Antrag auf Absehen von Verlustrücktrag, Rücknehmbarkeit: Der Antrag, ganz oder teilweise von einem Verlustrücktrag abzusehen, kann nur bis zum Eintritt der Bestandskraft des Bescheids über die gesonderte Feststellung des zum Schluss des Verlustentstehungsjahres verbleibenden Verlustvortrags geändert oder widerrufen werden. - Urt.; BFH 17.9.2008, IX R 72/06; SIS 08 40 76
I. Die Kläger und Revisionsbeklagten
(Kläger) wurden als Eheleute im Streitjahr 2001 zusammen zur
Einkommensteuer veranlagt.
Der Beklagte und Revisionskläger (das
Finanzamt - FA - ) setzte die Einkommensteuer für das Jahr
2002 bei einem negativen Gesamtbetrag der Einkünfte auf 0 EUR
fest; der negative Gesamtbetrag der Einkünfte ergab sich aus
negativen Einkünften der Klägerin aus Gewerbebetrieb. Auf
Nachfrage des FA teilten die Kläger mit Schreiben vom
20.8.2003 mit, ein Verlustrücktrag in das Streitjahr solle
nicht durchgeführt werden; der Verlust solle in das Jahr 2003
vorgetragen werden. Mit Bescheid vom 3.5.2004 stellte das FA den
zum 31.12.2002 verbleibenden Verlustvortrag gesondert fest.
Mit Schreiben vom 3.7.2004 beantragten die
Kläger, den Verlust aus dem Jahr 2002 in Höhe von 6.000
EUR auf das Streitjahr zurückzutragen, da sich der
Verlustvortrag nicht in voller Höhe bei der
Einkommensteuerveranlagung für das Jahr 2003 auswirke. Das FA
lehnte diesen Antrag ab. Nach R 115 Abs. 5 Satz 2 der
Einkommensteuer-Richtlinien 2001 (EStR) könne der Antrag, vom
Verlustrücktrag nach § 10d Abs. 1 Satz 1 des
Einkommensteuergesetzes ganz abzusehen, bis zur Bestandskraft des
den verbleibenden Verlustvortrag feststellenden Bescheids nach
§ 10d Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes widerrufen
werden.
Der nach erfolglosem Einspruch erhobenen
Klage gab das Finanzgericht (FG) mit seinem in EFG 2007, 401 = SIS 07 12 29, veröffentlichten Urteil statt.
Mit seiner Revision rügt das FA die
Verletzung des § 10d Abs. 1 Sätze 5 bis 8 des
Einkommensteuergesetzes in der für das Streitjahr geltenden
Fassung (EStG).
Das FA beantragt sinngemäß, das
angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen, die Revision
zurückzuweisen.
Das dem Verfahren beigetretene
Bundesministerium der Finanzen vertritt die Auffassung, nach der
Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) könnten Wahlrechte
grundsätzlich nur bis zur Bestandskraft derjenigen
Steuerfestsetzung ausgeübt werden, auf die sie sich auswirken
sollen. R 115 Abs. 5 Satz 2 EStR wende diese Rechtsprechung auf
§ 10d Abs. 1 EStG an; der Antrag nach § 10d Abs. 1 Satz 7
EStG wirke sich auf die gesonderte Feststellung des verbleibenden
Verlustvortrags zum Ende des Verlustentstehungsjahres aus.
II. Die Revision ist begründet. Sie
führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur
Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ).
Das FG hat das FA zu Unrecht verpflichtet, den
Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr zu ändern und
einen Verlustrücktrag aus dem Jahr 2002 zu
berücksichtigen.
1. Gemäß § 10d Abs. 1 Satz 5
EStG ist ein für den unmittelbar vorangegangenen
Veranlagungszeitraum bereits erlassener Steuerbescheid insoweit zu
ändern, als der Verlustrücktrag (§ 10d Abs. 1 Satz 1
EStG) zu gewähren oder zu berichtigen ist. Das gilt auch dann,
wenn der Steuerbescheid unanfechtbar geworden ist; die
Festsetzungsfrist endet insoweit nicht, bevor die Festsetzungsfrist
für den Veranlagungszeitraum abgelaufen ist, in dem die
negativen Einkünfte nicht ausgeglichen werden (§ 10d Abs.
