Die Revision der Klägerin gegen das
Urteil des Finanzgerichts Münster vom 23.01.2018 - 12 K
4010/16 Kg = SIS 19 16 06 wird als unbegründet
zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die
Klägerin zu tragen.
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I. Streitig ist, auf welche Weise bei der
Festsetzung von Kindergeld zu ermitteln ist, ob ein
volljähriges Kind aufgrund seiner Behinderung
außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Streitzeitraum
ist der Monat Januar 2016.
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Die Klägerin und
Revisionsklägerin (Klägerin) ist die Mutter des im Jahr
1988 geborenen Kindes (K). Dieses ist seit seinem 14. Lebensjahr
mit einem Grad der Behinderung von 70 und dem Merkzeichen
„G“ schwerbehindert. K wohnt seit August
2012 in einer stationären Einrichtung. Die monatlichen Kosten
hierfür in Höhe von 850 EUR für den Lebensunterhalt
und von 3.200 EUR für die fachliche Hilfe werden vom L im
Rahmen der Eingliederungshilfe übernommen. Seit Juni 2015 ist
K bei der Stadt U im allgemeinen Verwaltungsdienst beschäftigt
und erhielt für die Vollzeittätigkeit ab Januar 2016 ein
Bruttogehalt von 2.236 EUR (1.443 EUR netto). Der L beteiligte K
bis April 2016 mit monatlich 506,45 EUR an den Kosten für
seine Unterbringung und Betreuung in der Einrichtung. Durch
Änderungsbescheid vom 29.04.2016 wurde K rückwirkend zu
einer erhöhten Kostenbeteiligung u.a. ab Januar 2016 von
845,81 EUR monatlich herangezogen. Der den Zeitraum ab Januar 2015
betreffende Nachzahlungsbetrag in Höhe von 3.949,19 EUR war
bis zum 13.05.2016 zu entrichten.
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Im Dezember 2015 nahm der L die
Klägerin ab Januar 2016 nach § 94 Abs. 2 des
Zwölften Buches Sozialgesetzbuch in der Fassung vom 02.12.2006
(SGB XII) i.V.m. §§ 1601 ff. des Bürgerlichen
Gesetzbuchs (BGB) auf Zahlung eines Unterhaltsbeitrags in Höhe
von 28,38 EUR in Anspruch.
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Mit inzwischen bestandskräftigem
Bescheid vom 16.07.2015 hob das zunächst als Familienkasse
zuständige Landesamt für Besoldung und Versorgung (LBV)
die Kindergeldfestsetzung ab 01.07.2015 auf. Den Antrag der
Klägerin auf Festsetzung von Kindergeld für Januar 2016
lehnte das LBV mit Bescheid vom 15.11.2016 ab.
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Der Einspruch blieb ebenso erfolglos
(Einspruchsentscheidung vom 05.12.2016) wie die Klage. Zur
Begründung seiner Entscheidung führte das Finanzgericht
(FG) im Wesentlichen aus, K sei nicht aufgrund seiner Behinderung
außerstande gewesen, sich selbst zu unterhalten. Die ihm zur
Verfügung stehenden Mittel deckten sowohl den Grundbedarf als
auch den behinderungsbedingten Mehrbedarf. Entgegen der Ansicht der
Klägerin indiziere ihre Heranziehung zu einem
Unterhaltsbeitrag nicht die Unfähigkeit des Kindes zum
Selbstunterhalt. Der Unterhaltsbeitrag sei vielmehr bei der
Vergleichsrechnung zu berücksichtigen und mindere die beim
Kind als Bezüge anzusetzenden Sozialleistungen.
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Mit der Revision rügt die
Klägerin die Verletzung materiellen Bundesrechts.
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Die Klägerin beantragt,
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die Beklagte und Revisionsbeklagte unter
Aufhebung des Urteils des FG Münster vom 23.01.2018 - 12 K
4010/16 Kg und des Bescheids vom 15.11.2016 in Gestalt der
Einspruchsentscheidung vom 05.12.2016 zu verpflichten, Kindergeld
für K für den Monat Januar 2016 in gesetzlicher Höhe
festzusetzen.
