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Außergewöhnliche Belastungen bei Unterbringung einer Jugendlichen in einer Einrichtung der Jugendhilfe

Außergewöhnliche Belastungen bei Unterbringung einer Jugendlichen in einer Einrichtung der Jugendhilfe: 1. Für den Begriff der "Behinderung" i.S. des § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. c EStDV ist auf § 2 Abs. 1 SGB IX abzustellen. Danach sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. - 2. Ob im Einzelfall eine Behinderung i.S. des § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. c EStDV i.V.m. § 2 Abs. 1 SGB IX vorliegt, hat das FG aufgrund der ihm obliegenden Würdigung der Umstände des Einzelfalls festzustellen. - Urt.; BFH 18.6.2015, VI R 31/14; SIS 15 28 23

Kapitel:
Privatbereich > Außergewöhnliche Belastungen (allgemeine)
Fundstellen
  1. BFH 18.06.2015, VI R 31/14
    BStBl 2016 II S. 40
    DStR 2015 S. 2843

    Anmerkungen:
    zur Veröffentlichung in BStBl II bestimmt nach BMF-Online vom 18.1.2016
    A. Killat-Risthaus in DStZ 1-2/2016 S. 8
    S. Schneider in BFH/PR 3/2016 S. 74
Normen
[SGB IX] § 2 Abs. 1
[EStG] § 33 Abs. 1, § 33 Abs. 2 Satz 1
[SGB VIII] § 35 a Abs. 1 a Satz 2, § 91 ff.
[EStDV] § 64 Abs. 1, § 84 Abs. 3 f.
[SGB V] § 2, § 23, § 31, § 32, § 33, § 275
Vorinstanz / Folgeinstanz:
  • vor: Niedersächsisches FG, 27.11.2013, SIS 14 26 14, Außergewöhnliche Belastung, Behinderung, Jugendhilfe, Nachweis, Attest, Amtsarzt, Verfassungsmäßigkeit, Rückwirkung
Zitiert in... / geändert durch...
  • FG Bremen 10.11.2022, SIS 23 01 48, Reichweite der Regelungswirkung eines Kindergeld-Aufhebungsbescheids: 1. Die Regelungswirkung eines Besch...
  • FG Bremen 10.11.2022, SIS 23 01 50, Seelische Behinderung als Voraussetzung für eine kindergeldrechtliche Berücksichtigung nach § 32 Abs. 4 S...
  • FG München 27.10.2022, SIS 23 19 09, Mieterhöhung infolge behindertengerechter (Um-)Baumaßnahmen als außergewöhnliche Belastung: 1. Mehraufwen...
  • Hessisches FG 9.6.2022, SIS 22 18 15, Kindergeld wegen Behinderung ohne förmliche Bescheinigung der Behinderung durch einen Arzt oder Gutachter...
  • BFH 15.12.2021, SIS 22 05 90, Kindergeld für ein langfristig erkranktes Kind bei fortbestehendem Ausbildungsverhältnis: 1. Eine kinderg...
  • BFH 7.10.2021, SIS 22 05 81, Kindergeld, Berücksichtigung eines Kindes nach krankheitsbedingtem Ausbildungsabbruch: 1. Ist ein Kind kr...
  • BFH 7.10.2021, SIS 22 08 60, Kindergeld, Berücksichtigung eines Kindes nach krankheitsbedingtem Ausbildungsabbruch: 1. Ist ein Kind kr...
  • BFH 31.8.2021, SIS 22 01 46, Kindergeld, Berücksichtigung eines längerfristig erkrankten Kindes: 1. Ist ein Kind krankheitsbedingt nic...
  • BFH 31.8.2021, SIS 22 01 47, Kindergeld, Berücksichtigung eines Kindes nach krankheitsbedingtem Ausbildungsabbruch: 1. Ist ein Kind kr...
  • BFH 31.8.2021, SIS 22 01 48, Kindergeld, Berücksichtigung eines Kindes nach krankheitsbedingtem Ausbildungsabbruch: 1. Ist ein Kind kr...
  • BFH 31.8.2021, SIS 22 01 49, Kindergeld, Berücksichtigung eines längerfristig erkrankten Kindes: 1. Ist ein Kind krankheitsbedingt nic...
  • BFH 31.8.2021, SIS 22 01 50, Kindergeld, Berücksichtigung eines Kindes nach krankheitsbedingtem Ausbildungsabbruch: 1. Eine kindergeld...
  • FG Hamburg 12.11.2020, SIS 21 00 44, Kindergeld für ein volljähriges Kind mit Asperger-Syndrom: Leidet ein volljähriges Kind unter dem Asperge...
  • Thüringer FG 7.7.2020, SIS 20 18 44, Aufwendungen für im Jahr 2016 durchgeführte Liposuktion (Fettabsaugung) ohne vorab eingeholtes amtsärztli...
  • BFH 27.11.2019, SIS 20 07 77, Kindergeld für ein volljähriges behindertes Kind, Feststellung eines Gendefektes nach Vollendung des 27. ...
  • FG Köln 31.10.2019, SIS 19 21 29, Fehlendes Kreuzchen des Arztes im Vordruck schließt nicht die gerichtliche Annahme einer Behinderung aus:...
  • FG Rheinland-Pfalz 4.7.2018, SIS 18 21 30, Zu den Anforderungen an ein nach § 64 Abs. 1 Satz 2 EStDV erforderliches amtsärztliches Gutachten zum Nac...
  • FG Düsseldorf 14.3.2017, SIS 17 11 09, Abzug von Schulgeldzahlungen als außergewöhnliche Belastungen: 1. Aufwendungen für den Besuch einer Priva...
  • BFH 19.1.2017, SIS 17 07 97, Anspruch auf Kindergeld für ein volljähriges, psychisch erkranktes Kind, keine Bindungswirkung des Revisi...

Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 27.11.2013 7 K 69/12 = SIS 14 26 14 aufgehoben.
Die Sache wird an das Niedersächsische Finanzgericht zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens übertragen.

 

1

I. Streitig ist, ob Aufwendungen für die vollstationäre Unterbringung einer Jugendlichen in einer Einrichtung der Jugendhilfe als außergewöhnliche Belastungen nach § 33 des Einkommensteuergesetzes (EStG) abziehbar sind.

 

 

2

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Ehegatten und wurden in den Streitjahren 2009 und 2010 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt.

 

 

3

Die im Jahr 1994 geborene Tochter A der Kläger litt seit längerem an einer einfachen Störung der Konzentration und Aufmerksamkeit (F90.0, Liste der Internationalen Klassifikation der Krankheiten - ICD-10 - ) sowie an einer kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (F92.8, ICD-10; vgl. Befundbericht des Kinderhospitals X vom 16.10.2007 sowie jugendpsychiatrischer Befundbericht der Y Jugendklinik vom 17.4.2009). A befand sich Ende 2006 in jugendpsychiatrischer Behandlung. Nachdem es im häuslichen Bereich aufgrund aggressiven Verhaltens von A zu massiven Schwierigkeiten gekommen war, erfolgte in der Zeit von März 2007 bis Juni 2007 eine stationäre kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung. Eine weitere stationäre jugendpsychiatrische Beobachtung und Behandlung fand von November 2008 bis Januar 2009 statt. Seit Januar 2009 war die Tochter in einer betreuten Mädchenwohngruppe untergebracht. Der Landkreis gewährte vollstationäre Jugendhilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) durch Übernahme der Jugendhilfekosten. Nach Überprüfung der Einkommensverhältnisse der Kläger setzte der Landkreis einen Kostenbeitrag gemäß §§ 91 ff. SGB VIII für das Jahr 2009 in Höhe von 7.151,52 EUR und für das Jahr 2010 in Höhe von 7.842 EUR fest.

 

 

4

Mit ihren Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre beantragten die Kläger, den vom Landkreis festgesetzten Kostenbeitrag als außergewöhnliche Belastungen nach § 33 Abs. 1 EStG anzuerkennen. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA - ) berücksichtigte diese Aufwendungen nicht. Die Einsprüche der Kläger wies das FA zurück, weil ein vor Beginn der Heilmaßnahme ausgestelltes amts- oder vertrauensärztliches Gutachten nicht vorgelegt worden sei.

 

 

5

Mit der hiergegen gerichteten Klage begehrten die Kläger die Berücksichtigung ihrer Aufwendungen nach Abzug einer Haushaltsersparnis in Höhe von 5.183,52 EUR (2009) bzw. 5.874 EUR (2010) als außergewöhnliche Belastungen. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab.

 

 

6

Mit der Revision rügen die Kläger die Verletzung materiellen Rechts.

 

 

7

Sie beantragen, das Urteil des Niedersächsischen FG vom 27.11.2013 7 K 69/12 aufzuheben und die Einkommensteuerbescheide 2009 und 2010 i.d.F. der Einspruchsentscheidungen vom 16.3.2012 dahingehend abzuändern, dass für 2009 außergewöhnliche Belastungen in Höhe von 5.183,52 EUR und für 2010 in Höhe von 5.874 EUR einkommensmindernd berücksichtigt werden.