1 Satz 6 EStG).
§ 10d Abs. 1 Sätze 5 und 6 EStG
enthalten gegenüber der Abgabenordnung (AO) eigenständige
Korrekturvorschriften (vgl. BFH-Urteil vom 19.5.1999 XI R 97/94,
BFHE 189, 63, BStBl II 1999, 762 = SIS 99 19 38, m.w.N.).
Berichtigungsgrund ist allein ein fehlerhafter Verlustabzug; dessen
Ursache ist ohne Bedeutung (BFH-Urteil vom 1.9.1998 VIII R 4/97,
BFH/NV 1999, 599 = SIS 98 51 28, m.w.N.). Die Vorschriften
bezwecken die richtige und vollständige Verwirklichung des
Verlustabzugs und stellen die Rechtmäßigkeit des
Bescheides vor das Vertrauen in dessen Bestand (BFH-Urteil vom
4.4.2001 XI R 59/00, BFHE 195, 286, BStBl II 2001, 564 = SIS 01 10 34, m.w.N.).
2. Entgegen der Auffassung des FG sind im
Streitfall die Voraussetzungen des § 10d Abs. 1 Satz 5 EStG
nicht erfüllt. Denn ein Verlustrücktrag für das
Streitjahr ist aufgrund des Antrags der Klägerin vom
20.8.2003, vom Verlustrücktrag ganz abzusehen, nicht zu
gewähren; die Klägerin ist an ihren Antrag infolge der
Bestandskraft des Bescheids vom 3.5.2004 über die gesonderte
Feststellung des zum 31.12.2002 verbleibenden Verlustvortrags
gebunden.
a) Ein Verlustrücktrag ist nicht i.S. des
§ 10d Abs. 1 Satz 5 EStG „zu
gewähren“, soweit der Steuerpflichtige beantragt
hat, vom Verlustrücktrag abzusehen. Nach § 10d Abs. 1
Satz 7 EStG ist auf Antrag des Steuerpflichtigen ganz oder
teilweise von der Anwendung des Satzes 1 der Vorschrift abzusehen;
im Antrag ist die Höhe des Verlustrücktrags anzugeben
(§ 10d Abs. 1 Satz 8 EStG). Rechtsfolge des Antrags ist, dass
der Verlustrücktrag nach § 10d Abs. 1 Satz 1 EStG ganz
oder teilweise ausgeschlossen ist. Im beantragten Umfang ist ein
Verlustrücktrag daher auch nicht zu gewähren. Die
Klägerin - bei Ehegatten gilt der Antrag des Ehegatten, der
den Verlust erzielt hat (Schmidt/Heinicke, EStG, 27. Aufl., §
10d EStG Rz 27; Hallerbach in Herrmann/Heuer/Raupach - HHR -,
§ 10d EStG Rz 90; v. Groll, in:
Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 10d Rz B 126) - hat
mit Schreiben vom 20.8.2003 wirksam beantragt, von einem
Verlustrücktrag in das Streitjahr ganz abzusehen; der Antrag
ist nicht formbedürftig.
b) Diesen Antrag konnte die Klägerin mit
ihrem Schreiben vom 3.7.2004 nicht mehr ändern. Das Gesetz
sieht für den Antrag nach § 10d Abs. 1 Satz 7 EStG zwar
weder eine Frist noch eine Bindung an die einmal getroffene
Entscheidung vor. Die Klägerin hat ihr Antragsrecht aber mit
Eintritt der Bestandskraft des Bescheids vom 4.5.2004 über die
gesonderte Feststellung des zum 31.12.2002 verbleibenden
Verlustvortrags verbraucht; sie ist infolge der Bestandskraft
dieses Bescheids an ihren Antrag gebunden.
aa) Die Klägerin war allerdings nicht
bereits mit dem Zugang ihres Antrags beim FA entsprechend §
130 Abs. 1 Satz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches daran
gebunden. Dem Antrag nach § 10d Abs. 1 Satz 7 EStG - eine
öffentlich-rechtliche Willenserklärung (HHR/Hallerbach,
§ 10d EStG Rz 90) - liegt kein selbständiges
Gestaltungsrecht zugrunde, bei dem der Zweck seiner Ausübung
schon durch die Ausübung selbst und nicht erst mit einer
entsprechenden Entscheidung der Finanzbehörde erreicht wird
(zu sog. „selbständigen Gestaltungsrechten“
BFH-Urteil vom 19.12.1985 V R 167/82, BFHE 145, 457, BStBl II 1986,
420 = SIS 86 07 35; sowie Tipke in Tipke/Kruse, Abgabenordnung,
Finanzgerichtsordnung, Vor § 149 AO Rz 5; Weber-Grellet in:
DStR 1992, 1417).
