Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil
des Finanzgerichts Münster vom 24.4.2013 7 K 2342/11 E = SIS 14 01 64 und die Einspruchsentscheidung des Beklagten vom 9.6.2011
aufgehoben.
Die Einkommensteuer 2007 wird unter
Abänderung des Bescheids vom 7.9.2010 auf den Betrag
festgesetzt, der sich ergibt, wenn statt des bisher
berücksichtigten Freibetrags für
Betriebsveräußerungs- und -aufgabegewinne von 3.705 EUR
ein solcher von 22.975 EUR abgezogen wird.
Die Berechnung der Steuer wird dem Beklagten
übertragen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens haben der Beklagte zu 84 % und
die Klägerin zu 16 % zu tragen.
1
|
I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte
(Klägerin) erzielte sowohl als Einzelunternehmerin als auch
durch eine mitunternehmerische Beteiligung an einer Publikums-GmbH
& Co. KG (KG) Einkünfte aus Gewerbebetrieb. Zum 1. Januar
des Streitjahres 2007 schied sie aus der KG aus. Ferner gab sie zum
31.12.2007 den Betrieb des Einzelunternehmens auf. In ihrer
Einkommensteuererklärung ermittelte sie einen Gewinn aus der
Aufgabe des Einzelunternehmens in Höhe von 3.705 EUR und
beantragte hierfür den - nur einmal zu gewährenden -
Freibetrag nach § 16 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes
(EStG), dessen persönliche Voraussetzungen (Vollendung des 55.
Lebensjahres) sie erfüllte. In der Anlage GSE zur
Einkommensteuererklärung führte sie auch die
KG-Beteiligung auf, ließ das Feld zur Angabe der Höhe
der hieraus bezogenen Einkünfte jedoch leer.
|
|
|
2
|
Der Beklagte und Revisionskläger (das
Finanzamt - FA - ) veranlagte die Klägerin am 20.6.2008
erklärungsgemäß unter dem Vorbehalt der
Nachprüfung und beließ den Aufgabegewinn aus dem
Einzelunternehmen steuerfrei. Im Anschluss an eine
Außenprüfung, die nicht zu Änderungen der
Besteuerungsgrundlagen führte, hob das FA den Vorbehalt der
Nachprüfung mit Bescheid vom 6.8.2009 auf.
|
|
|
3
|
Am 24.8.2010 teilte das für die KG
zuständige Betriebs-FA dem FA mit, die Klägerin habe
aufgrund ihres Ausscheidens aus der KG einen
Veräußerungsgewinn in Höhe von 22.975 EUR erzielt.
Diesen Betrag, der auf der Auflösung eines negativen
Kapitalkontos beruhte, erfasste das FA in dem nach § 175 Abs.
1 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) geänderten, im
vorliegenden Verfahren angefochtenen Einkommensteuerbescheid 2007
vom 7.9.2010. Es gewährte hierfür zwar die
Tarifermäßigung nach § 34 Abs. 1 EStG, nicht aber
den Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG.
|
|
|
4
|
Im Einspruchsverfahren beantragte die
Klägerin erfolglos, den Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG
auf den - höheren - Gewinn aus der Veräußerung der
Beteiligung anzuwenden. Sie vertrat hierzu die Auffassung, der
Bescheid könne nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO geändert
werden. Ihr sei erst nachträglich bekannt geworden, dass sie
durch das Ausscheiden aus der KG einen
Veräußerungsgewinn erzielt habe.
|
|
|
5
|
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt
(EFG 2014, 287 = SIS 14 01 64). Zwar seien die Voraussetzungen des
§ 173 Abs. 1 Nr. 2 AO nicht erfüllt, weil der
Veräußerungsgewinn keine neue Tatsache darstelle. Der
steuerlich beratenen Klägerin sei sowohl ihr Ausscheiden aus
der KG als auch der Umstand, dass ihr Kapitalkonto negativ gewesen
sei, bekannt gewesen. Allerdings sei eine Rechtsfehlerkompensation
nach § 177 Abs. 1 AO vorzunehmen. Hierfür reiche es aus,
wenn im Zeitpunkt der Änderung des Bescheids ein nicht
eigenständig korrigierbarer materieller Fehler gegeben sei.