 

 

8

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

 

9

II. Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO - ). Nach den Feststellungen des FG kann nicht abschließend entschieden werden, ob die Tochter der Kläger vor Beginn der fraglichen Heilmaßnahme an einer „anderen Behinderung“ i.S. des § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. c der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung (EStDV) litt.

 

 

10

1. Nach § 33 EStG wird die Einkommensteuer auf Antrag ermäßigt, wenn einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse und gleichen Familienstands (außergewöhnliche Belastung) erwachsen. Zwangsläufig erwachsen dem Steuerpflichtigen Aufwendungen dann, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen (§ 33 Abs. 2 Satz 1 EStG). Ziel des § 33 EStG ist es, zwangsläufige Mehraufwendungen für den existenznotwendigen Grundbedarf zu berücksichtigen, die sich wegen ihrer Außergewöhnlichkeit einer pauschalen Erfassung in allgemeinen Freibeträgen entziehen. Aus dem Anwendungsbereich des § 33 EStG ausgeschlossen sind dagegen die üblichen Aufwendungen der Lebensführung, die in Höhe des Existenzminimums durch den Grundfreibetrag abgegolten sind (u.a. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 29.9.1989 III R 129/86, BFHE 158, 380, BStBl II 1990, 418 = SIS 89 24 01).

 

 

11

a) In ständiger Rechtsprechung geht der BFH davon aus, dass Krankheitskosten - ohne Rücksicht auf die Art und die Ursache der Erkrankung - dem Steuerpflichtigen aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig erwachsen. Allerdings werden nur solche Aufwendungen als Krankheitskosten berücksichtigt, die zum Zwecke der Heilung einer Krankheit (z.B. Medikamente, Operation) oder mit dem Ziel getätigt werden, die Krankheit erträglicher zu machen, beispielsweise Aufwendungen für einen Rollstuhl (BFH-Urteile vom 17.7.1981 VI R 77/78, BFHE 133, 545, BStBl II 1981, 711 = SIS 81 22 55; vom 13.2.1987 III R 208/81, BFHE 149, 222, BStBl II 1987, 427 = SIS 87 12 04, und vom 20.3.1987 III R 150/86, BFHE 149, 539, BStBl II 1987, 596 = SIS 87 16 03).

 

 

12

b) Aufwendungen für die eigentliche Heilbehandlung werden typisierend als außergewöhnliche Belastung berücksichtigt, ohne dass es im Einzelfall der nach § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG an sich gebotenen Prüfung der Zwangsläufigkeit des Grundes und der Höhe nach bedarf (BFH-Urteile vom 1.2.2001 III R 22/00, BFHE 195, 144, BStBl II 2001, 543 = SIS 01 08 40, und vom 3.12.1998 III R 5/98, BFHE 187, 503, BStBl II 1999, 227 = SIS 99 06 03). Eine derart typisierende Behandlung von Krankheitskosten ist zur Vermeidung eines unzumutbaren Eindringens in die Privatsphäre geboten (BFH-Urteil in BFHE 195, 144, BStBl II 2001, 543 = SIS 01 08 40). Dies gilt aber nur dann, wenn die Aufwendungen nach den Erkenntnissen und Erfahrungen der Heilkunde und nach den Grundsätzen eines gewissenhaften Arztes zur Heilung oder Linderung der Krankheit angezeigt (vertretbar) sind und vorgenommen werden (vgl. BFH-Urteil vom 18.6.1997 III R 84/96, BFHE 183, 476, BStBl II 1997, 805 = SIS 98 03 08), also medizinisch indiziert sind (Senatsurteil vom 19.4.2012 VI R 74/10, BFHE 237, 156, BStBl II 2012, 577 = SIS 12 16 86).

