Auf die Revision der Klägerin wird das
Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 23.5.2013 14 K
2164/11 Kg aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht
Düsseldorf zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die
Kosten des Revisionsverfahrens übertragen.
1
|
I. Die im Jahr 1989 geborene Klägerin
und Revisionsklägerin (Klägerin) ist mit einem Grad der
Behinderung von 100 schwerbehindert (Merkzeichen Bl, H, G und B).
Sie ist Mutter von drei Kindern, die im Februar 2010, Februar 2011
und Oktober 2012 geboren sind. Sie bezog Blindengeld, Leistungen
nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) sowie Elterngeld
nach dem Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz in der für die
Jahre 2010 und 2011 geltenden Fassung (BEEG). Letzteres belief sich
zunächst auf 300 EUR und nach der Geburt des zweiten Kindes
auf 375 EUR. Der Beigeladene, der Vater der Klägerin,
beantragte für diese Kindergeld. Die Beklagte und
Revisionsbeklagte (Familienkasse) lehnte den Antrag mit Bescheid
vom 16.11.2010 ab, weil die Behinderung der Klägerin nicht
ursächlich dafür sei, dass sie sich nicht selbst
unterhalten könne. Einen Abdruck des Ablehnungsbescheides
übersandte die Familienkasse der Klägerin. Diese legte
gegen den Bescheid Einspruch ein. Sie war der Ansicht, sie sei
wegen ihrer Sehbehinderung nicht dazu in der Lage, sich selbst zu
unterhalten.
|
|
|
2
|
Der Rechtsbehelf hatte keinen Erfolg
(Einspruchsentscheidung vom 23.5.2011), ebenso wenig die Klage,
durch welche die Familienkasse verpflichtet werden sollte,
Kindergeld ab Mai 2010 festzusetzen (Urteil des Finanzgerichts - FG
- Düsseldorf vom 23.5.2013 14 K 2164/11 Kg, EFG 2013, 1243 =
SIS 13 19 18). Das FG war der Ansicht, die Klägerin sei als
Abzweigungsberechtigte zugunsten des Beigeladenen einspruchs- und
klagebefugt. Sie sei zwar nicht imstande, sich selbst zu
unterhalten, jedoch sei die Behinderung hierfür nicht
ursächlich. Das Blindengeld von jährlich 7.307,52 EUR
decke den behinderungsbedingten Mehrbedarf in vollem Umfang ab;
einen darüber hinausgehenden Mehrbedarf habe die Klägerin
nicht nachgewiesen. Die Leistungen nach dem SGB II, welche die
Klägerin bezogen habe und die sich zwischen monatlich 310,52
EUR und 534,60 EUR bewegt hätten, lägen unter dem
Grundbedarf von monatlich 667 EUR. Das Elterngeld von 300 EUR bzw.
375 EUR sei nicht bei den Bezügen zu berücksichtigen.
Somit sei die Klägerin nicht dazu imstande, sich selbst zu
unterhalten. Ihre Behinderung sei hierfür jedoch nicht
ursächlich. Das FG stützte seine Auffassung auf ein von
ihm eingeholtes Sachverständigengutachten. Es war der Ansicht,
wegen der gutachterlich festgestellten Möglichkeit einer
vollschichtigen Berufstätigkeit sei die Annahme
ausgeschlossen, die Behinderung sei eine erhebliche Ursache
für die fehlende Möglichkeit zum Selbstunterhalt.
|
|
|
3
|
Zur Begründung der Revision verweist
die Klägerin auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom
31.8.2006 III R 71/05 (BFHE 214, 544, BStBl II 2010, 1054 = SIS 06 44 44), in dem Kindergeld für ein blindes Kind zugesprochen
worden sei. Im Urteil vom 19.11.2008 III R 105/07 (BFHE 223, 365,
BStBl II 2010, 1057 = SIS 09 06 82) habe der BFH bei einem Grad der
Behinderung von 100 mit dem Merkzeichen H von einer
Kausalitätsregel gesprochen und außerdem entschieden,
dass eine gutachterlich bestätigte Möglichkeit, eine
vollschichtige Tätigkeit auszuüben, allein nicht geeignet
sei, die Ursächlichkeit der Behinderung
auszuschließen.