Die nachträgliche Ausübung eines Wahlrechts könne
einen solchen Fehler herbeiführen.
|
|
|
6
|
Mit seiner Revision verweist das FA auf
eine gegenteilige Entscheidung des FG München vom 29.10.2009
15 K 298/07 (Nichtzulassungsbeschwerde zurückgewiesen durch
Beschluss des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 10.5.2010 IX B 220/09,
BFH/NV 2010, 1415 = SIS 10 21 06).
|
|
|
7
|
Das FA beantragt, das angefochtene Urteil
aufzuheben und die Klage abzuweisen.
|
|
|
8
|
Die Klägerin beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
|
|
|
9
|
Sie hält die vom FA angeführte
Entscheidung des FG München nicht für einschlägig,
da sie zu den Überschusseinkünften und zu einem Wahlrecht
mit mehrjährigem Begünstigungszeitraum
(Sonderabschreibung nach dem Fördergebietsgesetz) ergangen
sei. Demgegenüber habe die Klägerin ihre Einkünfte
durch Betriebsvermögensvergleich ermittelt.
|
|
|
10
|
II. Die Revision ist begründet. Sie
führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur
Entscheidung des Senats in der Sache selbst (§ 126 Abs. 3 Satz
1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO - ).
|
|
|
11
|
Die verfahrensrechtlichen Überlegungen
des FG und der Beteiligten zur Anwendbarkeit einer
Korrekturvorschrift oder des § 177 AO gehen schon deshalb ins
Leere, weil die Klägerin Einspruch gegen einen
steuererhöhenden Änderungsbescheid eingelegt hat und im
Umfang der vorgenommenen Änderung eine Herabsetzung der
festgesetzten Steuer im Einspruchsverfahren verfahrensrechtlich
immer möglich ist (dazu unten 1.). Zu Recht hat das FG aber
die Auffassung vertreten, dass die Klägerin ihr Antragsrecht
im Einspruchsverfahren gegen den Änderungsbescheid erneut
ausüben konnte (unten 2.). Gleichwohl muss das angefochtene
Urteil aufgehoben werden, weil das FG die Gegenrechnung des bisher
gewährten Freibetrags unterlassen hat (unten 3.).
|
|
|
12
|
1. Anders als das FG und die Beteiligten
meinen, ist im Streitfall weder entscheidungserheblich, ob die
Voraussetzungen einer Korrekturvorschrift erfüllt sind noch ob
eine Rechtsfehlerkompensation nach § 177 Abs. 1 AO
möglich ist. Die Frage, ob eine verfahrensrechtliche
Änderungsmöglichkeit für den Fall eröffnet
wäre, dass der angefochtene Steuerbescheid materiell-rechtlich
rechtswidrig sein sollte, ist vielmehr offensichtlich zu bejahen.
Denn die Klägerin hat einen Änderungsbescheid, in dem im
Vergleich zum vorangehenden Bescheid eine höhere Steuer
festgesetzt worden ist, mit dem Rechtsbehelf des Einspruchs
angefochten. Ein solcher Änderungsbescheid kann im
Einspruchsverfahren gemäß § 351 Abs. 1 AO insoweit
angegriffen - und gemäß § 367 Abs. 2 Satz 2 AO
durch Erlass eines (Teil-)Abhilfebescheids auch geändert -
werden, als die Änderung reicht. Da die Klägerin im
Einspruchsverfahren lediglich begehrt hat, die Einkommensteuer auf
einen Betrag herabzusetzen, der zwar niedriger ist als die im
Änderungsbescheid festgesetzte Steuer, aber höher ist als
der im ursprünglichen Bescheid festgesetzte Betrag, wäre
- wenn man allein auf die verfahrensrechtlich eröffneten
Möglichkeiten abstellt - im Einspruchsverfahren eine
Änderungsmöglichkeit zweifelsfrei gegeben, ohne dass es
auf die Voraussetzungen einer der Korrekturvorschriften oder der
Rechtsfehlerkompensation ankäme.
|
|
|
13
|
2. Die Klägerin konnte ihr durch §
16 Abs. 4 EStG eröffnetes Antragsrecht im Einspruchsverfahren
gegen den Änderungsbescheid anderweitig ausüben. Damit
steht ihr der Freibetrag nunmehr für den Gewinn aus der
Veräußerung der KG-Beteiligung (22.975 EUR) zu.
