Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil
des Finanzgerichts Köln vom 12.1.2017 - 6 K 889/15
aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht Köln
zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung
zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die
Kosten des Verfahrens übertragen.
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I. Streitig ist der Kindergeldanspruch
für den Zeitraum Juni bis Dezember 2011, Juni bis August 2012
sowie Januar 2013 bis März 2015.
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Der Kläger und Revisionsbeklagte
(Kläger) ist der Vater einer im August 1968 geborenen Tochter
(T). T leidet an einer Muskelerkrankung in Form der Myotonen
Dystrophie Curschmann-Steinert. Hierbei handelt es sich um eine
erblich bedingte Muskelerkrankung, bei der es zu einer langsam
fortschreitenden Abnahme der Muskelkraft bei gleichzeitigem
Vorliegen von so genannten myotonen Phänomenen kommt. Als
myotone Phänomene bezeichnet man das Auftreten von
Muskelsteifigkeit, z.B. beim festen Zupacken. Erste Symptome dieser
Krankheit traten bei T bereits im Alter von 14 oder 15 Jahren auf.
So gab es Probleme beim Laufen sowie beim Aufstehen aus der Hocke
und es traten gelegentlich Versteifungen in ihrer Handmuskulatur
auf. Die Erkrankung wurde aber zunächst nicht erkannt,
Behandlungsversuche z.B. durch einen Orthopäden blieben
erfolglos. Diagnostiziert wurde die Krankheit erst 1998, als sich T
einer gentechnischen Untersuchung unterzog. In den folgenden Jahren
verstärkten sich die Symptome, insbesondere die
Muskelschwäche in den Beinen. T’s seit Juni 2005
gültiger Schwerbehindertenausweis wies zunächst einen
Grad der Behinderung (GdB) von 50, verbunden mit dem Merkzeichen G,
aus. Seit März 2009 beträgt der GdB 100 und ist verbunden
mit den Merkzeichen G und aG.
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T ist gelernte Bürokauffrau und befand
sich bis zu einer betriebsbedingten Kündigung im Mai 2010 in
einem Beschäftigungsverhältnis. Ein weiteres im September
2011 aufgenommenes Beschäftigungsverhältnis endete nach
sieben Tagen, was nach Angaben der T daran lag, dass sie die ihr
übertragenen Aufgaben aufgrund ihrer Gehbehinderung nicht habe
erfüllen können. Im August 2012 wurde T rückwirkend
ab Oktober 2011 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bewilligt.
Bis auf einen von August 2012 bis August 2013 ausgeübten
Freiwilligendienst mit einer monatlichen Aufwandsentschädigung
von 165 EUR war T seither nicht mehr erwerbstätig.
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Den Antrag des Klägers vom 11.08.2014,
ihm ab Januar 2010 Kindergeld für T zu gewähren, lehnte
die Beklagte und Revisionsklägerin (die Familienkasse) mit
Bescheid vom 24.10.2014 ab. Zur Begründung verwies sie darauf,
dass die Behinderung nicht, wie von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3
des Einkommensteuergesetzes (EStG) gefordert, vor Vollendung des
27. Lebensjahres eingetreten sei. Der dagegen gerichtete Einspruch
blieb ohne Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 19.03.2015).
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Im anschließenden Klageverfahren
wurde die Klage auf die Monate Juni bis Dezember 2011, Juni bis
August 2012 sowie Januar 2013 bis März 2015 beschränkt,
da nach übereinstimmender Auffassung der Beteiligten nur in
diesen Monaten der notwendige Lebensbedarf der T nicht durch die
ihr zur Verfügung stehenden Mittel abgedeckt wurde.
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Das Finanzgericht (FG) hielt die Klage in
vollem Umfang für begründet und verpflichtete die
Familienkasse, Kindergeld für die Monate Juni bis Dezember
2011, Juni bis August 2012 sowie Januar 2013 bis März 2015
festzusetzen.
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Mit der dagegen gerichteten Revision
rügt die Familienkasse die Verletzung materiellen
Rechts.