|
|
|
4
|
Die Klägerin beantragt, das
angefochtene Urteil, den Ablehnungsbescheid vom 16.11.2010 sowie
die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom 23.5.2011 aufzuheben
und die Familienkasse zu verpflichten, gegenüber dem
Beigeladenen Kindergeld ab Mai 2010 in gesetzlicher Höhe
festzusetzen.
|
|
|
5
|
Die Familienkasse beantragt, die Revision
als unbegründet zurückzuweisen.
|
|
|
6
|
Der Beigeladene hat sich im
Revisionsverfahren nicht geäußert.
|
|
|
7
|
Der Beigeladene hat nicht auf
mündliche Verhandlung verzichtet. Dem Senat erscheint es
sachgerecht, durch Gerichtsbescheid zu erkennen (§ 90a Abs. 1
der Finanzgerichtsordnung - FGO - ).
|
|
|
8
|
II. Die Revision ist begründet. Sie
führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und
Zurückverweisung der Streitsache an das FG zur anderweitigen
Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2
FGO).
|
|
|
9
|
1. Die Klägerin ist befugt, in eigenem
Namen im Klagewege die Festsetzung von Kindergeld zugunsten des
Beigeladenen zu betreiben.
|
|
|
10
|
Nach § 67 Satz 2 des
Einkommensteuergesetzes (EStG) in der für die Jahre 2010 und
2011 geltenden Fassung kann außer dem Berechtigten auch
derjenige einen Antrag auf Kindergeld stellen, der ein berechtigtes
Interesse an der Leistung des Kindergeldes hat. Das kann
gemäß § 74 Abs. 1 Satz 1 und 3 EStG auch ein Kind
sein, wenn der Kindergeldberechtigte dem Kind gegenüber
mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltsverpflichtet ist
(Senatsurteil vom 26.11.2009 III R 67/07, BFHE 228, 42, BStBl II
2010, 476 = SIS 10 05 01). Diese Voraussetzungen hat das FG bejaht.
Aus der Antragsbefugnis der Klägerin folgt zugleich die
Klagebefugnis in einem finanzgerichtlichen Verfahren, in dem die
Rechtmäßigkeit eines Kindergeld-Ablehnungsbescheides
streitig ist (Senatsbeschluss vom 30.10.2008 III R 105/07, BFH/NV
2009, 193 = SIS 09 02 82).
|
|
|
11
|
2. Das FG hat zu Unrecht die Leistungen nach
dem BEEG, welche die Klägerin für die Betreuung und
Erziehung von zunächst einem und später von zwei Kindern
erhalten hat, bei der Prüfung einer (Un-)Fähigkeit zum
Selbstunterhalt außer Betracht gelassen. Darüber hinaus
hat es rechtsfehlerhaft aus dem Umstand, dass in einem Gutachten
eine vollschichtige Tätigkeit der Klägerin für
möglich gehalten wird, den Schluss gezogen, die Behinderung
der Klägerin sei nicht ursächlich für deren
mangelnde Fähigkeit, sich selbst zu unterhalten.
|
|
|
12
|
3. Nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1
i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG wird Kindergeld für
ein Kind gewährt, das wegen körperlicher, geistiger oder
seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu
unterhalten, sofern die Behinderung - wie im Streitfall - vor
Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist.
|
|
|
13
|
a) Ein Kind ist außerstande, sich selbst
zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten
kann. Der gesamte Lebensbedarf eines behinderten Kindes setzt sich
aus dem Grundbedarf und dem individuellen behinderungsbedingten
Mehrbedarf zusammen (BFH-Urteil vom 15.10.1999 VI R 183/97, BFHE
189, 442, BStBl II 2000, 72 = SIS 00 01 13). Der Grundbedarf
orientiert sich in den Jahren 2010 und 2011 am Jahresgrenzbetrag
nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG von 8.004 EUR (vgl. BFH-Urteil
vom 14.12.2004 VIII R 59/02, BFH/NV 2005, 1090 = SIS 05 26 06),
welcher der Höhe nach dem Grundfreibetrag nach § 32a Abs.
