter II.2.; vom 30.1.2008 XI R
53/06, BFHE 221, 399, BStBl II 2008, 647 = SIS 08 20 22, unter
II.2.a).
|
|
|
26
|
b) Diese Voraussetzung ist bei Gutachten der
vorliegenden Art nicht gegeben (vgl. BFH-Beschluss vom 31.7.2007 V
B 98/06, BFHE 217, 94, BStBl II 2008, 35 = SIS 07 31 19, unter
II.2.; BFH-Urteil vom 8.10.2008 V R 32/07, BFHE 222, 184, BStBl II
2009, 429 = SIS 08 42 94). Dies ist zwischen den Beteiligten nicht
streitig.
|
|
|
27
|
2. Zutreffend ist das FG ferner davon
ausgegangen, dass ein FA nach den Grundsätzen von Treu und
Glauben gehindert sein kann, einen nach dem Gesetz entstandenen
Steueranspruch geltend zu machen. Dies kann der Steuerpflichtige
(bereits) gegenüber einer Steuerfestsetzung geltend machen;
eines gesonderten Billigkeitsverfahrens bedarf es dazu entgegen der
Auffassung des FA (ebenso Reuß, EFG 2009, 633, 635) nicht
(vgl. z.B. BFH-Urteil vom 13.12.1989 X R 208/87, BFHE 159, 114,
BStBl II 1990, 274 = SIS 90 07 54, unter 2.).
|
|
|
28
|
a) Der auch für das Besteuerungsverfahren
geltende allgemeine Rechtsgrundsatz von Treu und Glauben gebietet,
dass im konkreten Steuerrechtsverhältnis jeder auf die
berechtigten Belange des anderen angemessen Rücksicht nimmt
und sich mit seinem früheren Verhalten, auf das der andere
vertraut und aufgrund dessen er in irreparabler Weise disponiert
hat, nicht in Widerspruch setzt (vgl. BFH-Urteile vom 9.8.1989 I R 181/85, BFHE 158, 31, BStBl II 1989,
990 = SIS 89 22 56; vom 8.2.1996 V R 54/94, BFH/NV 1996,
733).
|
|
|
29
|
Er verdrängt
jedoch gesetztes Recht - wie im Streitfall die Umsatzsteuerpflicht
der Tätigkeit der Klägerin - nur in besonders liegenden
Fällen, in denen das Vertrauen des Steuerpflichtigen in ein
bestimmtes Verhalten der Verwaltung nach allgemeinem
Rechtsgefühl in so hohem Maß schutzwürdig ist, dass
demgegenüber die Grundsätze der
Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zurücktreten
müssen (vgl. BFH-Urteile vom 25.10.1977 VII R 5/74, BFHE 124,
105, 107, BStBl II 1978, 274 = SIS 78 01 53; vom 5.2.1980 VII R
101/77, BFHE 130, 90, 95; in BFHE 158, 31, BStBl II 1989, 990 = SIS 89 22 56, unter II.1.; vom 29.11.2000 X R 25/97, BFH/NV 2001, 1013
= SIS 01 67 37, unter II.2.a).
|
|
|
30
|
b) Dies kommt nur dann in Betracht, wenn dem
Steuerpflichtigen eine bestimmte steuerrechtliche Behandlung
zugesagt worden ist oder wenn die Finanzbehörde durch ihr
früheres Verhalten außerhalb einer Zusage einen
Vertrauenstatbestand geschaffen hat (vgl. BFH-Urteil vom
30.9.1997 IX R 80/94, BFHE 184, 406,
BStBl II 1998, 771 = SIS 98 02 12, unter 1.; BFH-Beschluss vom
26.11.2001 V B 88/00, BFH/NV 2002, 551 = SIS 02 58 94, unter
II.1.b; BFH-Urteile vom 29.4.2008 VIII R 75/05, BFHE 221,
136, BStBl II 2008, 817 = SIS 08 29 19, unter II.2.e; vom 14.1.2010
IV R 86/06, BFH/NV 2010, 1096 = SIS 10 15 25, unter II.5.).