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Die Familienkasse beantragt, das
angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Der Kläger beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
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Das Bundesministerium der Finanzen (BMF)
ist dem Verfahren beigetreten. Es unterstützt die Auffassung
der Familienkasse.
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II. Die Revision ist begründet. Sie
führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur
Zurückverweisung der nicht spruchreifen Sache an das FG zur
anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz
1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO - ).
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Der Senat kann nach den bisherigen
Feststellungen des FG nicht abschließend darüber
entscheiden, ob die Behinderung der T bereits vor Vollendung des
27. Lebensjahres eingetreten ist.
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1. Nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1
Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 Satz 1 Nr. 3
Halbsatz 1 EStG in der im Streitzeitraum geltenden Fassung besteht
für ein Kind des Anspruchsberechtigten, das das 18. Lebensjahr
vollendet hat, ein Kindergeldanspruch, wenn es wegen
körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung
außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Voraussetzung
ist nach § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz
1 Nr. 3 Halbsatz 2 EStG, dass die Behinderung vor Vollendung des
25. Lebensjahres eingetreten ist, sofern nicht aufgrund der
Übergangsregelung des § 52 Abs. 40 Satz 5 EStG i.d.F. des
Steueränderungsgesetzes 2007 (StÄndG 2007) vom 19.07.2006
(BGBl I 2006, 1652) weiterhin die bisherige Altersgrenze
(Vollendung des 27. Lebensjahres) gilt.
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2. Das FG ist zu Recht davon ausgegangen, dass
die kindergeldrechtliche Berücksichtigung der T eine vor
Vollendung des 27. Lebensjahres eingetretene Behinderung
voraussetzt.
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a) Die in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3
Halbsatz 2 EStG vorgesehene Altersgrenze wurde zwar erst durch das
Gesetz zur Familienförderung vom 22.12.1999 (BGBl I 1999,
2552) ab dem Veranlagungszeitraum 2000 eingeführt und war
damals auf das 27. Lebensjahr festgesetzt. Sie wurde nach der
Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs - BFH - (Urteil vom 26.07.2001
- VI R 56/98, BFHE 196, 161, BStBl II 2001, 832 = SIS 01 13 69),
die an eine entsprechende Rechtsprechung des Bundessozialgerichts
(BSG) zum sozialrechtlichen Kindergeld anknüpfte (BSG-Urteile
vom 23.06.1977 - 8/12 RKg 7/77, SozR 5780, § 2 Nr. 5, und vom
14.08.1984 - 10 RKg 6/83, SozR 5870, § 2 Nr. 35) aber bereits
vor der gesetzlichen Festschreibung angewandt.
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b) Durch das StÄndG 2007 wurde die
Altersgrenze auf das 25. Lebensjahr herabgesetzt. Gleichzeitig sah
der Gesetzgeber aber in § 52 Abs. 40 Satz 5 EStG eine
Übergangsregelung vor. Danach ist die abgesenkte Altersgrenze
erstmals für Kinder anzuwenden, die im Veranlagungszeitraum
2007 wegen einer vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetretenen
körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung
außerstande sind, sich selbst zu unterhalten; für
Kinder, die wegen einer vor dem 01.01.2007 in der Zeit ab der
Vollendung des 25. Lebensjahres und vor Vollendung des 27.
Lebensjahres eingetretenen körperlichen, geistigen oder
seelischen Behinderung außerstande sind, sich selbst zu
unterhalten, ist weiter die frühere Altersgrenze
anzuwenden.
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c) Im Streitfall fällt T in den
Anwendungsbereich der Übergangsregelung. Sie wurde im August
1968 geboren und vollendete ihr 25. Lebensjahr im August 1993 und
ihr 27. Lebensjahr im August 1995. Es reicht daher aus, wenn ihre
Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten
ist.
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3. Weiter ist das FG hinsichtlich der Frage,
welche Anforderungen an das Vorliegen einer Behinderung zu stellen
sind, zu Recht vom Behinderungsbegriff des § 2 Abs. 1 Satz 1
des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) ausgegangen.