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Im Laufe des Revisionsverfahrens hat das
für die Klägerin zuständige LBV von der ihm durch
das Gesetz zur Beendigung der Sonderzuständigkeit der
Familienkassen des öffentlichen Dienstes im Bereich des Bundes
vom 08.12.2016 (BGBl I 2016, 2835, BStBl I 2016, 1419) in § 72
Abs. 1 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) eingeräumten
Möglichkeit Gebrauch gemacht, auf seine Zuständigkeit als
Familienkasse des öffentlichen Dienstes zu verzichten.
Hierdurch wurde zum 01.03.2021 die örtlich zuständige
Familienkasse der Bundesagentur für Arbeit, die Beklagte und
Revisionsbeklagte (die Familienkasse) für die Festsetzung und
Auszahlung des Kindergeldes im Fall der Klägerin
zuständig.
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Die Familienkasse beantragt,
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die Revision zurückzuweisen.
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II. Die Revision ist unbegründet und
daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ). Das FG hat zu Recht entschieden,
dass der Klägerin für den Monat Januar 2016 kein
Kindergeld für K zusteht.
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1. Die Familienkasse der Bundesagentur
für Arbeit ist aufgrund eines Organisationsaktes im Wege des
gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung des LBV
eingetreten (vgl. Senatsurteil vom 15.06.2016 - III R 67/13, BFH/NV
2016, 1712 = SIS 16 23 44, Rz 9, m.w.N.).
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2. Gemäß § 62 Abs. 1, §
63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3
EStG besteht für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet
hat, ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher,
geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich
selbst zu unterhalten, sofern die Behinderung - wie im Streitfall -
vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist.
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Das Tatbestandsmerkmal
„außerstande ist, sich selbst zu
unterhalten“ ist im Gesetz nicht
näher umschrieben. Nach ständiger Rechtsprechung des
Bundesfinanzhofs (BFH) ist ein behindertes Kind dann
außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen
Lebensunterhalt nicht bestreiten kann (z.B. BFH-Urteil vom
15.10.1999 - VI R 183/97, BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72 = SIS 00 01 13, unter 1., sowie Senatsurteile vom 05.02.2015 - III R 31/13,
BFHE 249, 144, BStBl II 2015, 1017 = SIS 15 13 71, Rz 13, und vom
13.04.2016 - III R 28/15, BFHE 253, 249, BStBl II 2016, 648 = SIS 16 12 27, Rz 10, m.w.N.). Ist das Kind hingegen trotz seiner
Behinderung in der Lage, selbst für seinen Lebensunterhalt zu
sorgen, kommt der Behinderung keine Bedeutung zu (z.B. Senatsurteil
in BFHE 253, 249, BStBl II 2016, 648 = SIS 16 12 27, Rz 10,
m.w.N.).
