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I. Streitig ist, ob Aufwendungen für
die vollstationäre Unterbringung einer Jugendlichen in einer
Einrichtung der Jugendhilfe als außergewöhnliche
Belastungen nach § 33 des Einkommensteuergesetzes (EStG)
abziehbar sind.
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Die Kläger und Revisionskläger
(Kläger) sind Ehegatten und wurden in den Streitjahren 2009
und 2010 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt.
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Die im Jahr 1994 geborene Tochter A der
Kläger litt seit längerem an einer einfachen Störung
der Konzentration und Aufmerksamkeit (F90.0, Liste der
Internationalen Klassifikation der Krankheiten - ICD-10 - ) sowie
an einer kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der
Emotionen (F92.8, ICD-10; vgl. Befundbericht des Kinderhospitals X
vom 16.10.2007 sowie jugendpsychiatrischer Befundbericht der Y
Jugendklinik vom 17.4.2009). A befand sich Ende 2006 in
jugendpsychiatrischer Behandlung. Nachdem es im häuslichen
Bereich aufgrund aggressiven Verhaltens von A zu massiven
Schwierigkeiten gekommen war, erfolgte in der Zeit von März
2007 bis Juni 2007 eine stationäre kinder- und
jugendpsychiatrische Behandlung. Eine weitere stationäre
jugendpsychiatrische Beobachtung und Behandlung fand von November
2008 bis Januar 2009 statt. Seit Januar 2009 war die Tochter in
einer betreuten Mädchenwohngruppe untergebracht. Der Landkreis
gewährte vollstationäre Jugendhilfe nach dem Achten Buch
Sozialgesetzbuch (SGB VIII) durch Übernahme der
Jugendhilfekosten. Nach Überprüfung der
Einkommensverhältnisse der Kläger setzte der Landkreis
einen Kostenbeitrag gemäß §§ 91 ff. SGB VIII
für das Jahr 2009 in Höhe von 7.151,52 EUR und für
das Jahr 2010 in Höhe von 7.842 EUR fest.
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Mit ihren Einkommensteuererklärungen
für die Streitjahre beantragten die Kläger, den vom
Landkreis festgesetzten Kostenbeitrag als
außergewöhnliche Belastungen nach § 33 Abs. 1 EStG
anzuerkennen. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -
FA - ) berücksichtigte diese Aufwendungen nicht. Die
Einsprüche der Kläger wies das FA zurück, weil ein
vor Beginn der Heilmaßnahme ausgestelltes amts- oder
vertrauensärztliches Gutachten nicht vorgelegt worden
sei.
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Mit der hiergegen gerichteten Klage
begehrten die Kläger die Berücksichtigung ihrer
Aufwendungen nach Abzug einer Haushaltsersparnis in Höhe von
5.183,52 EUR (2009) bzw. 5.874 EUR (2010) als
außergewöhnliche Belastungen. Das Finanzgericht (FG)
wies die Klage ab.
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Mit der Revision rügen die Kläger
die Verletzung materiellen Rechts.
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Sie beantragen, das Urteil des
Niedersächsischen FG vom 27.11.2013 7 K 69/12 aufzuheben und
die Einkommensteuerbescheide 2009 und 2010 i.d.F. der
Einspruchsentscheidungen vom 16.3.2012 dahingehend abzuändern,
dass für 2009 außergewöhnliche Belastungen in
Höhe von 5.183,52 EUR und für 2010 in Höhe von 5.874
EUR einkommensmindernd berücksichtigt werden.
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Das FA beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
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II. Die Revision ist begründet; sie
führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur
Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen
Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ). Nach den Feststellungen des FG
kann nicht abschließend entschieden werden, ob die Tochter
der Kläger vor Beginn der fraglichen Heilmaßnahme an
einer „anderen Behinderung“ i.S. des § 64
Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. c der
Einkommensteuer-Durchführungsverordnung (EStDV) litt.
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1. Nach § 33 EStG wird die
Einkommensteuer auf Antrag ermäßigt, wenn einem
Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen
als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher
Einkommensverhältnisse und gleichen Familienstands
(außergewöhnliche Belastung) erwachsen.
Zwangsläufig erwachsen dem Steuerpflichtigen Aufwendungen
dann, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder
sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit die
Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen
angemessenen Betrag nicht übersteigen (§ 33 Abs. 2 Satz 1
EStG). Ziel des § 33 EStG ist es, zwangsläufige
Mehraufwendungen für den existenznotwendigen Grundbedarf zu
berücksichtigen, die sich wegen ihrer
Außergewöhnlichkeit einer pauschalen Erfassung in
allgemeinen Freibeträgen entziehen. Aus dem Anwendungsbereich
des § 33 EStG ausgeschlossen sind dagegen die üblichen
Aufwendungen der Lebensführung, die in Höhe des
Existenzminimums durch den Grundfreibetrag abgegolten sind (u.a.
Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 29.9.1989 III R 129/86,
BFHE 158, 380, BStBl II 1990, 418 = SIS 89 24 01).
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a) In ständiger Rechtsprechung geht der
BFH davon aus, dass Krankheitskosten - ohne Rücksicht auf die
Art und die Ursache der Erkrankung - dem Steuerpflichtigen aus
tatsächlichen Gründen zwangsläufig erwachsen.
Allerdings werden nur solche Aufwendungen als Krankheitskosten
berücksichtigt, die zum Zwecke der Heilung einer Krankheit
(z.B. Medikamente, Operation) oder mit dem Ziel getätigt
werden, die Krankheit erträglicher zu machen, beispielsweise
Aufwendungen für einen Rollstuhl (BFH-Urteile vom 17.7.1981 VI
R 77/78, BFHE 133, 545, BStBl II 1981, 711 = SIS 81 22 55; vom
13.2.1987 III R 208/81, BFHE 149, 222, BStBl II 1987, 427 = SIS 87 12 04, und vom 20.3.1987 III R 150/86, BFHE 149, 539, BStBl II
1987, 596 = SIS 87 16 03).
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b) Aufwendungen für die eigentliche
Heilbehandlung werden typisierend als außergewöhnliche
Belastung berücksichtigt, ohne dass es im Einzelfall der nach
§ 33 Abs. 2 Satz 1 EStG an sich gebotenen Prüfung der
Zwangsläufigkeit des Grundes und der Höhe nach bedarf
(BFH-Urteile vom 1.2.2001 III R 22/00, BFHE 195, 144, BStBl II
2001, 543 = SIS 01 08 40, und vom 3.12.1998 III R 5/98, BFHE 187,
503, BStBl II 1999, 227 = SIS 99 06 03). Eine derart typisierende
Behandlung von Krankheitskosten ist zur Vermeidung eines
unzumutbaren Eindringens in die Privatsphäre geboten
(BFH-Urteil in BFHE 195, 144, BStBl II 2001, 543 = SIS 01 08 40).
Dies gilt aber nur dann, wenn die Aufwendungen nach den
Erkenntnissen und Erfahrungen der Heilkunde und nach den
Grundsätzen eines gewissenhaften Arztes zur Heilung oder
Linderung der Krankheit angezeigt (vertretbar) sind und vorgenommen
werden (vgl. BFH-Urteil vom 18.6.1997 III R 84/96, BFHE 183, 476,
BStBl II 1997, 805 = SIS 98 03 08), also medizinisch indiziert sind
(Senatsurteil vom 19.4.2012 VI R 74/10, BFHE 237, 156, BStBl II
2012, 577 = SIS 12 16 86).
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c) Die Zwangsläufigkeit von
krankheitsbedingten Aufwendungen für Arznei-, Heil- und
Hilfsmittel (§§ 2, 23, 31 bis 33 des Fünften Buches
Sozialgesetzbuch - SGB V - ) hat der Steuerpflichtige durch eine
Verordnung eines Arztes oder Heilpraktikers nachzuweisen (§ 64
Abs. 1 Nr. 1 EStDV). In den abschließend geregelten
Katalogfällen des § 64 Abs. 1 Nr. 2 EStDV (vgl.
Senatsurteile vom 6.2.2014 VI R 61/12, BFHE 244, 395, BStBl II
2014, 458 = SIS 14 10 30, und vom 26.2.2014 VI R 27/13, BFHE 245,
18, BStBl II 2014, 824 = SIS 14 16 51) ist der Nachweis der
Zwangsläufigkeit durch ein vor Beginn der Heilmaßnahme
oder dem Erwerb des medizinischen Hilfsmittels ausgestelltes
amtsärztliches Gutachten oder eine vorherige ärztliche
Bescheinigung eines Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung
(§ 275 SGB V) zu führen (§ 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2
EStDV).
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d) Nach § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst.
c EStDV ist solch ein qualifizierter Nachweis auch bei
krankheitsbedingten Aufwendungen für eine medizinisch
erforderliche auswärtige Unterbringung eines an Legasthenie
oder einer anderen Behinderung leidenden Kindes des
Steuerpflichtigen zu erbringen.