Der Antrag bewirkt zwar unmittelbar, dass im
beantragten Umfang vom Verlustrücktrag abzusehen ist (vgl. v.
Groll, a.a.O., § 10d Rz A 176 und B 357); er ist aber nur das
rechtstechnische Mittel, um dem Steuerpflichtigen ein Wahlrecht
zwischen Verlustrücktrag und Verlustvortrag zu gewähren
und es ihm zu ermöglichen, zugunsten des Verlustvortrags ganz
oder teilweise auf den Verlustrücktrag zu verzichten (BTDrucks
12/4487, S. 34; vgl. auch HHR/Hallerbach, § 10d EStG Rz 90).
Soweit der Steuerpflichtige beantragt, von der Anwendung des §
10d Abs. 1 Satz 1 EStG abzusehen, erhöht sich der
Verlustvortrag entsprechend.
Der Verlustvortrag nach § 10d Abs. 2 EStG
setzt indes die gesonderte Feststellung des verbleibenden
Verlustvortrags nach § 10d Abs. 4 EStG voraus; der
Verlustfeststellungsbescheid ist Grundlagenbescheid für den
Einkommensteuer- und den Verlustfeststellungsbescheid des folgenden
Veranlagungszeitraums (vgl. BFH-Urteil vom 6.7.2005 XI R 27/04,
BFH/NV 2006, 16 = SIS 06 02 30, m.w.N.; Schmidt/Heinicke, a.a.O.,
§ 10d Rz 46). Die mit dem Antrag erstrebte Rechtsfolge wird
daher erst mit der gesonderten Feststellung des verbleibenden
Verlustvortrags zum Schluss des Verlustentstehungsjahres
erreicht.
bb) Auch unbefristete Wahlrechte können
aber (nur) bis zum Eintritt der Bestandskraft derjenigen
Steuerfestsetzung ausgeübt werden, auf welche sie sich
auswirken sollen. Andererseits sind sie erst mit Eintritt der
Unanfechtbarkeit des entsprechenden Bescheids verbraucht
(BFH-Urteile vom 21.9.2005 X R 32/03, BFHE 211, 221, BStBl II 2006,
66 = SIS 06 00 16, und vom 30.8.2001 IV R 30/99, BFHE 196, 507,
BStBl II 2002, 49 = SIS 02 02 45, jeweils m.w.N.). Dies gilt auch
dann, wenn sich das Wahlrecht auf eine gesonderte Feststellung
auswirken soll; denn hierfür gelten die Vorschriften über
die Durchführung der Besteuerung sinngemäß (§
181 Abs. 1 Satz 1 AO). Da sich der Antrag nach § 10d Abs. 1
Satz 7 EStG auf den Feststellungsbescheid gemäß §
10d Abs. 4 EStG auswirken soll, kann er auch nur bis zum Eintritt
der Bestandskraft dieses Bescheids widerrufen oder geändert
werden (gl.A. Schmidt/Heinicke, a.a.O., § 10d Rz 28,
Blümich/Schlenker, § 10d EStG Rz 86; a.A. HHR/Hallerbach,
§ 10d EStG Rz 90; Zwerger in Dötsch/Jost/Pung/Witt,
Kommentar zum KStG und EStG, § 33 KStG a.F., Rz 117). R 115
Abs. 5 Satz 2 EStR legt demnach das Gesetz zutreffend aus.
cc) Entgegen der Auffassung des FG (so auch
Urteil des FG Köln vom 30.1.2001 13 K 6855/00, EFG 2001, 841 =
SIS 01 82 85; Zwerger, a.a.O., § 33 KStG a.F., Rz 117) ergibt
sich aus § 10d Abs. 1 Sätze 5 und 6 EStG nicht, dass ein
Antrag nach § 10d Abs. 1 Satz 7 EStG bis zum Ablauf der
Festsetzungsfrist des Verlustentstehungsjahres jederzeit
geändert werden kann. § 10d Abs. 1 Sätze 5 und 6
EStG gelten nur für den Verlustrücktrag, nicht aber
für den Antrag nach § 10d Abs. 1 Satz 7 EStG (gl.A. v.