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a) Nach der Rechtsprechung des BFH ist
für die Beurteilung des Merkmals
„Behinderung“ i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1
Nr. 3 EStG die in § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in der im
Streitzeitraum geltenden Fassung enthaltene Legaldefinition
maßgeblich. Danach ist ein Mensch behindert, wenn seine
körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische
Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs
Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht
und daher seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft
beeinträchtigt ist (z.B. Senatsurteil vom 19.01.2017 - III R
44/14, HFR 2017, 412 = SIS 17 07 97, Rz 16; BFH-Urteile vom
23.02.2012 - V R 39/11, BFH/NV 2012, 1584 = SIS 12 24 26, Rz 22;
vom 28.05.2013 - XI R 44/11, BFH/NV 2013, 1409 = SIS 13 21 99, Rz
14, m.w.N., und vom 21.10.2015 - XI R 17/14, BFH/NV 2016, 190 = SIS 16 00 33, Rz 27, m.w.N.).
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b) Der Behinderungsbegriff des § 2 Abs. 1
SGB IX i.d.F. bis 31.12.2017 ist somit dreigliedrig
(Schaumberg/Seidel, SGb 2017, 572, 574). Er besteht aus
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- einer für das Lebensalter untypischen
gesundheitlichen Situation,
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- die mit hoher Wahrscheinlichkeit länger
als sechs Monate andauert und
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- kausal zu einer
Teilhabebeeinträchtigung führt.
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Dabei entspricht die dauerhaft
altersuntypische Gesundheitsbeeinträchtigung einem im
herkömmlichen, rein medizinischen Sinn zu verstehenden
Behinderungsbegriff (BSG-Urteile vom 22.04.2015 - B 3 KR 3/14 R,
SozR 4-2500, § 33 Nr. 45, Rz 21, und vom 30.09.2015 - B 3 KR
14/14 R, SozR 4-2500, § 33 Nr. 48, Rz 19; Schaumberg/Seidel,
SGb 2017, 572, 573; Avvento, HFR 2017, 412 = SIS 17 07 97).
Demgegenüber stellt die Teilhabebeeinträchtigung als
Folge des Funktionsdefizits eine Erweiterung des herkömmlichen
Behinderungsbegriffs dar (BSG-Urteil in SozR 4-2500, § 33 Nr.
45, Rz 21), die auch eine Einbeziehung anderer, insbesondere
soziologischer und pädagogischer
Beurteilungsmaßstäbe ermöglicht (BSG-Urteil in SozR
4-2500, § 33 Nr. 48, Rz 21; Schaumberg/Seidel, SGb 2017, 572,
574; Avvento, HFR 2017, 412 = SIS 17 07 97; Welti in Handkommentar
zum Sozialgesetzbuch IX - HK-SGB IX -, 3. Aufl., § 2 Rz 33,
der etwa auch auf arbeits- und pflegewissenschaftliche Expertise
verweist). Der Behinderungsbegriff lässt sich daher nicht auf
eine rein medizinische Frage reduzieren, sondern erfordert eine
Differenzierung zwischen der Krankheitsbeschreibung, der
Funktionsminderung und der Teilhabebeeinträchtigung (Welti in
HK-SGB IX, § 2 Rz 22).
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c) Die gesundheitliche Beeinträchtigung
kann sich auf körperliche Funktionen, geistige
Fähigkeiten oder die seelische Gesundheit beziehen.
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aa) Körperliche Funktionen sind nicht nur
organisch und orthopädisch, sondern in umfassendem Sinn zu
verstehen; sie schließen Störungen der Sinne (z.B.
Sehvermögen, Hörvermögen, Geruchs-, Geschmacks- und
Tastsinn) und Empfindungen (z.B. Temperaturempfinden,
Empfindlichkeit gegenüber anderen Reizen, Schmerz) ein, nicht
jedoch Beeinträchtigungen in der Körperstruktur, die sich
auf Körperfunktionen nicht auswirken (Schaumberg/Seidel, SGb
2017, 618, 620, m.w.N.). Geistige Fähigkeiten sind in erster
Linie intellektuelle und kognitive, wie Wahrnehmung, Erkennen,
Denken, Vorstellen, Erinnern und Urteilen, aber z.B. auch
Bewusstsein sowie die mentale Funktion, Bewegungshandlungen
durchzuführen (Schaumberg/Seidel, SGb 2017, 618, 620, m.w.N.).