|
|
|
31
|
3. Der Klägerin ist keine bestimmte
steuerrechtliche Behandlung zugesagt worden. Das wäre nur dann
der Fall, wenn sie eine verbindliche Zusage beantragt und das FA
eine solche ohne Einschränkung oder Vorbehalte erteilt
hätte (vgl. BFH-Urteile vom 17.9.1992 IV R 39/90, BFHE 169, 290, BStBl II 1993, 218 = SIS 93 04 67; vom 14.9.1994 I R 125/93, BFH/NV 1995, 369 = SIS 95 09 64, unter 1.b; vom 16.11.2005 X R 3/04, BFHE 211, 30, BStBl II
2006, 155 = SIS 06 03 80, unter II.2.i). Jedenfalls letztere
Voraussetzung liegt hier nicht vor.
|
|
|
32
|
Das FA hat in dem Schreiben vom 2.1.1997 keine
verbindliche Auskunft erteilt. Das ergibt
sich eindeutig aus dem Zusatz, dass eine verbindliche
Auskunft leider nicht erteilt werden könne. Der Auffassung der Klägerin, dabei handele es
sich lediglich um eine floskelhafte Einschränkung, so dass die
Auskunft - jedenfalls im Zusammenwirken mit anderen Umständen
- als verbindlich angesehen werden könne, vermag der Senat
nicht zu folgen. Vielmehr kann das Schreiben vom 2.1.1997 nach
seinem objektiven Erklärungswert (§ 133 des
Bürgerlichen Gesetzbuchs) aus Empfängersicht eindeutig
nur als unverbindliche Auskunft verstanden werden.
|
|
|
33
|
Für dieses
Verständnis ist ohne Belang, ob die Voraussetzungen zur
Erteilung einer verbindlichen Zusage nach Maßgabe des
BMF-Schreibens vom 24.6.1987 (BStBl I 1987, 474 = SIS 87 14 46)
vorlagen oder leicht hätten geschaffen werden können oder
ob - wie das FG meint - das FA zu einer dahingehenden Beratung
gemäß § 89 der Abgabenordnung verpflichtet
war.
|
|
|
34
|
Unerheblich für
die Würdigung des Schreibens vom 2.1.1997 als unverbindliche
Auskunft sind ferner - entgegen der Auffassung der Klägerin -
die Begleitumstände (alleinige Initiative der Klägerin,
erkennbare Dringlichkeit einer verlässlichen
Äußerung, fortwährendes Angewiesensein der
Klägerin auf die Richtigkeit der erteilten Auskunft für
eine zutreffende Rechnungserteilung).
|
|
|
35
|
4. Das FA hat durch sein Verhalten nicht
außerhalb einer verbindlichen Zusage einen
Vertrauenstatbestand geschaffen, und zwar - entgegen der Auffassung
des FG - auch nicht im Zusammenwirken der verschiedenen vom FG
dafür genannten Umstände.
|
|
|
36
|
a) Ein Vertrauenstatbestand besteht in einem
bestimmten Verhalten des einen Teils, aufgrund dessen der andere
bei objektiver Beurteilung annehmen konnte, jener werde an seiner
Position oder seinem Verhalten konsequent und auf Dauer festhalten
(vgl. BFH-Urteile vom 26.4.1995 XI R 81/93, BFHE 178, 4, BStBl II
1995, 754 = SIS 95 17 45, unter II.5.a; vom 15.12.1999 XI R 11/99,
BFH/NV 2000, 708 = SIS 00 55 32, unter II.1.).
|
|
|
37
|
b) Die Klägerin konnte nicht davon
ausgehen, das FA werde an seiner im Schreiben vom 2.1.1997
vertretenen Rechtsauffassung auf Dauer festhalten. Denn
die Auskunft, dass nach Aktenlage
die Umsatzsteuerfreiheit für die Gutachtertätigkeit
gemäß § 4 Nr. 14 UStG und Abschn. 88 der
Umsatzsteuer-Richtlinien (UStR) gegeben sei, stand wegen der
Grundsätze der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und
der Gleichmäßigkeit der Besteuerung offensichtlich unter
dem Vorbehalt, dass sich die Rechtslage nicht änderte - was
hier aber der Fall war.