 

 

13

c) Die Zwangsläufigkeit von krankheitsbedingten Aufwendungen für Arznei-, Heil- und Hilfsmittel (§§ 2, 23, 31 bis 33 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch - SGB V - ) hat der Steuerpflichtige durch eine Verordnung eines Arztes oder Heilpraktikers nachzuweisen (§ 64 Abs. 1 Nr. 1 EStDV). In den abschließend geregelten Katalogfällen des § 64 Abs. 1 Nr. 2 EStDV (vgl. Senatsurteile vom 6.2.2014 VI R 61/12, BFHE 244, 395, BStBl II 2014, 458 = SIS 14 10 30, und vom 26.2.2014 VI R 27/13, BFHE 245, 18, BStBl II 2014, 824 = SIS 14 16 51) ist der Nachweis der Zwangsläufigkeit durch ein vor Beginn der Heilmaßnahme oder dem Erwerb des medizinischen Hilfsmittels ausgestelltes amtsärztliches Gutachten oder eine vorherige ärztliche Bescheinigung eines Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (§ 275 SGB V) zu führen (§ 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 EStDV).

 

 

14

d) Nach § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. c EStDV ist solch ein qualifizierter Nachweis auch bei krankheitsbedingten Aufwendungen für eine medizinisch erforderliche auswärtige Unterbringung eines an Legasthenie oder einer anderen Behinderung leidenden Kindes des Steuerpflichtigen zu erbringen.

 

 

15

e) Die in § 84 Abs. 3f EStDV angeordnete rückwirkende Geltung des § 64 EStDV auf alle Fälle, in denen die Einkommensteuer noch nicht bestandskräftig festgesetzt ist (Senatsurteil in BFHE 237, 156, BStBl II 2012, 577 = SIS 12 16 86), begegnet vorliegend auch für das Streitjahr 2010 keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.

 

 

16

Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats ist die in § 84 Abs. 3f EStDV angeordnete rückwirkende Geltung des § 64 EStDV verfassungsrechtlich unbedenklich, da es dem Gesetzgeber unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes nicht verwehrt ist, eine Rechtslage rückwirkend festzuschreiben, die vor einer Rechtsprechungsänderung einer gefestigten Rechtsprechung und einheitlichen Rechtspraxis entsprach, wie es vorliegend der Fall war (Senatsurteil in BFHE 237, 156, BStBl II 2012, 577 = SIS 12 16 86). Zwar hat der erkennende Senat ausdrücklich offen gelassen, ob und inwieweit anderes für die Zeit nach dem Ergehen der Urteile des BFH vom 11.11.2010 (Senatsurteile VI R 16/09, BFHE 232, 34, BStBl II 2011, 966 = SIS 11 01 53, und VI R 17/09, BFHE 232, 40, BStBl II 2011, 969 = SIS 11 01 54) bis zum endgültigen Gesetzesbeschluss am 1.11.2011 bzw. der Verkündung des Steuervereinfachungsgesetzes 2011 am 4.11.2011 (BGBl I 2011, 2131) oder jedenfalls bis zur entsprechenden Gesetzesinitiative - hier der Prüfbitte des Bundesrates vom 18.3.2011 - gilt (Senatsurteil in BFHE 237, 156, BStBl II 2012, 577 = SIS 12 16 86). Darauf kommt es im Streitfall - obwohl hier zumindest auch der Veranlagungszeitraum 2010 betroffen ist - jedoch nicht an. Denn ein Verzicht auf die Einholung eines amts- oder vertrauensärztlichen Gutachtens im Vertrauen auf die geänderte Rechtsprechung des erkennenden Senats vom 11.11.2010 (Senatsurteile in BFHE 232, 34, BStBl II 2011, 966 = SIS 11 01 53, und in BFHE 232, 40, BStBl II 2011, 969 = SIS 11 01 54) kommt hier schon deshalb nicht in Betracht, weil die Tochter der Kläger bereits seit Januar 2009 in der betreuten Mädchenwohngruppe untergebracht war. Zu diesem Zeitpunkt entsprach es sowohl der höchstrichterlichen Rechtsprechung (BFH-Urteil vom 21.4.2005 III R 45/03, BFHE 209, 365, BStBl II 2005, 602 = SIS 05 30 39) als auch der Verwaltungspraxis (R 33.4 der Einkommensteuer-Richtlinien 2008), dass im Falle einer auswärtigen Unterbringung eines verhaltensauffälligen Jugendlichen in einer Wohngruppe ein vor Beginn der Unterbringung erstelltes amts- bzw. vertrauensärztliches Gutachten zur Anerkennung der Aufwendungen als außergewöhnliche Belastungen notwendig war.

 

 

17

2. Vorliegend ist daher entscheidend, ob bei der Tochter der Kläger eine „andere Behinderung“ vorlag und daher die Nachweiserfordernisse des § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. c EStDV zu erfüllen waren.