|
|
|
14
|
a) Dem steht im Streitfall die ständige
höchstrichterliche Rechtsprechung nicht entgegen, wonach auch
solche Antrags- oder Wahlrechte, für deren Ausübung im
Gesetzeswortlaut keine ausdrückliche zeitliche Begrenzung
vorgesehen ist, grundsätzlich nur bis zum Eintritt der
Bestandskraft des entsprechenden Steuerbescheids erstmals oder in
geänderter Weise ausgeübt werden können.
|
|
|
15
|
Alle diese Entscheidungen sind zu
Fallgestaltungen ergangen, in denen die Steuerfestsetzung für
denjenigen Veranlagungszeitraum, auf den sich die begehrte
erstmalige oder geänderte Ausübung des Antrags- oder
Wahlrechts beziehen sollte, bereits bestandskräftig war, und
der Steuerpflichtige durch Stellung eines Änderungsantrags die
Durchbrechung der Bestandskraft zu seinen Gunsten erreichen wollte
(BFH-Urteile vom 10.10.1969 VI R 180/67, BFHE 97, 186, BStBl II
1970, 63 = SIS 70 00 34; vom 18.12.1973 VIII R 101/69, BFHE 111,
302, BStBl II 1974, 319 = SIS 74 01 76; vom 25.2.1992 IX R 41/91,
BFHE 167, 369, BStBl II 1992, 621 = SIS 92 14 08; vom 13.2.1997 IV
R 59/95, BFH/NV 1997, 635 = SIS 97 18 32; vom 17.9.2008 IX R 72/06,
BFHE 222, 571, BStBl II 2009, 639 = SIS 08 40 76, und vom 14.5.2009
IV R 6/07, BFH/NV 2009, 1989 = SIS 09 36 32; BFH-Beschluss vom
11.6.2014 IV B 46/13, BFH/NV 2014, 1369 = SIS 14 21 18).
|
|
|
16
|
Wenn die Ausübung eines Wahlrechts den
Steuerpflichtigen für mehrere Veranlagungszeiträume
bindet, tritt diese Bindung bereits dann ein, wenn nur der erste
Veranlagungszeitraum bestandskräftig veranlagt wurde
(BFH-Beschluss vom 2.7.1992 IX B 169/91, BFHE 168, 298, BStBl II
1992, 909 = SIS 92 19 09: degressive Gebäude-AfA; BFH-Urteil
vom 27.10.1992 IX R 60/90, BFH/NV 1993, 467: keine Verteilung
größerer Erhaltungsaufwendungen nach § 82b der
Einkommensteuer-Durchführungsverordnung, wenn die Aufwendungen
bereits im Jahr ihres Abflusses bestandskräftig als
Werbungskosten abgezogen worden sind). Ebenso kann ein
Gewinnermittlungswahlrecht, das einem bestandskräftig
gewordenen Einkommensteuerbescheid zugrunde gelegt wurde, für
einen verfahrensrechtlich noch offenen Gewerbesteuermessbescheid
nicht anderweitig ausgeübt werden (BFH-Urteil vom 9.8.1989 X R
110/87, BFHE 158, 520, BStBl II 1990, 195 = SIS 90 03 15).
|
|
|
17
|
Dass mit dem - in den meisten Entscheidungen
nicht näher erläuterten - Begriff der
„Bestandskraft“ nicht die materielle, sondern
die formelle Bestandskraft gemeint ist, ergibt sich u.a. aus dem
BFH-Urteil vom 30.8.2001 IV R 30/99 (BFHE 196, 507, BStBl II 2002,
49 = SIS 02 02 45, unter II.2.a), wo es in dem hier
interessierenden Zusammenhang heißt, unanfechtbar sei eine
Steuerfestsetzung, wenn sie nicht mehr mit ordentlichen
außergerichtlichen oder gerichtlichen Rechtsbehelfen
angefochten werden könne.