|
|
|
38
|
aa) Es entspricht dem von der Rechtsprechung
entwickelten Grundsatz der Abschnittsbesteuerung, dass das FA in
jedem Veranlagungszeitraum die einschlägigen
Besteuerungsgrundlagen erneut zu prüfen und rechtlich zu
würdigen hat. Eine als falsch erkannte Rechtsauffassung muss
es zum frühestmöglichen Zeitpunkt aufgeben; dies
grundsätzlich auch dann, wenn der Steuerpflichtige auf diese
Rechtsauffassung vertraut haben sollte. Dies gilt auch dann, wenn
die - fehlerhafte - Auffassung im Prüfungsbericht niedergelegt
worden ist oder wenn die Finanzbehörde über eine
längere Zeitspanne eine rechtsirrige, für den
Steuerpflichtigen günstige Auffassung vertreten hatte. Das FA
ist an eine bei einer früheren Veranlagung zugrunde gelegten
Rechtsauffassung auch dann nicht gebunden, wenn der
Steuerpflichtige im Vertrauen darauf disponiert hat (vgl.
BFH-Beschluss vom 12.7.2006 IV B 9/05, BFH/NV 2006, 2028 = SIS 06 41 23, m.w.N.).
|
|
|
39
|
bb) Hinsichtlich der Umsatzsteuerfreiheit
ärztlicher Gutachten nach § 4 Nr. 14 UStG ist nach dem
2.1.1997 eine Rechtsänderung eingetreten.
|
|
|
40
|
(1) Wie in dem Schreiben des FA vom 2.1.1997
zutreffend ausgeführt wurde, stellte nach damaliger
Rechtsauffassung und Besteuerungspraxis die Erstellung von
Gutachten für Gerichte bei Ärzten und Heilpraktikern eine
„heilberufliche Tätigkeit“ i.S. des Abschn.
88 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 3 Nr. 1 der seinerzeit geltenden UStR
1996 dar.
|
|
|
41
|
Nach Abschn. 88 Abs. 3 Nr. 1 Satz 1 UStR fiel
unter die Tätigkeit als Arzt i.S.
des § 4 Nr. 14 UStG „die Erstellung eines
ärztlichen Gutachtens - auch lediglich auf der Grundlage der
Akten - über den Gesundheitszustand eines Menschen oder
über den Kausalzusammenhang zwischen einem rechtserheblichen
Tatbestand und einer Gesundheitsstörung oder zwischen einer
früheren Erkrankung und dem jetzigen körperlichen oder
seelischen Zustand sowie über die Tatsache oder Ursache des
Todes“.
|
|
|
42
|
(2) Im Jahr 2000 hat aber der EuGH - wie
bereits dargelegt - in seinem Urteil - D - in Slg. 2000, I-6795,
BFH/NV Beilage 2001, 31, HFR 2000, 918 entschieden, der Begriff der
„Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin“
in Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Sechsten Richtlinie
77/388/EWG des Rates vom 17.5.1977 zur Harmonisierung der
Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern
könne nicht so ausgelegt werden, dass er medizinische
Eingriffe umfasse, die zu einem anderen Zweck als dem der Diagnose,
der Behandlung und, soweit möglich, der Heilung von
Krankheiten oder Gesundheitsstörungen durchgeführt
würden (Rz 18); gemäß dem Grundsatz, dass
sämtliche Bestimmungen zur Einführung einer
Umsatzsteuerbefreiung eng auszulegen seien, müssten die
Leistungen, die keinem solchen therapeutischen Ziel dienen, vom
Anwendungsbereich dieser Bestimmung ausgeschlossen werden (Rz
19).