Der Begriff „seelische Gesundheit“ bezieht sich
nicht nur auf Krankheiten, sondern auch auf psychisch-funktionale
Fähigkeiten wie Persönlichkeit (Selbstsicherheit und
-vertrauen), psychische Energie, Antrieb, Psychomotorik,
Belastbarkeit und Emotionen (Schaumberg/Seidel, SGb 2017, 618, 620
f., m.w.N.).
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bb) Die für das Vorliegen einer
Behinderung erforderliche Funktionsstörung muss von dem
für das Lebensalter typischen Zustand abweichen. Unter dem
für das jeweilige Lebensalter untypischen Zustand versteht der
Gesetzgeber den Verlust oder die Beeinträchtigung von
normalerweise vorhandenen körperlichen Funktionen, geistigen
Fähigkeiten oder seelischer Gesundheit (BTDrucks 14/5074, S.
98). Leistungseinschränkungen, die für das jeweilige
Alter nach ihrer Art und ihrem Umfang typisch sind, stellen danach
keine Behinderung dar (BTDrucks 10/3138, S. 16 zu § 2a des
Schwerbehindertengesetzes). Gerade bei Kindern ist zur Feststellung
einer Behinderung die Abgrenzung altersadäquater
Gesundheitszustände notwendig. Erforderlich ist insoweit ein
Vergleich der körperlichen, geistigen und seelischen
Fähigkeiten mit denen eines altersentsprechenden nicht
behinderten Kindes (BFH-Urteil vom 18.06.2015 - VI R 31/14, BFHE
251, 147, BStBl II 2016, 40 = SIS 15 28 23, Rz 23, m.w.N.).
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cc) Zur Feststellung einer Behinderung i.S.
des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG i.V.m. § 2 Abs. 1 SGB
IX kann das Gesundheitsproblem grundsätzlich auf der Grundlage
der Internationalen Klassifikation der Krankheiten im Rahmen der
ICD-10 beschrieben werden (vgl. BFH-Urteil in BFHE 251, 147, BStBl
II 2016, 40 = SIS 15 28 23, Rz 19; Welti in HK-SGB IX, § 2 Rz
20; so explizit auch § 35a Abs. 1a Satz 2 des Achten Buches
Sozialgesetzbuch).
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d) Mit dem Erfordernis, dass der
altersuntypische Gesundheitszustand mit hoher Wahrscheinlichkeit
länger als sechs Monate andauern muss, bezweckt der
Gesetzgeber, vorübergehende Gesundheitsstörungen aus dem
Behinderungsbegriff auszuschließen und damit nur
Beeinträchtigungen eines bestimmten Schweregrades zu erfassen
(Welti in HK-SGB IX, § 2 Rz 27; s.a. Wurm in Jahn/Schell,
§ 2 SGB IX Rz 5, wonach eine Behinderung vor allem durch eine
dauerhafte und gravierende Beeinträchtigung gekennzeichnet
wird). Entscheidend ist insoweit nicht die seit Beginn der
Erkrankung oder gar seit ihrer erstmaligen ärztlichen
Feststellung abgelaufene Zeit, sondern die ihrer Art nach zu
erwartende Dauer der von ihr ausgehenden
Funktionsbeeinträchtigung (BFH-Urteil in BFHE 251, 147, BStBl
II 2016, 40 = SIS 15 28 23, Rz 22). Zur Beurteilung dieser Frage
ist (ggf.) eine Prognose zur (weiteren) Entwicklung der
Funktionsbeeinträchtigung zu stellen (Senatsurteil in HFR
2017, 412 = SIS 17 07 97, Rz 18, m.w.N.).