|
|
|
18
|
Eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass der
Eintritt der formellen Bestandskraft die zeitliche Grenze für
die anderweitige Ausübung von Antrags- oder Wahlrechten
bildet, macht die Rechtsprechung aber, wenn der ursprüngliche
Bescheid noch unter dem Vorbehalt der Nachprüfung steht
(BFH-Urteil vom 3.2.1987 IX R 255/84, BFH/NV 1987, 751, unter
II.1.; diese Entscheidung wird auch in dem vom FA im vorliegenden
Revisionsverfahren angeführten BFH-Beschluss in BFH/NV 2010,
1415 = SIS 10 21 06 zustimmend zitiert; im Ergebnis wohl auch
BFH-Urteil vom 25.10.2007 III R 39/04, BFHE 219, 294, BStBl II
2008, 226 = SIS 08 07 20; anders allerdings für das
umsatzsteuerrechtliche Wahlrecht zur Bestimmung des
Vorsteuer-Aufteilungsschlüssels BFH-Urteil vom 22.11.2007 V R
35/06, BFH/NV 2008, 628 = SIS 08 14 57).
|
|
|
19
|
Im Ergebnis besteht damit Einigkeit, dass
durch die erstmalige oder geänderte Ausübung eines
Antrags- oder Wahlrechts die Änderung einer formell
bestandskräftigen, nicht unter dem Vorbehalt der
Nachprüfung stehenden Steuerfestsetzung nicht erreicht werden
kann, und eine solche Verfahrenshandlung insbesondere nicht die
Voraussetzungen einer der gesetzlichen Korrekturvorschriften
erfüllt.
|
|
|
20
|
b) Vorliegend begehrt die Klägerin indes
nicht die Änderung eines bestandskräftigen Bescheids.
Vielmehr hat sie einen steuererhöhenden Änderungsbescheid
angegriffen, der als solcher nicht bestandskräftig geworden
ist. Zu derartigen Fallgestaltungen hat sich in der
höchstrichterlichen Rechtsprechung noch kein einheitliches
Bild entwickelt.
|
|
|
21
|
aa) Für Zwecke der Ausübung des
Ehegatten zustehenden Rechts auf Wahl der Veranlagungsform
(§§ 26 ff. EStG) lässt die ständige
Rechtsprechung der hierfür zuständigen bzw.
zuständig gewesenen Senate des BFH eine Änderung der
bereits ausgeübten Wahlmöglichkeit auch dann zu, wenn die
anderweitige Veranlagungsform erst nach Ergehen eines
Änderungsbescheids, der an die Stelle eines formell
bestandskräftig gewordenen Bescheids getreten ist,
gewählt wird (tragend in den BFH-Urteilen vom 27.7.1988 VI R
43/85, BFH/NV 1989, 156; vom 27.9.1988 VIII R 98/87, BFHE 155, 91,
BStBl II 1989, 229 = SIS 89 04 52, und vom 25.6.1993 III R 32/91,
BFHE 171, 407, BStBl II 1993, 824 = SIS 93 20 05; ferner obiter
dicta in den BFH-Urteilen vom 28.8.1981 VI R 139/78, BFHE 134, 412,
BStBl II 1982, 156 = SIS 82 09 01; vom 24.5.1991 III R 105/89, BFHE
165, 345, BStBl II 1992, 123 = SIS 92 01 02, unter 2.b; vom
19.5.1999 XI R 97/94, BFHE 189, 63, BStBl II 1999, 762 = SIS 99 19 38; vom 20.1.1999 XI R 31/96, BFH/NV 1999, 1333 = SIS 99 51 39, und
vom 24.1.2002 III R 49/00, BFHE 198, 12, BStBl II 2002, 408 = SIS 02 05 83, unter II.1.).
|
|
|
22
|
Diese Entscheidungen sind allerdings
jedenfalls nicht zwingend auf andere einkommensteuerrechtliche
Antrags- oder Wahlrechte übertragbar, da es sich bei der
anderweitigen Ausübung des Ehegattenwahlrechts nach der
Rechtsprechung des III. Senats weder um einen Einspruch noch um
einen Änderungsantrag handelt. Eine solche Verfahrenshandlung
berechtigt daher nur zu einer Änderung der Veranlagungsform,
nicht aber zur Änderung der bisher berücksichtigten
Besteuerungsgrundlagen (BFH-Urteil vom 3.3.2005 III R 60/03, BFHE
209, 308, BStBl II 2005, 564 = SIS 05 24 58).