Groll, a.a.O., § 10d Rz A 177 und B 356). Denn § 10d Abs.
1 Satz 5 EStG bezieht sich nach seinem Wortlaut nur auf § 10d
Abs. 1 Satz 1 EStG. Die Vorschrift setzt voraus, dass der - in
§ 10d Abs. 1 Satz 1 EStG legal definierte -
Verlustrücktrag zu gewähren oder zu berichtigen ist; der
Antrag nach § 10d Abs. 1 Satz 7 EStG wird weder in Satz 5 noch
in Satz 6 der Vorschrift erwähnt. Soweit ein Antrag nach
§ 10d Abs. 1 Satz 7 EStG vorliegt, ist aber - wie bereits
ausgeführt - der Anwendungsbereich des § 10d Abs. 1 Satz
1 EStG nicht eröffnet. Diese Auslegung nach dem Wortlaut
entspricht auch dem Zweck des § 10d Abs. 1 Sätze 5 und 6
EStG, den Verlustrücktrag richtig und vollständig zu
verwirklichen.
dd) Die Bindungswirkung des Antrags mit
Eintritt der Bestandskraft des Verlustfeststellungsbescheids ist
auch nicht deshalb zu verneinen, weil dieser Bescheid nach §
175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO zu ändern wäre, wenn der
Antrag - wie im Streitfall - nach diesem Zeitpunkt geändert
wird. Denn die Änderung des Antrags ist kein
rückwirkendes Ereignis i.S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
AO.
Nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist ein
Steuerbescheid zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das
steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat. Ob ein Ereignis
ausnahmsweise steuerlich in die Vergangenheit zurückwirkt,
richtet sich allein nach den Normen des jeweils einschlägigen
materiellen Steuerrechts. Es muss ein Bedürfnis bestehen, eine
schon bestandskräftig getroffene Regelung an die
nachträgliche Sachverhaltsänderung anzupassen (BFH-Urteil
vom 10.11.2004 II R 24/03, BFHE 207, 364, BStBl II 2005, 182 = SIS 05 04 80, m.w.N.).
Für den Antrag nach § 10d Abs. 1
Satz 7 EStG ist ein solches Bedürfnis zu verneinen, da dem
Steuerpflichtigen zum Zeitpunkt der gesonderten Verlustfeststellung
nach § 10d Abs. 4 EStG sowohl seine nicht ausgeglichenen
negativen Einkünfte als auch der Gesamtbetrag der
Einkünfte im Rücktragsjahr bekannt sind. Damit kann er
von seinem Antragsrecht Gebrauch machen. Weder Wortlaut noch Zweck
des § 10d Abs. 1 Satz 7 EStG erfordern, dass dem
Steuerpflichtigen zum Zeitpunkt der Ausübung des Antragsrechts
seine Einkünfte in den dem Verlustentstehungsjahr folgenden
Veranlagungszeiträumen bekannt sind. Die Möglichkeit,
zugunsten des Verlustvortrags ganz oder teilweise auf den
Verlustrücktrag zu verzichten, sollte lediglich das
körperschaftsteuerliche Anrechungsverfahren vereinfachen. Zur
Gleichbehandlung sollte dies für natürliche Personen und
Körperschaften gelten (vgl. BTDrucks 12/4487, S. 26). Die
Regelung sollte die bisherigen Bestimmungen in § 8 Abs. 5 und
in § 33 Abs. 3 des Körperschaftsteuergesetzes entbehrlich
machen, die verhindern sollten, dass bei den zur
Eigenkapitalgliederung verpflichteten Körperschaften ein
Verlustrücktrag beim Zusammentreffen mit einer
Gewinnausschüttung für das Abzugsjahr ohne steuerliche
Entlastung verbraucht wird (BTDrucks 12/4487, S. 36). Der
Gesetzesbegründung ist nicht zu entnehmen, dass das
Antragsrecht dem Steuerpflichtigen - wie das FG meint - eine
veranlagungszeitraumübergreifende Optimierung seiner
Steuerlast ermöglichen sollte.
3. Die Sache ist spruchreif. Der
Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr ist nicht
gemäß § 10d Abs. 1 Sätze 5 und 6 EStG zu
ändern. Die Klage ist daher abzuweisen.