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e) Für die Frage, ob in Folge des
altersuntypischen gesundheitlichen Zustands die Teilhabe am Leben
in der Gesellschaft beeinträchtigt ist, kommt es auf das
Ausmaß und den Grad der körperlichen, geistigen oder
seelischen Gesundheitsbeeinträchtigung an. Entscheidend ist,
ob die Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder
seelischen Gesundheit nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv ist,
dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft
beeinträchtigt. Relevante Teilhabebereiche ergeben sich aus
der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit,
Behinderung und Gesundheit. Danach werden die Bereiche Lernen und
Wissensanwendung, allgemeine Aufgaben und Anforderungen,
Kommunikation, Mobilität, Selbstversorgung, häusliches
Leben, interpersonelle Interaktionen und Beziehungen, bedeutende
Lebensbereiche (wozu insbesondere Erziehung und Bildung, Arbeit und
Beschäftigung zu zählen sind) sowie gemeinschafts-,
sozial- und staatsbürgerliches Leben unterschieden (Wurm in
Jahn/Schell, § 2 SGB IX Rz 8d, jeweils mit weiteren
Anwendungsbeispielen). Die Prüfung einer
Teilhabebeeinträchtigung hat aufgrund einer umfassenden
Kenntnis des sozialen Umfelds des betroffenen Kindes zu erfolgen,
wobei ggf. neben medizinischem Sachverstand auch der anderer
Wissensgebiete (insbesondere sozialpädagogischer und
psychologischer Art) heranzuziehen ist (Senatsurteil in HFR 2017,
412 = SIS 17 07 97, Rz 20, m.w.N.). Danach darf eine
Teilhabehinderung bei Vorliegen einer Schädigung oder
Funktionsbeeinträchtigung nicht einfach im Rahmen einer
letztlich abstrakten Betrachtungsweise in nahezu
selbstverständlicher Weise unterstellt werden (Luthe in
Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, § 2 SGB IX Rz 90), sondern
bedarf einer auf entsprechende tatsächliche Feststellungen
gestützten Begründung.
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f) Entgegen der Auffassung des Klägers
erfüllt eine drohende Behinderung nicht die Voraussetzungen
des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG. Dies ergibt sich bereits
aus dem Wortlaut der Norm. Dieser fordert in Halbsatz 1 eine
„Behinderung“ und setzt zudem voraus, dass die
Behinderung ursächlich für die Unfähigkeit zum
Selbstunterhalt ist. Weiter erfordert Halbsatz 2, dass die
Behinderung vor Vollendung der Altersgrenze „eingetreten
ist“ und nicht, dass sie zu diesem Zeitpunkt nur droht.
Diese Auslegung entspricht auch dem Sinn und Zweck der Regelung.
Denn § 32 EStG sieht nach seinem Absatz 3 vor, dass Kinder
regelmäßig nur bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres
im Familienleistungsausgleich berücksichtigt werden. Bei
Kindern, die das 18., aber noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet
haben, geht der Gesetzgeber typisierend davon aus, dass die
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des steuerpflichtigen
Elternteils nur noch unter besonderen Umständen gemindert ist
(vgl. BFH-Urteil vom 11.10.1984 - VI R 69/83, BFHE 142, 140, BStBl
II 1985, 91 = SIS 85 01 04). Diese besonderen Voraussetzungen
orientieren sich typisierend an bestimmten typischen
Unterhaltssituationen. Solche können aber nur bei einer durch
eine eingetretene Behinderung ausgelösten Unfähigkeit zum
Selbstunterhalt angenommen werden. Eine drohende Behinderung und
eine daraus resultierende drohende Unfähigkeit zum
Selbstunterhalt begründet indessen noch keine typische
Unterhaltssituation für den betreffenden Elternteil. Dagegen
orientieren sich sozialrechtliche Vorschriften, die wie § 2
Abs. 1 Satz 2 SGB IX und § 53 Abs. 2 Satz 1 des Zwölften
Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) von Behinderung bedrohte Menschen
in den Kreis der Leistungsberechtigten einbeziehen, daran, dass mit
den betreffenden Gesetzen insbesondere auch Präventionszwecke
verfolgt werden (s. § 3 SGB IX, § 14 Abs. 1 SGB XII;
Welti in HK-SGB IX, § 2 Rz 20; Luthe in Schlegel/Voelzke,
jurisPK-SGB IX, § 2 SGB IX Rz 102). Im Übrigen weist das
BMF zu Recht darauf hin, dass die Einführung der Altersgrenze
nach der Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur
Familienförderung (BTDrucks 14/1513, S. 14) bezweckt habe, die
kindergeldrechtliche Berücksichtigung von
Spätbehinderungen zu verhindern. Insbesondere sollte danach
ausgeschlossen werden, dass z.B. eine 80-jährige Mutter
für ihren Sohn, der im Alter von 60 Jahren einen Schlaganfall
erleidet und pflegebedürftig wird, Kindergeld erhalten kann.