|
|
|
23
|
bb) Auch hat es die höchstrichterliche
Rechtsprechung zugelassen, ein Wahlrecht (erstmals) im
Einspruchsverfahren gegen einen Änderungsbescheid
auszuüben, wenn erst dieser Änderungsbescheid
überhaupt die Grundlage für die Ausübung des
Wahlrechts gelegt hat. So hat es der IV. Senat gebilligt, dass die
Vergünstigung des § 6c EStG für die Übertragung
stiller Reserven aus der Veräußerung von
landwirtschaftlichem Grund und Boden im Einspruchsverfahren gegen
einen Änderungsbescheid geltend gemacht wurde, wenn erst in
diesem Änderungsbescheid ein Veräußerungsgewinn aus
dem - vom Steuerpflichtigen als Privatvermögen angesehenen -
Grundbesitz angesetzt worden ist (BFH-Urteil in BFHE 196, 507,
BStBl II 2002, 49 = SIS 02 02 45).
|
|
|
24
|
cc) Darüber hinaus wird die Änderung
eines bestandskräftigen Bescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 2
AO zugelassen, wenn der Sachverhalt, auf dem das Wahlrecht beruht,
dem FA nachträglich bekannt wird und den Steuerpflichtigen an
dem nachträglichen Bekanntwerden kein grobes Verschulden
trifft. In diesem Fall kann der Steuerpflichtige sein Wahlrecht
erstmals ausüben, obwohl der Sachverhalt als solcher bereits
in der ursprünglichen Veranlagung erfasst war und diese
bestandskräftig geworden ist (BFH-Urteil vom 28.9.1984 VI R
48/82, BFHE 141, 532, BStBl II 1985, 117 = SIS 84 21 34: wenn dem
Steuerpflichtigen erst nach Bestandskraft der Veranlagung bekannt
wird, dass darin auch Jubiläumszuwendungen seines Arbeitgebers
erfasst worden sind, kann er gleichwohl deren ermäßigte
Besteuerung nach § 34 EStG beantragen und das FA zur
Änderung des Bescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO
veranlassen).
|
|
|
25
|
c) Jedenfalls in Fallgestaltungen wie im
Streitfall wird die zeitliche Grenze für die Möglichkeit
der erstmaligen oder geänderten Ausübung eines Antrags-
oder Wahlrechts nach Auffassung des erkennenden Senats nicht durch
die formelle Bestandskraft des Erstbescheids, sondern erst durch
die formelle Bestandskraft des steuererhöhenden
Änderungsbescheids gezogen, sofern die steuerlichen
Auswirkungen der Ausübung des Antrags- oder Wahlrechts nicht
über den durch § 351 Abs. 1 AO gezogenen Rahmen hinaus
gehen.
|
|
|
26
|
Der Zweck der unter a) zitierten
Rechtsprechung liegt darin, zu verhindern, dass ein formell und
materiell bestandskräftiger Steuerbescheid, für dessen
Änderung keine Korrekturvorschrift zur Verfügung steht,
allein wegen der erstmaligen oder anderweitigen Ausübung eines
Antrags- oder Wahlrechts geändert werden muss. Der
Steuerpflichtige soll die Finanzverwaltung nicht allein durch die
nachträgliche („verspätete“)
erstmalige oder geänderte Ausübung von Antrags- oder
Wahlrechten zwingen können, die Veranlagung
verfahrensrechtlich wieder zu „öffnen“. Vor
diesem Hintergrund ist die Ausübung von Antrags- oder
Wahlrechten in der zitierten Rechtsprechung zutreffend insbesondere
weder als neue Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO noch
als rückwirkendes Ereignis i.S. des § 175 Abs. 1 Satz 1
Nr. 2 AO angesehen worden.
|
|
|
27
|
Eine grundlegend andere Situation ist aber
gegeben, wenn das FA den formell bestandskräftig gewordenen
Bescheid ohnehin - mit steuererhöhender Wirkung - ändern
muss, weil die Voraussetzungen einer Korrekturvorschrift
erfüllt sind und insoweit die materielle Bestandskraft des
Bescheids durchbrochen wird. Jedenfalls dann, wenn für den
Steuerpflichtigen - wie im vorliegenden Fall - erst durch die
erstmalige Erfassung eines weiteren steuererheblichen Sachverhalts
im Änderungsbescheid überhaupt die wirtschaftliche
Notwendigkeit entsteht, sich mit der Ausübung bzw.