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a) Die Fähigkeit des Kindes zum
Selbstunterhalt ist anhand eines Vergleichs zweier
Bezugsgrößen zu prüfen, nämlich des gesamten
existenziellen Lebensbedarfs des Kindes einerseits und seiner
finanziellen Mittel andererseits (z.B. Senatsurteile in BFHE 249,
144, BStBl II 2015, 1017 = SIS 15 13 71, Rz 13; in BFHE 253, 249,
BStBl II 2016, 648 = SIS 16 12 27, Rz 10; vom 19.01.2017 - III R
44/14, BFH/NV 2017, 735 = SIS 17 07 97, Rz 29, und vom 27.11.2019 -
III R 28/17, BFHE 268, 13, BStBl II 2021, 807 = SIS 20 11 08, Rz
16). Ergibt sich daraus eine ausreichende Leistungsfähigkeit
des Kindes, kann davon ausgegangen werden, dass den Eltern kein
zusätzlicher Aufwand erwächst, der ihre steuerliche
Leistungsfähigkeit mindert, und ist es gerechtfertigt,
für behinderte Kinder kein Kindergeld oder keinen
Kinderfreibetrag zu gewähren (vgl. Senatsurteil in BFHE 253,
249, BStBl II 2016, 648 = SIS 16 12 27, Rz 14, m.w.N). Diese
Betrachtung ist grundsätzlich monatsbezogen vorzunehmen. Dabei
sind die Einkünfte und Bezüge, soweit für
Gewinneinkünfte nicht das Realisationsprinzip gilt, nach dem
Zuflussprinzip des § 11 EStG zu erfassen (Senatsurteil vom
11.04.2013 - III R 35/11, BFHE 241, 499, BStBl II 2013, 1037 = SIS 13 24 86, Rz 15, m.w.N.). Ein behindertes Kind bleibt bei einem
nicht monatlich anfallenden notwendigen behinderungsbedingten
Mehrbedarf zum Selbstunterhalt imstande, wenn es bei einer
vorausschauenden Bedarfsplanung diesen Mehrbedarf bei seiner
Aufteilung auf einen angemessenen vorangegangenen Zeitraum unter
Zugrundelegung einer monatlichen Durchschnittsbelastung auffangen
kann (BFH-Urteil vom 24.08.2004 - VIII R 59/01, BFHE 207, 237,
BStBl II 2010, 1048 = SIS 04 40 00, unter II.1.).
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aa) Der gesamte Lebensbedarf eines behinderten
Kindes setzt sich aus dem - betragsmäßig an den
Grundfreibetrag i.S. des § 32a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG
anknüpfenden - Grundbedarf und dem individuellen
behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen (Senatsurteil in BFHE
253, 249, BStBl II 2016, 648 = SIS 16 12 27, Rz 11 und 12,
m.w.N.).
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Der behinderungsbedingte Mehrbedarf umfasst
Aufwendungen, die gesunde Kinder nicht haben, insbesondere solche
für Hilfen bei den gewöhnlichen und regelmäßig
wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens
(Senatsurteil in BFHE 268,
13, BStBl II 2021, 807 = SIS 20 11 08, Rz 19). Diese
können einzeln nachgewiesen werden. Dem Steuerpflichtigen
kommen nach der Rechtsprechung des BFH beim Nachweis aber
Erleichterungen zugute. Erbringt er keinen Einzelnachweis, kann der
maßgebliche Behinderten-Pauschbetrag (§ 33b Abs. 1 bis 3
EStG) als Anhalt für den betreffenden Mehrbedarf dienen
(Senatsurteil in BFHE 253, 249, BStBl II 2016, 648 = SIS 16 12 27,
Rz 13, m.w.N.). Bei der Ermittlung des behinderungsbedingten
Mehrbedarfs, der bei einer teilstationären Unterbringung
während der Zeit der häuslichen Pflege anfällt, ist
von einer tatsächlichen Vermutung des Inhalts auszugehen, dass
für die häusliche Pflege mindestens ein Mehrbedarf in
Höhe des gezahlten Pflegegeldes entsteht (BFH-Urteil vom
24.08.2004 - VIII R 50/03, BFHE 207, 250, BStBl II 2010, 1052 = SIS 04 39 99, unter 2.c bb). Entsprechendes gilt für den durch
Blindheit verursachten Mehrbedarf beim Bezug von Blindengeld
(Senatsurteil in BFHE 249, 144, BStBl II 2015, 1017 = SIS 15 13 71,
Rz 14). Ein behinderungsbedingter Betreuungsbedarf kann z.B.
dadurch nachgewiesen werden, dass das Kind
Eingliederungshilfeleistungen erhält (Senatsurteil in BFHE
268, 13, BStBl II 2021, 807 = SIS 20 11 08, Rz 19, m.w.N.), welche
ggf. um einen - bereits über den Grundbedarf
berücksichtigten - Verpflegungsanteil zu kürzen sind. Der
Verpflegungswert ist als Sachbezug nach der
Sozialversicherungsentgeltverordnung zu bewerten (Senatsurteil vom
09.02.2012 – III R 53/10, BFHE 236, 417, BStBl II 2014, 391 =
SIS 12 09 97, Rz 13). Dem Senat ist bewusst, dass eine konkrete
Ermittlung des behinderungsbedingten Mehrbedarfs aufwendig sein
kann. Es ist jedoch Sache des Gesetzgebers zu bestimmen, ob und in
welcher Weise pauschalierende Regelungen getroffen werden sollen
(vgl. BFH-Urteil in BFHE 207, 250, BStBl II 2010, 1052 = SIS 04 39 99, unter 2.b).