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e) Die in § 84 Abs. 3f EStDV angeordnete
rückwirkende Geltung des § 64 EStDV auf alle Fälle,
in denen die Einkommensteuer noch nicht bestandskräftig
festgesetzt ist (Senatsurteil in BFHE 237, 156, BStBl II 2012, 577
= SIS 12 16 86), begegnet vorliegend auch für das Streitjahr
2010 keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.
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Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats
ist die in § 84 Abs. 3f EStDV angeordnete rückwirkende
Geltung des § 64 EStDV verfassungsrechtlich unbedenklich, da
es dem Gesetzgeber unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes
nicht verwehrt ist, eine Rechtslage rückwirkend
festzuschreiben, die vor einer Rechtsprechungsänderung einer
gefestigten Rechtsprechung und einheitlichen Rechtspraxis
entsprach, wie es vorliegend der Fall war (Senatsurteil in BFHE
237, 156, BStBl II 2012, 577 = SIS 12 16 86). Zwar hat der
erkennende Senat ausdrücklich offen gelassen, ob und inwieweit
anderes für die Zeit nach dem Ergehen der Urteile des BFH vom
11.11.2010 (Senatsurteile VI R 16/09, BFHE 232, 34, BStBl II 2011,
966 = SIS 11 01 53, und VI R 17/09, BFHE 232, 40, BStBl II 2011,
969 = SIS 11 01 54) bis zum endgültigen Gesetzesbeschluss am
1.11.2011 bzw. der Verkündung des Steuervereinfachungsgesetzes
2011 am 4.11.2011 (BGBl I 2011, 2131) oder jedenfalls bis zur
entsprechenden Gesetzesinitiative - hier der Prüfbitte des
Bundesrates vom 18.3.2011 - gilt (Senatsurteil in BFHE 237, 156,
BStBl II 2012, 577 = SIS 12 16 86). Darauf kommt es im Streitfall -
obwohl hier zumindest auch der Veranlagungszeitraum 2010 betroffen
ist - jedoch nicht an. Denn ein Verzicht auf die Einholung eines
amts- oder vertrauensärztlichen Gutachtens im Vertrauen auf
die geänderte Rechtsprechung des erkennenden Senats vom
11.11.2010 (Senatsurteile in BFHE 232, 34, BStBl II 2011, 966 = SIS 11 01 53, und in BFHE 232, 40, BStBl II 2011, 969 = SIS 11 01 54)
kommt hier schon deshalb nicht in Betracht, weil die Tochter der
Kläger bereits seit Januar 2009 in der betreuten
Mädchenwohngruppe untergebracht war. Zu diesem Zeitpunkt
entsprach es sowohl der höchstrichterlichen Rechtsprechung
(BFH-Urteil vom 21.4.2005 III R 45/03, BFHE 209, 365, BStBl II
2005, 602 = SIS 05 30 39) als auch der Verwaltungspraxis (R 33.4
der Einkommensteuer-Richtlinien 2008), dass im Falle einer
auswärtigen Unterbringung eines verhaltensauffälligen
Jugendlichen in einer Wohngruppe ein vor Beginn der Unterbringung
erstelltes amts- bzw. vertrauensärztliches Gutachten zur
Anerkennung der Aufwendungen als außergewöhnliche
Belastungen notwendig war.
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2. Vorliegend ist daher entscheidend, ob bei
der Tochter der Kläger eine „andere
Behinderung“ vorlag und daher die Nachweiserfordernisse
des § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. c EStDV zu erfüllen
waren.
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a) Für den Begriff der
„Behinderung“ i.S. des § 64 Abs. 1 Nr. 2
Satz 1 Buchst. c EStDV ist auf § 2 Abs. 1 des Neunten Buches
Sozialgesetzbuch (SGB IX) abzustellen (Senatsurteil vom 15.1.2015
VI R 85/13, BFHE 249, 114, BStBl II 2015, 586 = SIS 15 11 08 Rz 14,
m.w.N.; vgl. auch Welti in HK-SGB IX, 3. Aufl., § 2 Rz 1 und
11; Luthe, in: jurisPK-SGB IX, § 2 Rz 38 zur Bedeutung des
§ 2 Abs. 1 SGB IX für die gesamte Rechtsordnung bzw.
für das Einkommensteuergesetz). Danach sind Menschen
behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige
Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher
Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für
das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe
am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.
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Zur Feststellung einer Behinderung i.S. des
§ 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. c EStDV i.V.m. § 2 Abs.
1 SGB IX kann das Gesundheitsproblem grundsätzlich im Rahmen
der ICD-10 beschrieben werden (Welti, a.a.O., § 2 Rz 20; so
explizit auch § 35a Abs. 1a Satz 2 SGB VIII).