Nichts anderes kann nach Überzeugung des Senats gelten, wenn
sich der Schlaganfall auf genbedingt erhöhte Risikofaktoren
zurückführen lässt.
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4. Unter Zugrundelegung dieser
Rechtsgrundsätze ist das FG auf der Basis seiner bisherigen
Feststellungen zu Unrecht davon ausgegangen, dass bei T vor
Vollendung des 27. Lebensjahres eine Behinderung eingetreten
ist.
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a) Das FG hat sich zunächst mit dem
Vorliegen einer Behinderung im Streitzeitraum und damit in einem
Zeitraum nach Vollendung des 27. Lebensjahres auseinandergesetzt.
Insoweit hat es im Wesentlichen auf den seit 14.06.2005
gültigen Schwerbehindertenausweis und den seit 18.03.2009 auf
100 erhöhten GdB abgestellt. Für die Frage, ob die
Behinderung vor dem im August 1995 vollendeten 27. Lebensjahr
eingetreten ist, lässt sich aus diesen Feststellungen nichts
ableiten.
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b) Zur Frage, ob die Behinderung vor
Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist, ging das FG zu
Unrecht davon aus, dass bereits der angeborene Gendefekt als
solcher die Behinderung darstellt.
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aa) Insoweit wäre vielmehr zunächst
die medizinische Feststellung erforderlich gewesen, dass der
Gendefekt vor Erreichen der Altersgrenze zu einer
körperlichen, geistigen oder seelischen Funktionsstörung
geführt hat. Weist eine genetisch bedingte Erkrankung
Verlaufsformen auf, bei denen der Beginn der Erkrankung nicht nur
im Kindes- oder jungen Erwachsenenalter, sondern auch im
späteren Erwachsenenalter eintreten kann, bedarf es einer
eingehenden Prüfung, ob bei dem betreffenden Kind eine
Verlaufsform vorliegt, die bereits vor Erreichen der Altersgrenze
des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu einer
Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder
seelischen Gesundheit geführt hat.
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bb) Das FG führt insofern zwar zu Recht
aus, dass es nicht darauf ankomme, ob die Krankheit - wie im Fall
der T - erstmals nach Vollendung des 27. Lebensjahres
diagnostiziert wird. Dies befreit das FG hingegen nicht davon,
anhand der vorhandenen vor und nach Vollendung des 27. Lebensjahres
erhobenen Befunde und ggf. weiterer zu erhebender Beweise zu
überprüfen, ob die erforderlichen dauerhaften und
gravierenden Funktionsbeeinträchtigungen schon vor Vollendung
des 27. Lebensjahres eingetreten sind. Soweit das FG bereits vor
Vollendung des 27. Lebensjahres eingetretene leichtere Symptome
einer Erkrankung festgestellt hat, wären jedenfalls diese im
Hinblick auf das Vorliegen einer für das Lebensalter
untypischen gesundheitlichen Situation, die mit hoher
Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauern wird, zu
würdigen gewesen.