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bb) Zu den finanziellen Mitteln des
behinderten volljährigen Kindes gehören seine
Einkünfte und Bezüge (Senatsurteil in BFHE 253, 249,
BStBl II 2016, 648 = SIS 16 12 27, Rz 15). Bezüge sind alle
Zuflüsse in Geld oder Naturalleistungen, die nicht im Rahmen
der einkommensteuerrechtlichen Einkünfteermittlung erfasst
werden (vgl. z.B. Senatsurteil vom 28.05.2009 - III R 8/06, BFHE
225, 141, BStBl II 2010, 346 = SIS 09 25 64, unter II.1.b, und
BFH-Urteil vom 20.03.2013 – XI R 51/10, BFH/NV 2013, 1088 =
SIS 13 16 79, Rz 16).
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Da es bei der Frage der Unfähigkeit zum
Selbstunterhalt festzustellen gilt, ob das Kind sich aus eigenen
Mitteln unterhalten kann oder ob es auf Mittel des
Kindergeldberechtigten angewiesen ist, sind als Einnahmen auch
laufende oder einmalige Geldzuwendungen von dritter Seite
anzusehen, soweit sie nicht der Kapitalanlage dienen, sondern den
Unterhaltsbedarf des Kindes decken und damit die Eltern bei ihren
Unterhaltsleistungen entlasten sollen. Unterhaltsleistungen des
Kindergeldberechtigten an das Kind selbst sind nicht als Einnahmen
zu berücksichtigen (Senatsurteil in BFHE 268, 13, BStBl II
2021, 807 = SIS 20 11 08, Rz 27). Sozialleistungen, mit deren Hilfe
das Kind seinen existenziellen Grundbedarf oder
behinderungsbedingten Mehrbedarf decken kann, sind dagegen zu
berücksichtigen, soweit das Kind nicht vom
Sozialleistungsträger zu einem Kostenbeitrag herangezogen
wird. Dies gilt auch für nachrangige Sozialleistungen, soweit
der Sozialleistungsträger nicht für seine Leistungen bei
den Eltern Regress nimmt (vgl. z.B. für
Eingliederungshilfeleistungen nach §§ 53 ff. SGB XII und
Hilfe zum Lebensunterhalt: Senatsurteil in BFHE 268, 13, BStBl II
2021, 807 = SIS 20 11 08, Rz 23 und 24, m.w.N.). Bei
volljährigen behinderten Kindern wird insoweit hinsichtlich
der Frage der Unfähigkeit zum Selbstunterhalt immer an die
tatsächlich verwirklichten Verhältnisse und somit an die
tatsächlich gezahlten Sozialleistungen angeknüpft. Es ist
also nicht hypothetisch zu fragen, wie sich die
Selbstunterhaltsfähigkeit dargestellt hätte, wenn der
Sozialleistungsträger keine Leistungen erbracht hätte
(Senatsurteil in BFHE 268, 13, BStBl II 2021, 807 = SIS 20 11 08,
Rz 31).
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Die Einkünfte sind um den (anteiligen)
Werbungskostenpauschbetrag gemäß § 9a EStG, die
Bezüge um eine monatliche Kostenpauschale von 15 EUR zu
kürzen (Senatsurteile vom 08.08.2013 - III R 30/12, BFH/NV
2014, 498 = SIS 14 07 02, Rz 22, und in BFHE 268, 13, BStBl II
2021, 807 = SIS 20 11 08, Rz 22 und 25).