|
|
|
43
|
(3) Daraufhin hat das BMF mit Schreiben in
BStBl I 2001, 157 = SIS 01 05 40 unter Hinweis auf dieses
EuGH-Urteil u.a. ausgeführt, abweichend von Abschn. 88 Abs. 3
Nrn. 1, 2 und 4 UStR sei die Erstellung eines ärztlichen
Gutachtens nur dann nach § 4 Nr. 14 UStG steuerfrei, wenn ein
therapeutisches Ziel im Vordergrund stehe. In der nachfolgenden
beispielhaften Aufzählung der nicht (mehr) unter die
Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 14 UStG fallenden Gutachten sind
sämtliche Gutachten genannt, die von der Finanzverwaltung in
Abschn. 88 Abs. 3 Nr. 1 Satz 2 UStR 1996 (bislang) als steuerfrei
angesehen wurden.
|
|
|
44
|
Mit weiterem Schreiben in BStBl I 2001, 826 =
SIS 02 01 35 hat das BMF u.a. ergänzt, dass auch Gutachten über den Kausalzusammenhang zwischen
einem rechtserheblichen Tatbestand und einer
Gesundheitsstörung abweichend von Abschn. 88 Abs. 3 Nr. 1 UStR
grundsätzlich nicht unter die Steuerbefreiung nach § 4
Nr. 14 UStG fallen.
|
|
|
45
|
Die Auffassung der
Klägerin, bei der Verwaltung habe sich die veränderte
Rechtsanschauung erst mit der Neufassung der UStR für 2005
„erkennbar und eindeutig durchgesetzt“, ist vor
diesem Hintergrund nicht haltbar.
|
|
|
46
|
cc) Würde diese
Rechtsänderung nicht auf die Umsatzbesteuerung der
Klägerin angewendet, verstieße dies nicht nur gegen den
Grundsatz der Gesetzmäßigkeit, sondern auch gegen den
Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung, weil die
Bevorzugung eines Steuerpflichtigen entgegen den gesetzlichen
Vorschriften für alle anderen Steuerpflichtigen, die dem
Gesetz entsprechend behandelt werden, eine Benachteiligung bedeutet
(vgl. BFH-Urteil vom 16.7.1964 V 92/61 S, BFHE 80, 446,
BStBl III 1964, 634 = SIS 64 03 65).
|
|
|
47
|
c) Entgegen der
Auffassung des FG hat das FA die Klägerin nicht dadurch in
ihrem Vertrauen auf die Auskunft vom 2.1.1997 und die
entsprechenden Veranlagungen bestärkt und zu entsprechenden
weiteren Dispositionen veranlasst, dass der Veranlagungsbeamte des
FA die Klägerin auf die in Frage stehende Umsatzsteuerpflicht
ihrer gutachtlichen Tätigkeit nicht hingewiesen
hat.
|
|
|
48
|
Denn da die
Klägerin von den (internen) Bedenken des Veranlagungsbeamten
hinsichtlich der Umsatzsteuerfreiheit ihrer Tätigkeit keine
Kenntnis erhielt - worauf sie in anderem Zusammenhang selbst
hinweist -, konnte durch das Unterlassen eines Hinweises auf diese
Bedenken ihr Vertrauen nicht gestärkt werden.
|
|
|
49
|
Im Übrigen
überspannt das FG insoweit nach Auffassung des Senats den
Grundsatz von Treu und Glauben. Eine derartige Hinweis- und
Beratungspflicht eines FA vor Änderung seiner
langjährigen Rechtsauffassung ist der Rechtsprechung des BFH
nicht zu entnehmen. Vielmehr hat der BFH auch dann, wenn
eine - fehlerhafte - Auffassung in einem Prüfungsbericht
niedergelegt worden war (BFH-Urteil in BFHE 80, 446, BStBl III
1964, 634 = SIS 64 03 65) oder wenn die Finanzbehörde
über eine längere Zeitspanne eine rechtsirrige, für
den Steuerpflichtigen günstige Auffassung vertreten hatte
(BFH-Urteil vom 22.6.1971 VIII 23/65, BFHE 103, 77, BStBl II 1971,
749 = SIS 71 03 91), einen Hinweis des FA auf die von ihm
später als falsch erkannte Rechtsauffassung nicht
gefordert.