 

 

18

a) Für den Begriff der „Behinderung“ i.S. des § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. c EStDV ist auf § 2 Abs. 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) abzustellen (Senatsurteil vom 15.1.2015 VI R 85/13, BFHE 249, 114, BStBl II 2015, 586 = SIS 15 11 08 Rz 14, m.w.N.; vgl. auch Welti in HK-SGB IX, 3. Aufl., § 2 Rz 1 und 11; Luthe, in: jurisPK-SGB IX, § 2 Rz 38 zur Bedeutung des § 2 Abs. 1 SGB IX für die gesamte Rechtsordnung bzw. für das Einkommensteuergesetz). Danach sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.

 

 

19

Zur Feststellung einer Behinderung i.S. des § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. c EStDV i.V.m. § 2 Abs. 1 SGB IX kann das Gesundheitsproblem grundsätzlich im Rahmen der ICD-10 beschrieben werden (Welti, a.a.O., § 2 Rz 20; so explizit auch § 35a Abs. 1a Satz 2 SGB VIII).

 

 

20

Da Eingliederungshilfe nach § 35a Abs. 1 SGB VIII Kinder und Jugendliche erhalten können, deren seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit für länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist bzw. eine Beeinträchtigung zu erwarten ist, kommt im Streitfall die Anwendung des § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. c EStDV wegen einer seelischen Behinderung in Betracht.

 

 

21

aa) Seelisch behindert ist, wer infolge seelischer Störung in der Funktionsfähigkeit entsprechend gemindert ist. Als solche seelische Störungen kommen körperlich nicht begründbare Psychosen, seelische Störungen als Folge von Krankheit oder Verletzung des Gehirns, Anfallsleiden oder körperliche Beeinträchtigungen, Suchtkrankheiten, Neurosen und Persönlichkeitsstörungen in Betracht (Welti, a.a.O., § 2 Rz 24; Neumann in: Neumann/Pahlen/Majerski-Pahlen, SGB IX, 12. Aufl., § 2 Rz 11).

 

 

22

bb) Eine Behinderung nach § 2 Abs. 1 SGB IX setzt zudem eine mehr als sechs Monate sich erstreckende Gesundheitsstörung voraus. Entscheidend ist insoweit nicht die seit Beginn der Erkrankung oder gar seit ihrer erstmaligen ärztlichen Feststellung abgelaufene Zeit, sondern die ihrer Art nach zu erwartende Dauer der von ihr ausgehenden Funktionsbeeinträchtigung (Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 12.4.2000 B 9 SB 3/99 R, Sozialrecht 3-3870 § 3 Nr. 9).

 

 

23

cc) Die (seelische) Gesundheit muss nach § 2 Abs. 1 SGB IX außerdem „von dem für das Lebensalter typischen Zustand“ abweichen. Leistungseinschränkungen, die für das jeweilige Alter nach ihrer Art und ihrem Umfang typisch sind, stellen danach keine Behinderung dar (BTDrucks 10/3138, 16 zu § 2a des Schwerbehindertengesetzes). Gerade bei Kindern ist zur Feststellung einer Behinderung die Abgrenzung altersadäquater Gesundheitszustände notwendig. Erforderlich ist insoweit ein Vergleich der körperlichen, geistigen bzw. seelischen Fähigkeiten mit denen eines altersentsprechenden nicht behinderten Kindes (BSG-Urteil vom 12.2.1997 9 RVs 1/95, BSGE 80, 97).

 

 

24

dd) Schließlich besteht eine Behinderung i.S. des § 2 Abs. 1 SGB IX nur dann, wenn „daher“, also in Folge der seelischen Störung, die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Eine seelische Störung allein genügt gerade nicht für die Annahme einer seelischen Behinderung. Hinzukommen muss vielmehr die Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft. Es kommt dabei auf das Ausmaß und den Grad der seelischen Störung an. Entscheidend ist, ob die seelische Störung nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv ist, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt (Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 26.11.1998 5 C 38/97, Buchholz 436.511 § 35a KJHG/ SGB VIII Nr. 1; Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs - VGH - vom 4.5.2010 10 A 1623/09; Kador in Jahn, SGB VIII, § 35a Rz 5 und 8). Hierzu ist aufgrund einer umfassenden Kenntnis des sozialen Umfelds des betroffenen Kindes oder Jugendlichen nach sozialpädagogischem und gegebenenfalls psychologischem Sachverstand zu beurteilen, wie sich die Funktionsbeeinträchtigung im Hinblick auf die Teilhabe des Kindes oder Jugendlichen am Leben in der Gesellschaft auswirkt. Sofern eine fachärztliche bzw. -therapeutische Stellungnahme zum Vorliegen einer seelischen Gesundheitsstörung auch Aussagen zur Frage einer (drohenden) Teilhabebeeinträchtigung umfasst, sind diese bei der Beurteilung angemessen zu berücksichtigen (Beschluss des Oberverwaltungsgerichts - OVG - Lüneburg vom 11.6.2008 4 ME 184/08, NVwZ - Rechtsprechungs-Report 2008, 792).