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b) Aus der - bis zum Inkrafttreten des
Angehörigen-Entlastungsgesetzes vom 10.12.2019 (BGBl I 2019,
2135) und damit im Streitzeitraum noch möglichen -
Inanspruchnahme des dem Grunde nach Kindergeldberechtigten auf
Zahlung eines Unterhaltsbeitrags für das volljährige Kind
durch den die Eingliederungshilfeleistungen erbringenden
Sozialleistungsträger folgt nicht, dass ohne weitere
Prüfung anzunehmen ist, das Kind sei i.S. von § 32 Abs. 4
Satz 1 Nr. 3 EStG zum Selbstunterhalt außerstande.
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aa) Die durch den Sozialhilfeträger
gemäß § 94 Abs. 2 SGB XII i.V.m. §§ 1601
ff. BGB gegenüber dem Unterhaltsverpflichteten geltend
gemachten Ansprüche beruhen auf bürgerlich-rechtlichen
Unterhaltspflichten, welche anderen Maßstäben folgen als
der steuerliche Familienleistungsausgleich.
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Der Gesetzgeber hat durch den Katalog des
§ 32 Abs. 4 Satz 1 EStG eine Typisierung vorgenommen, in
welchen Fällen in der Regel steuerlich zu
berücksichtigende Unterhaltslasten bei den Eltern entstehen,
die im Rahmen des Familienleistungsausgleichs nach §§ 31
f., 62 ff. EStG berücksichtigt werden sollen
(Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom
29.03.2004 – 2 BvR 1670/01, 2 BvR 1340/03, HFR 2004, 694,
unter 1.b). Das Bestehen einer zivilrechtlichen Unterhaltspflicht
ist dabei kein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des
Kindergeldanspruchs. Vielmehr kann der Kindergeldanspruch zu
bejahen sein, wenn eine Unterhaltspflicht nicht (mehr) besteht, und
er kann zu verneinen sein, wenn nach Zivilrecht eine
Unterhaltspflicht begründet wird (BFH-Urteil vom 28.01.2004
– VIII R 21/02, BFHE 205, 196, BStBl II 2004, 555 = SIS 04 14 42, unter II.1.c bb).
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Zu den Voraussetzungen
bürgerlich-rechtlicher Unterhaltspflichten gehört zwar
u.a. die Bedürftigkeit gemäß § 1602 BGB.
Dessen Absatz 1 bestimmt, dass unterhaltsberechtigt nur ist, wer
außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Obwohl die in
§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG verwendete Formulierung im
Wesentlichen dieser Regelung entspricht, ist die
bürgerlich-rechtliche Belastung des Steuerpflichtigen durch
Unterhaltspflichten für das Einkommensteuerrecht nicht
maßgebend. Vielmehr regelt § 32 Abs. 4 EStG die
Leistungsfähigkeit bestimmter Gruppen von Kindern, die das 18.
Lebensjahr vollendet haben, eigenständig. Dies ergibt sich aus
der in § 32 Abs. 4 Satz 1 EStG für nichtbehinderte Kinder
vorgesehenen Altersgrenze, die unabhängig davon gilt, ob die
in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 und 2 EStG genannten
Tatbestände bei Erreichen der Altersgrenze noch andauern. Das
Zivilrecht kennt eine solche zeitliche Grenze für die
Unterhaltspflicht der Eltern dagegen nicht (vgl. BFH-Urteil vom
19.08.2002 – VIII R 51/01, BFHE 200, 212, BStBl II 2003, 91 =
SIS 03 01 80, unter II.4.a). Zudem gehört bei § 32 Abs. 4
Satz 1 Nr. 3 EStG das Vermögen des behinderten Kindes nicht zu
den finanziellen Mitteln, die es für den Selbstunterhalt
einzusetzen hat. Denn mangels sachlicher Änderung von §
32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG ist auch nach Wegfall der
Grenzbetragsregelung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG in der
Fassung vom 07.12.2011 auf die Einkünfte und Bezüge des
Kindes abzustellen (Senatsurteil in BFHE 253, 249, BStBl II 2016,
648 = SIS 16 12 27, Rz 15, m.w.N.). Demgegenüber ist ein
volljähriges Kind zivilrechtlich verpflichtet, den Stamm
seines Vermögens bis auf einen sog. Notgroschen zu verwerten,
bevor es seine Eltern auf Unterhalt in Anspruch nimmt. Dies folgt
im Umkehrschluss aus § 1602 Abs. 2 BGB (Senatsurteil vom
30.10.2008 - III R 97/06, BFH/NV 2009, 728 = SIS 09 12 37, unter
II.1.c aa).