1 Satz 2 Nr. 1 EStG entspricht. Er beläuft sich monatlich auf
667 EUR. Die Prüfung des Imstandeseins zum Selbstunterhalt ist
für jeden einzelnen Monat durchzuführen (BFH-Urteil vom
4.11.2003 VIII R 43/02, BFHE 204, 120, BStBl II 2010, 1046 = SIS 04 05 44; Senatsurteil vom 11.4.2013 III R 35/11, BFHE 241, 499, BStBl
II 2013, 1037 = SIS 13 24 86). Erreichen die Einkünfte und
Bezüge des Kindes die Summe aus Grundbedarf und
behinderungsbedingtem Mehrbedarf, so kann das Kind sich selbst
unterhalten.
|
|
|
14
|
b) Das FG hat im Streitfall zutreffend
angenommen, dass das Blindengeld von monatlich 608,96 EUR den durch
die Blindheit verursachten Mehrbedarf der Klägerin auch
insoweit abdeckt, als es den anteiligen Pauschbetrag nach §
33b Abs. 3 Satz 3 EStG von monatlich 308,33 EUR übersteigt.
Denn nach dem Senatsurteil in BFHE 214, 544, BStBl II 2010, 1054 =
SIS 06 44 44, an dem der Senat festhält, ist zu vermuten, dass
in Höhe des tatsächlich ausgezahlten Blindengeldes ein
behinderungsbedingter Mehraufwand besteht. Weiterer
behinderungsbedingter Mehrbedarf ist nach den Feststellungen des FG
nicht anzusetzen.
|
|
|
15
|
c) Zu den Bezügen, mit deren Hilfe die
Klägerin ihren existenziellen Grundbedarf abdecken kann,
gehören auch die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
und für die Kosten für Unterkunft und Heizung nach dem
SGB II (vgl. BFH-Urteile vom 26.11.2003 VIII R 32/02, BFHE 204,
454, BStBl II 2004, 588 = SIS 04 13 97, zu Leistungen nach dem
Bundessozialhilfegesetz, und vom 20.3.2013 XI R 51/10, BFH/NV 2013,
1088 = SIS 13 16 79, zur Grundsicherung nach §§ 41 ff.
des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch; Senatsurteil vom
8.8.2013 III R 30/12, BFH/NV 2014, 498 = SIS 14 07 02). Aus den in
den Akten enthaltenen Bewilligungsbescheiden, auf die sich das FG
in den Entscheidungsgründen seines Urteils bezogen hat, geht
hervor, dass sich diese Leistungen im streitigen Zeitraum (Mai 2010
bis Mai 2011) auf mindestens 310,52 EUR (April 2011) und
höchstens 534,60 EUR beliefen (Monate November und Dezember
2010).
|
|
|
16
|
d) Entgegen der Rechtsauffassung des FG
zählt auch das Elterngeld zu den Bezügen der
Klägerin und ist daher bei der Prüfung der
(Un-)Fähigkeit zum Selbstunterhalt einzubeziehen.
|
|
|
17
|
aa) Das FG war der Ansicht, nur Elterngeld,
das den Betrag von 300 EUR überschreitet, führe zu
anzusetzenden Bezügen. Es bezog sich hierzu auf die zur
Einkünfte- und Bezügegrenze des § 32 Abs. 4 Satz 2
EStG ergangene Verwaltungsanweisung nach Abschn. 63.4.2.3.1 Abs. 2
Satz 1 Nr. 2 der Dienstanweisung zur Durchführung des
Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des
Einkommensteuergesetzes (DA-FamEStG 2009, BStBl I 2009, 1033).