 

 

25

b) Ob im Einzelfall eine Behinderung vorliegt, hat das FG - nach Maßgabe des oben benannten Rechtsmaßstabs und - aufgrund der ihm obliegenden Würdigung der Umstände des Einzelfalls festzustellen (vgl. Senatsurteil vom 26.6.2014 VI R 51/13, BFHE 246, 326, BStBl II 2015, 9 = SIS 14 27 71, zur Auslegung des § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. f EStDV).

 

 

26

3. Im Streitfall tragen die tatsächlichen Feststellungen des FG nicht dessen Würdigung, dass die Tochter der Kläger an einer „anderen (seelischen) Behinderung“ litt.

 

 

27

a) Zwar ist die Würdigung des FG, dass bei der Tochter der Kläger eine Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit vorliegt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauert, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

 

 

28

aa) In den Befundberichten des Kinderhospitals X vom 16.10.2007 und der Y Jugendklinik vom 17.4.2009 werden eine kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (F92.8) und die einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0) diagnostiziert. Diese Befunde sind in der ICD-10 unter Kapitel V in der Kategorie „Psychische und Verhaltensstörungen“, Unterkategorie „Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend“ (F90-F98) aufgeführt. Die Würdigung des FG, dass die Tochter der Kläger an einer erheblichen Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit leidet, ist daher nachvollziehbar.

 

 

29

bb) Nicht zu beanstanden ist auch, dass das FG die Sechs-Monats-Grenze in § 2 Abs. 1 SGB IX als überschritten angesehen hat. Aufgrund der in dem Befundbericht der Y Jugendklinik vom 17.4.2009 abgegebenen Empfehlung, dass aus „der derzeitigen Sicht“ für die seelische Entwicklung der Jugendlichen ein Verbleib in der Einrichtung bis zum Ende der Schulzeit oder gegebenenfalls auch darüber hinaus sinnvoll erscheine, konnte das FG davon ausgehen, dass auch dieses Tatbestandsmerkmal erfüllt ist.

 

 

30

b) Es fehlen jedoch nachvollziehbare Feststellungen des FG zu den weiteren Tatbestandsmerkmalen des § 2 Abs. 1 SGB IX, nämlich zu den Fragen, ob die seelische Gesundheit der Tochter der Kläger von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und ob eine Teilhabebeeinträchtigung vorliegt bzw. droht.

 

 

31

Ob allein aggressive Neigungen und selbstschädigende Handlungen von Kindern und Jugendlichen - wie es die Befundberichte der Tochter der Kläger attestieren - als seelische Behinderung angesehen werden können, ist eine Frage des Einzelfalls (Kador, a.a.O., § 35a Rz 7). Bei einer hyperkinetischen Störung von Aktivität und Aufmerksamkeit (F90.0 ICD-10), die nach den Befundberichten auch bei der Tochter der Kläger vorliegt, ist die Abweichung von dem für das Lebensalter typischen Zustand der seelischen Gesundheit nur zu bejahen, wenn es als Sekundärfolge von ADHS zu einer weitergehenden seelischen Störung kommt, aufgrund derer die seelische Gesundheit des Kindes oder Jugendlichen länger als sechs Monate von dem für sein Alter typischen Zustand abweicht (Beschluss des OVG Nordrhein-Westfalen vom 19.9.2011 12 B 1040/11; Hessischer VGH, Urteil vom 4.5.2010 10 A 1623/09). Auch muss festgestellt werden, ob die in den Befundberichten weiterhin diagnostizierte kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (F92.8 ICD-10) eine in dem vorgenannten Sinne ausreichende weitergehende seelische Störung ist.

 

 

32

Die Sache ist nicht spruchreif. Im zweiten Rechtsgang wird das FG die erforderlichen Feststellungen, gegebenenfalls unter Heranziehung bereits vorliegender Unterlagen (insbesondere der Befundberichte), Einholung eines Sachverständigengutachtens oder mittels Vernehmung der Personen, die die Tochter der Kläger untersucht und behandelt haben, treffen.

 

 

33

4. Die Übertragung der Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.