geänderten Ausübung eines einkommensteuerrechtlichen
Antrags- oder Wahlrechts für denselben Veranlagungszeitraum zu
befassen (vgl. hierzu auch die vorstehend unter b bb
angeführte Rechtsprechung), ist es interessengerecht, ihm
diese Möglichkeit bis zur formellen Bestandskraft des
Änderungsbescheids zuzugestehen. Davon unberührt bleibt,
dass andere einkommensteuerrechtliche Vorschriften (z.B. das
Gewinnermittlungswahlrecht nach § 4 Abs. 3 EStG oder
jedenfalls die Ansparabschreibung nach § 7g EStG a.F.) weitere
materiell-rechtliche Anforderungen an eine geänderte
Wahlrechtsausübung stellen und in diesen Fällen allein
der noch fehlende Eintritt der formellen Bestandskraft eines
Änderungsbescheids nicht hinreichend für eine
geänderte Wahlrechtsausübung ist.
|
|
|
28
|
Soweit der IX. Senat des BFH im Beschluss in
BFH/NV 2010, 1415 = SIS 10 21 06 zu einer mit dem vorliegend zu
beurteilenden Sachverhalt im Wesentlichen vergleichbaren
Konstellation im Ergebnis - ohne näher zwischen der
Bestandskraft von Erstbescheiden und der von
Änderungsbescheiden zu differenzieren - eine andere Auffassung
vertreten hat, hat er auf Anfrage des erkennenden Senats
erklärt, daran nicht mehr festzuhalten.
|
|
|
29
|
3. Das vorinstanzliche Urteil ist allerdings
insoweit rechtsfehlerhaft, als es der Klägerin zwar den
Freibetrag für den Gewinn aus der Veräußerung der
KG-Beteiligung (22.975 EUR) zugesprochen, den bisher gewährten
Freibetrag für die Betriebsveräußerung (3.705 EUR)
aber nicht gegengerechnet hat.
|
|
|
30
|
Der Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG kann
nach dem Gesetzeswortlaut („nur einmal zu
gewähren“) auch bei Veräußerung oder
Aufgabe mehrerer Betriebe, Teilbetriebe oder Mitunternehmeranteile
innerhalb desselben Veranlagungszeitraums nur für einen
einzigen Veräußerungs- oder Aufgabegewinn in Anspruch
genommen werden (so zutreffend auch Kobor in
Herrmann/Heuer/Raupach, § 16 EStG Rz 730).
|
|
|
31
|
Vorliegend hat das FG tenoriert, der
Einkommensteueränderungsbescheid werde „nach
Maßgabe der Urteilsgründe geändert“. Die
Urteilsgründe enthalten allerdings lediglich
Rechtsausführungen, aber keine Hinweise zur Steuerberechnung.
Hinreichend klar wird nur, dass das FG den Freibetrag nach §
16 Abs. 4 EStG für den Gewinn aus der Veräußerung
der KG-Beteiligung (22.975 EUR) gewähren wollte. Angesichts
des Umstands, dass die Klägerin ausweislich des Tatbestands
des angefochtenen Urteils die Steuerfreistellung des Betrags von
22.975 EUR (ohne Gegenrechnung des bisher gewährten
Freibetrags von 3.705 EUR) beantragt hatte und das FG der Klage in
vollem Umfang stattgegeben hat, ohne der Klägerin für den
zu weit gehenden Klageantrag eine Kostenquote aufzuerlegen, ist
davon auszugehen, dass das FG keine Gegenrechnung des bisher
gewährten Freibetrags vornehmen wollte. In diesem Umfang war
das angefochtene Urteil zu ändern.
|
|
|
32
|
Die Ermittlung der festzusetzenden Steuer wird
gemäß § 100 Abs. 2 Satz 2, § 121 Satz 1 FGO
dem FA übertragen.
|
|
|
33
|
4. Die Kostenentscheidung beruht auf §
136 Abs. 1 Satz 1 FGO.
|