|
|
|
18
|
bb) Als Grund für diese
Verwaltungsreglung kommt § 10 Abs. 1 BEEG in Betracht, der
bestimmt, dass das Elterngeld bei Sozialleistungen, deren Zahlung
von anderen Einkommen abhängig ist, bis zu einer Höhe von
insgesamt 300 EUR im Monat unberücksichtigt bleibt. Die
Vorschrift ist bei der Prüfung der (Un-) Fähigkeit zum
Selbstunterhalt eines Kindes, für das Kindergeld nach §
32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG begehrt wird, jedoch schon deshalb
nicht anwendbar, weil der Anspruch auf Kindergeld originär dem
Kindergeldberechtigten - in der Regel einem Elternteil - zusteht
und nicht dem Kind, das wegen eines eigenen Kindes Elterngeld
bezieht.
|
|
|
19
|
cc) In den neueren Verwaltungsanweisungen wird
das Elterngeld in vollem Umfang in die Ermittlung der Bezüge
eines behinderten Kindes einbezogen (s. zuletzt Kap. A 18.5.2 Abs.
1 Satz 2 Nr. 2 der Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem EStG,
Stand 2014, BStBl I 2014, 918 = SIS 14 21 00; zuvor Abschn.
63.3.6.4 Abs. 3 Satz 3 i.V.m. Abschn. 31.2.4.2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2
DA-FamEStG, Stand 2012, BStBl I 2012, 739).
|
|
|
20
|
4. Die Sache ist nicht spruchreif.
|
|
|
21
|
a) Aus den Feststellungen des FG geht zwar
hervor, dass die Klägerin Elterngeld bezogen hat, nicht aber,
ob dieses in allen Monaten des Streitzeitzeitraums bei ihren
Bezügen zu berücksichtigen ist. Aus den Bescheiden
über die Festsetzung von Leistungen nach dem SGB II ist zu
ersehen, dass das Elterngeld in einzelnen Zeiträumen des
Jahres 2011, in dem es nach § 10 Abs. 5 BEEG auf die
Leistungen nach dem SGB II anzurechnen war, als Einkommen angesetzt
worden ist und in anderen nicht. Dies könnte darauf hindeuten,
dass das Elterngeld der Klägerin nicht laufend zugeflossen
ist. Das FG wird im zweiten Rechtsgang die entsprechenden
Feststellungen nachzuholen haben.
|
|
|
22
|
b) Auch hinsichtlich des Monats Januar 2011
besteht keine Spruchreife. Zwar liegt in diesem Monat die Summe aus
den Leistungen nach dem SGB II (334,62 EUR) und nach dem BEEG (300
EUR) unter dem Grundbedarf von 667 EUR. In diesem Monat war die
Klägerin nicht dazu imstande, sich selbst zu unterhalten.
Dennoch ist die Streitsache auch insoweit nicht entscheidungsreif,
da die Frage, ob die Behinderung der Klägerin ursächlich
für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt ist, nicht
geklärt ist. Nach der Senatsrechtsprechung genügt die von
einem Gutachter bestätigte Möglichkeit, eine
vollschichtige Tätigkeit auszuüben, allein noch nicht, um
die Ursächlichkeit auszuschließen (Senatsurteil in BFHE
223, 365, BStBl II 2010, 1057 = SIS 09 06 82). In Widerspruch
hierzu hat das FG gemeint, wegen der gutachterlich festgestellten
Möglichkeit einer vollschichtigen Berufstätigkeit sei die
Annahme ausgeschlossen, die Behinderung sei eine erhebliche Ursache
für die fehlende Möglichkeit zum Selbstunterhalt. Die vom
FG in Betracht gezogene Beschäftigung der Klägerin als
Telefonistin ist aus der Sicht des Senats eher von theoretischer
Natur.
|
|
|
23
|
5. Die Kostenentscheidung beruht auf §
143 Abs. 2 FGO.
|