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Da Eingliederungshilfe nach § 35a Abs. 1
SGB VIII Kinder und Jugendliche erhalten können, deren
seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit für
länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter
typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der
Gesellschaft beeinträchtigt ist bzw. eine
Beeinträchtigung zu erwarten ist, kommt im Streitfall die
Anwendung des § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. c EStDV wegen
einer seelischen Behinderung in Betracht.
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aa) Seelisch behindert ist, wer infolge
seelischer Störung in der Funktionsfähigkeit entsprechend
gemindert ist. Als solche seelische Störungen kommen
körperlich nicht begründbare Psychosen, seelische
Störungen als Folge von Krankheit oder Verletzung des Gehirns,
Anfallsleiden oder körperliche Beeinträchtigungen,
Suchtkrankheiten, Neurosen und Persönlichkeitsstörungen
in Betracht (Welti, a.a.O., § 2 Rz 24; Neumann in:
Neumann/Pahlen/Majerski-Pahlen, SGB IX, 12. Aufl., § 2 Rz
11).
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bb) Eine Behinderung nach § 2 Abs. 1 SGB
IX setzt zudem eine mehr als sechs Monate sich erstreckende
Gesundheitsstörung voraus. Entscheidend ist insoweit nicht die
seit Beginn der Erkrankung oder gar seit ihrer erstmaligen
ärztlichen Feststellung abgelaufene Zeit, sondern die ihrer
Art nach zu erwartende Dauer der von ihr ausgehenden
Funktionsbeeinträchtigung (Urteil des Bundessozialgerichts -
BSG - vom 12.4.2000 B 9 SB 3/99 R, Sozialrecht 3-3870 § 3 Nr.
9).
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cc) Die (seelische) Gesundheit muss nach
§ 2 Abs. 1 SGB IX außerdem „von dem für
das Lebensalter typischen Zustand“ abweichen.
Leistungseinschränkungen, die für das jeweilige Alter
nach ihrer Art und ihrem Umfang typisch sind, stellen danach keine
Behinderung dar (BTDrucks 10/3138, 16 zu § 2a des
Schwerbehindertengesetzes). Gerade bei Kindern ist zur Feststellung
einer Behinderung die Abgrenzung altersadäquater
Gesundheitszustände notwendig. Erforderlich ist insoweit ein
Vergleich der körperlichen, geistigen bzw. seelischen
Fähigkeiten mit denen eines altersentsprechenden nicht
behinderten Kindes (BSG-Urteil vom 12.2.1997 9 RVs 1/95, BSGE 80,
97).
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dd) Schließlich besteht eine Behinderung
i.S. des § 2 Abs. 1 SGB IX nur dann, wenn
„daher“, also in Folge der seelischen
Störung, die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft
beeinträchtigt ist. Eine seelische Störung allein
genügt gerade nicht für die Annahme einer seelischen
Behinderung. Hinzukommen muss vielmehr die Beeinträchtigung
der Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft. Es kommt
dabei auf das Ausmaß und den Grad der seelischen Störung
an. Entscheidend ist, ob die seelische Störung nach Breite,
Tiefe und Dauer so intensiv ist, dass sie die Fähigkeit zur
Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt (Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts vom 26.11.1998 5 C 38/97, Buchholz
436.511 § 35a KJHG/ SGB VIII Nr. 1; Urteil des Hessischen
Verwaltungsgerichtshofs - VGH - vom 4.5.2010 10 A 1623/09; Kador in
Jahn, SGB VIII, § 35a Rz 5 und 8). Hierzu ist aufgrund einer
umfassenden Kenntnis des sozialen Umfelds des betroffenen Kindes
oder Jugendlichen nach sozialpädagogischem und gegebenenfalls
psychologischem Sachverstand zu beurteilen, wie sich die
Funktionsbeeinträchtigung im Hinblick auf die Teilhabe des
Kindes oder Jugendlichen am Leben in der Gesellschaft auswirkt.
Sofern eine fachärztliche bzw. -therapeutische Stellungnahme
zum Vorliegen einer seelischen Gesundheitsstörung auch
Aussagen zur Frage einer (drohenden) Teilhabebeeinträchtigung
umfasst, sind diese bei der Beurteilung angemessen zu
berücksichtigen (Beschluss des Oberverwaltungsgerichts - OVG -
Lüneburg vom 11.6.2008 4 ME 184/08, NVwZ -
Rechtsprechungs-Report 2008, 792).