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Darüber hinaus unterscheiden sich die
Regelungen in §§ 1601 ff. BGB und in § 32 EStG
hinsichtlich des Umfangs des Unterhalts bzw. der steuerlichen
Entlastung. Während nach § 1610 BGB ein angemessener
Unterhalt zu gewähren ist, welcher sich nach der
Lebensstellung des Bedürftigen bestimmt, wird beim
Familienleistungsausgleich gemäß § 31 Satz 1 EStG
die steuerliche Freistellung eines Einkommensbetrages (nur) in
Höhe des Existenzminimums eines Kindes bewirkt (entweder durch
das Kindergeld nach dem X. Abschnitt des EStG oder durch die
Kinderfreibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG). Denn aus Art. 1
Abs. 1 des Grundgesetzes - GG - i.V.m. dem Sozialstaatsgrundsatz
des Art. 20 Abs. 1 GG sowie aus Art. 6 Abs. 1 GG folgt, dass bei
der Besteuerung einer Familie (nur) das Existenzminimum
sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei bleiben muss, und
zwar unabhängig davon, wie die Besteuerung im Einzelnen
ausgestaltet ist und welche Familienmitglieder dabei als
Steuerpflichtige herangezogen werden (BVerfG-Beschluss vom
29.05.1990 – 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BStBl II
1990, 653, BVerfGE 82, 60 = SIS 90 14 01, unter C.III.2.). Weder
Art. 3 Abs. 1 noch Art. 6 Abs. 1 GG verlangen dagegen, dass der
Gesetzgeber die Unterhaltsleistungen für Kinder in der vollen
Höhe des bürgerlich-rechtlichen Unterhaltsanspruchs
berücksichtigen müsste. Eine individuelle Bemessung des
Entlastungsbetrages nach den Umständen des Einzelfalles
würde das Besteuerungsverfahren
unverhältnismäßig erschweren. Auch sachlich ist es
nicht geboten, die steuerliche Entlastung für kindbedingte
Aufwendungen am bürgerlich-rechtlichen Unterhalt auszurichten
und sie damit letztlich nach dem sozialen Status der einzelnen
Familie zu bestimmen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der
Staat beim unterhaltsberechtigten Kind auf eine Besteuerung des
Unterhalts - die verfassungsrechtlich zulässig wäre,
soweit der Unterhalt das Existenzminimum übersteigt -
verzichtet (§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7, § 22 Nr. 1 Satz 2
Halbsatz 1 EStG) und damit das Nettoeinkommen der Eltern
ungeschmälert der Familie als Bedarfs- und
Versorgungsgemeinschaft verbleibt (BVerfG-Beschluss in BStBl II
1990, 653, BVerfGE 82, 60 = SIS 90 14 01, unter C.III.3.d).
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bb) Aus § 94 Abs. 2 Satz 3 SGB XII
lässt sich nichts Gegenteiliges ableiten. Die Vorschrift
bestimmt, dass sich die nach § 92 Abs. 2 Satz 1 SGB XII in
einem sehr begrenzten Umfang auf den Sozialhilfeträger
übergehenden Unterhaltsansprüche zum gleichen Zeitpunkt
und um denselben Vomhundertsatz verändern, um den sich das
Kindergeld verändert.