|
|
|
50
|
Zudem war die Umsatzsteuerpflicht der
Tätigkeit der Klägerin für den Veranlagungsbeamten
im Jahr 2003 nicht offensichtlich. Sie konnte vielmehr erst nach
Vorlage von (exemplarischen) Gutachten oder nach näheren
Angaben der Klägerin zum Gegenstand und Ziel der Gutachten -
die sie im Rahmen der Außenprüfung 2006 gemacht hat -
beurteilt werden.
|
|
|
51
|
5. Schließlich ist entgegen der
Auffassung der Klägerin bei der Gewichtung der beiderseitigen
Pflichten unerheblich, dass hier ein
Umsatzsteuer-Rechtsverhältnis zu beurteilen ist, bei dem die
Klägerin ihrer Meinung nach mit Rücksicht auf ihre
Indienstnahme im öffentlichen Interesse in besonderem
Maße schutzwürdig (gewesen) sei.
|
|
|
52
|
Denn auf diesen Umstand kommt es bei der hier
maßgeblichen Frage, ob die Klägerin bei objektiver
Beurteilung annehmen konnte, das FA werde an seiner in seinem
Schreiben vom 2.1.1997 vertretenen Position oder an seinem
späteren Verhalten der Nichtbesteuerung konsequent und auf
Dauer festhalten, nicht an.
|
|
|
53
|
Dementsprechend hat der BFH auch bisher in
ähnlichen Fällen bei der Prüfung, ob eine
Billigkeitsmaßnahme aus Gründen des Vertrauensschutzes
in Betracht kommt, unberücksichtigt gelassen, dass es um ein
Umsatzsteuer-Rechtsverhältnis ging (vgl. zur
Umsatzsteuerpflicht von Schönheitsoperationen: BFH-Beschluss
vom 26.9.2007 V B 8/06, BFHE 219, 245, BStBl II 2008, 405 = SIS 08 07 23; BFH-Urteil vom 7.10.2010 V R 17/09, juris = SIS 11 13 05,
unter II.4.).
|
|
|
54
|
6. Da mithin das FA im Streitfall keinen
Vertrauenstatbestand geschaffen hat, braucht der Senat der - vom FG
unerörtert gelassenen - Frage nicht weiter nachzugehen, ob die
Klägerin bereits 2001 (nach der Entscheidung des EuGH - D - in
Slg. 2000, I-6795, BFH/NV Beilage 2001, 31, HFR 2000, 918, und den
BMF-Schreiben in BStBl I 2001, 157 = SIS 01 05 40 und 826) von der
Problematik der Umsatzsteuerfreiheit ärztlicher Gutachten
Kenntnis erlangt hat oder zumindest hätte erlangen
können.
|
|
|
55
|
Hierzu hat das FA im Revisionsverfahren
unwidersprochen vorgetragen, dass die Klägerin zumindest seit
dem Jahr 1993 steuerlich beraten gewesen sei und dass das Thema der
Umsatzbesteuerung im Jahr 2001 in Gutachterkreisen lebhaft
diskutiert worden sei (vgl. dazu auch Reuß, EFG 2009, 633,
635). Das FA hat ferner in der mündlichen Verhandlung vor dem
Senat in Anwesenheit der Klägerin unwidersprochen darauf
hingewiesen, die Klägerin habe in ihrem Schreiben an die
Betriebsprüferin vom 19.6.2006 u.a. ausgeführt, dass ihr
und ihrem Steuerberater die Inhalte der BMF-Schreiben bekannt
gewesen seien - was nach Aktenlage zutrifft.
|
|
|
56
|
Nach der Rechtsprechung des BFH kann aber ein
schutzwürdiges nachhaltiges Vertrauen in den Fortbestand einer
früheren - nach neuerer Rechtsprechung nicht mehr haltbaren -
Rechtsauffassung nur dann und solange gegeben sein, bis der
Steuerpflichtige mit einer Änderung rechnen musste oder ihm
zumindest Zweifel hätten kommen müssen (vgl.
BFH-Beschluss in BFHE 219, 245, BStBl II 2008, 405 = SIS 08 07 23,
unter II.2.b und c; siehe auch BFH-Urteil vom 17.9.2008 IX R 79/99,
BFH/NV 2009, 144 = SIS 09 02 41, unter II.4.).
|
|
|