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cc) Nichts anderes ergibt sich aus der vom
Kläger zitierten Passage aus dem BFH-Urteil in BFHE 251, 147,
BStBl II 2016, 40 = SIS 15 28 23, Rz 22. Danach setzt eine
Behinderung nach § 2 Abs. 1 SGB IX eine sich auf mehr als
sechs Monate erstreckende Gesundheitsstörung voraus, wobei
insoweit nicht die seit Beginn der Erkrankung oder gar die seit
ihrer erstmaligen ärztlichen Feststellung abgelaufene Zeit
entscheidend ist, sondern die ihrer Art nach zu erwartende Dauer
der von ihr ausgehenden Funktionsbeeinträchtigung. Denn soweit
der Kläger hierauf bezogen ausführt, es sei unstreitig,
dass sich die Gesundheitsstörung bei T auf mehr als sechs
Monate erstrecke, übersieht er, dass im Streitfall eine
doppelte Prüfung des Vorliegens einer Behinderung erforderlich
ist. Zum einen erfordert § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 Halbsatz 1
EStG die Prüfung, dass im Streitzeitraum, also in den Monaten
Juni bis Dezember 2011, Juni bis August 2012 sowie Januar 2013 bis
März 2015 eine Behinderung vorlag. Zum anderen verlangt §
32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 Halbsatz 2 EStG, dass bereits vor Vollendung
des 27. Lebensjahres eine Behinderung eingetreten ist, was wiederum
voraussetzt, dass bereits in diesem Zeitraum eine sich auf mehr als
sechs Monate erstreckende Gesundheitsstörung vorgelegen haben
muss.
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dd) Soweit der Kläger ausführt, dass
es nicht zu seinen Lasten gehen könne, dass der Gendefekt erst
1998 diagnostiziert und der Schwerbehindertenausweis erst 2005
ausgestellt worden sei, ist darauf hinzuweisen, dass der
Kläger die Feststellungslast für die tatsächlichen
Voraussetzungen des von ihm geltend gemachten Kindergeldanspruchs
trägt. Dabei schließt die nach Erreichen der
Altersgrenze erfolgte Diagnose jedoch nicht aus, dass aufgrund der
vorhandenen Befunde und ggf. weiterer Gutachten auch für die
Zeit vor Vollendung des 27. Lebensjahres der Eintritt der
Behinderungsvoraussetzungen festgestellt wird. Ggf. kommt nach
§ 152 Abs. 1 Satz 2 SGB IX auch eine auf einen vor dem
Zeitpunkt der Beantragung des Behindertenausweises festgelegte
Feststellung des GdB in Betracht.
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c) Überdies hat das FG auch keine
tragfähigen Feststellungen zu einer durch die
Funktionsstörung verursachten Teilhabebeeinträchtigung
getroffen. Mangels konkreter Feststellung von nicht nur
vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigungen konnte sich
das FG noch nicht näher mit der Frage auseinandersetzen, ob
diese die für die Annahme einer Behinderung erforderlichen
Teilhabebeeinträchtigungen bedingten. Vielmehr führt es
nur pauschal aus, dass T aufgrund der leichteren Symptome noch
nicht wesentlich in ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft
beeinträchtigt gewesen sei.
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Zu Unrecht hält es das FG in diesem
Zusammenhang für unschädlich, dass eine
Teilhabebeeinträchtigung erst nach Vollendung des 27.
Lebensjahres eintritt. Denn die Teilhabebeeinträchtigung ist
ein Merkmal des Behinderungsbegriffes und nicht der als weiteres
Tatbestandsmerkmal in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG
geforderten Unfähigkeit zum Selbstunterhalt. In den vom FG
insoweit zitierten Senatsurteilen vom 09.06.2011 - III R 61/08
(BFHE 234, 143, BStBl II 2012, 141 = SIS 11 31 04, Rz 17 ff.) und
vom 04.08.2011 - III R 24/09 (BFH/NV 2012, 199 = SIS 12 00 29, Rz
17) wurde nur ausgeführt, dass die Unfähigkeit zum
Selbstunterhalt nach Erreichen der Altersgrenze eintreten kann. Die
Behinderung und mithin auch die Teilhabebeeinträchtigung
müssen nach diesen Entscheidungen - worauf das BMF zu Recht
hinweist - dagegen bereits vor Erreichen der Altersgrenze
vorgelegen haben.
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5. Die Sache ist nicht spruchreif und deshalb
zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG
zurückzuverweisen. Durch die Zurückverweisung erhält
das FG die Möglichkeit, die erforderlichen Feststellungen zum
Eintritt der Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres
nachzuholen.
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6. Die Übertragung der Kostenentscheidung
auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
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