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b) Ob im Einzelfall eine Behinderung vorliegt,
hat das FG - nach Maßgabe des oben benannten
Rechtsmaßstabs und - aufgrund der ihm obliegenden
Würdigung der Umstände des Einzelfalls festzustellen
(vgl. Senatsurteil vom 26.6.2014 VI R 51/13, BFHE 246, 326, BStBl
II 2015, 9 = SIS 14 27 71, zur Auslegung des § 64 Abs. 1 Nr. 2
Satz 1 Buchst. f EStDV).
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3. Im Streitfall tragen die tatsächlichen
Feststellungen des FG nicht dessen Würdigung, dass die Tochter
der Kläger an einer „anderen (seelischen)
Behinderung“ litt.
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a) Zwar ist die Würdigung des FG, dass
bei der Tochter der Kläger eine Beeinträchtigung der
seelischen Gesundheit vorliegt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit
länger als sechs Monate andauert, revisionsrechtlich nicht zu
beanstanden.
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aa) In den Befundberichten des Kinderhospitals
X vom 16.10.2007 und der Y Jugendklinik vom 17.4.2009 werden eine
kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen
(F92.8) und die einfache Aktivitäts- und
Aufmerksamkeitsstörung (F90.0) diagnostiziert. Diese Befunde
sind in der ICD-10 unter Kapitel V in der Kategorie
„Psychische und Verhaltensstörungen“,
Unterkategorie „Verhaltens- und emotionale Störungen
mit Beginn in der Kindheit und Jugend“ (F90-F98)
aufgeführt. Die Würdigung des FG, dass die Tochter der
Kläger an einer erheblichen Beeinträchtigung der
seelischen Gesundheit leidet, ist daher nachvollziehbar.
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bb) Nicht zu beanstanden ist auch, dass das FG
die Sechs-Monats-Grenze in § 2 Abs. 1 SGB IX als
überschritten angesehen hat. Aufgrund der in dem Befundbericht
der Y Jugendklinik vom 17.4.2009 abgegebenen Empfehlung, dass aus
„der derzeitigen Sicht“ für die seelische
Entwicklung der Jugendlichen ein Verbleib in der Einrichtung bis
zum Ende der Schulzeit oder gegebenenfalls auch darüber hinaus
sinnvoll erscheine, konnte das FG davon ausgehen, dass auch dieses
Tatbestandsmerkmal erfüllt ist.
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b) Es fehlen jedoch nachvollziehbare
Feststellungen des FG zu den weiteren Tatbestandsmerkmalen des
§ 2 Abs. 1 SGB IX, nämlich zu den Fragen, ob die
seelische Gesundheit der Tochter der Kläger von dem für
das Lebensalter typischen Zustand abweicht und ob eine
Teilhabebeeinträchtigung vorliegt bzw. droht.
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Ob allein aggressive Neigungen und
selbstschädigende Handlungen von Kindern und Jugendlichen -
wie es die Befundberichte der Tochter der Kläger attestieren -
als seelische Behinderung angesehen werden können, ist eine
Frage des Einzelfalls (Kador, a.a.O., § 35a Rz 7). Bei einer
hyperkinetischen Störung von Aktivität und Aufmerksamkeit
(F90.0 ICD-10), die nach den Befundberichten auch bei der Tochter
der Kläger vorliegt, ist die Abweichung von dem für das
Lebensalter typischen Zustand der seelischen Gesundheit nur zu
bejahen, wenn es als Sekundärfolge von ADHS zu einer
weitergehenden seelischen Störung kommt, aufgrund derer die
seelische Gesundheit des Kindes oder Jugendlichen länger als
sechs Monate von dem für sein Alter typischen Zustand abweicht
(Beschluss des OVG Nordrhein-Westfalen vom 19.9.2011 12 B 1040/11;
Hessischer VGH, Urteil vom 4.5.2010 10 A 1623/09). Auch muss
festgestellt werden, ob die in den Befundberichten weiterhin
diagnostizierte kombinierte Störung des Sozialverhaltens und
der Emotionen (F92.8 ICD-10) eine in dem vorgenannten Sinne
ausreichende weitergehende seelische Störung ist.
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Die Sache ist nicht spruchreif. Im zweiten
Rechtsgang wird das FG die erforderlichen Feststellungen,
gegebenenfalls unter Heranziehung bereits vorliegender Unterlagen
(insbesondere der Befundberichte), Einholung eines
Sachverständigengutachtens oder mittels Vernehmung der
Personen, die die Tochter der Kläger untersucht und behandelt
haben, treffen.
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4. Die Übertragung der Kostenentscheidung
beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
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