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Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
(BGH) beschränkt sich der Regelungsgehalt des § 94 Abs. 2
Satz 3 SGB XII allein auf die Höhe des übergegangenen
Anspruchs und orientiert sich im Rahmen der Zumutbarkeit an der
Entwicklung des Kindergeldes. Ein zwingender Zusammenhang zwischen
Anspruchsübergang und Kindergeldbezug lässt sich weder
aus dem Wortlaut des § 94 Abs. 2 SGB XII noch aus Systematik
oder Sinn und Zweck der Regelung ableiten. § 94 Abs. 2 SGB XII
sieht aus sozialstaatlichen Erwägungen eine Ausnahme vom
allgemeinen Anspruchsübergang nach § 94 Abs. 1 SGB XII
vor. Sinn dieser Regelung ist eine Privilegierung der Eltern
behinderter oder pflegebedürftiger volljähriger Kinder.
Dem liegt der Schutzgedanke zugrunde, dass die durch die
Behinderung ihres erwachsenen Kindes ohnehin schwer getroffenen
Eltern nicht auch noch mit hohen Pflegekosten belastet werden
sollen. Wenn die Voraussetzungen der Privilegierung nach § 94
Abs. 2 SGB XII nicht vorlägen, würde der gesamte
Unterhaltsanspruch nach § 94 Abs. 1 Satz 1 SGB XII auf den
Träger der Sozialhilfe übergehen. Würde die
Privilegierung den Bezug von Kindergeld voraussetzen, liefe dies
dem Gesetzeszweck zuwider (BGH-Urteil
vom 23.06.2010 – XII ZR 170/08, NJW 2010, 2957, Rz 27 bis 29). Dem schließt sich der Senat
an.
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cc) Ob das behinderte Kind über
Einkünfte und Bezüge verfügt, die seinen
existenziellen Grundbedarf und den individuellen
behinderungsbedingten Mehrbedarf decken, lässt sich zutreffend
nur ermitteln, wenn der Bedarf und die verfügbaren
finanziellen Mittel des Kindes - wie unter II.2.a dargestellt - bei
der Vergleichsrechnung im Einzelnen betrachtet werden. Denn dadurch
wird die für § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG
maßgebliche tatsächliche finanzielle
Leistungsfähigkeit des Kindes bestimmt. Etwaige
Beschränkungen, denen der Sozialleistungsträger bei der
Heranziehung der Einkünfte des Kindes zur Deckung seiner
Aufwendungen unterliegt (z.B. für die Eingliederungshilfe
nunmehr gemäß § 92 i.V.m. §§ 135 ff. des
Neunten Buches Sozialgesetzbuch), führen dazu, dass dem Kind
ein höherer Anteil seiner Einkünfte zur Deckung seines
Gesamtbedarfs zur Verfügung steht. Sie erhöhen damit
letztlich die finanzielle Leistungsfähigkeit des Kindes. Die
vom Kind auf sozialrechtlicher Grundlage an den
Sozialleistungsträger entrichteten Kostenbeiträge sind
bei der Vergleichsrechnung aber ebenso zu berücksichtigen wie
Unterhaltsbeiträge, auf die der Sozialleistungsträger die
Eltern in Anspruch genommen hat.
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3. In Anwendung der vorstehenden
Grundsätze hat das FG im Ergebnis zu Recht angenommen, dass K
mit seinen Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit und
mit der Eingliederungshilfe im Monat Januar 2016 über
ausreichende Mittel verfügte, um seinen Grundbedarf und seinen
behinderungsbedingten Mehrbedarf zu decken. Dies gilt auch unter
zusätzlicher Berücksichtigung der vom FG bei den
Bezügen nicht in Abzug gebrachten monatlichen Kostenpauschale
von 15 EUR.
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a) Auf der Bedarfsseite waren 4.535 EUR in die
Vergleichsrechnung einzustellen. Davon entfallen 721 EUR auf den
Grundbedarf (1/12 von 8.652 EUR) und 3.814 EUR auf den
behinderungsbedingten Mehrbedarf (4.050 EUR Eingliederungshilfe
abzüglich 236 EUR für den nach der
Sozialversicherungsentgeltverordnung bewerteten
Verpflegungsanteil). Nach den Feststellungen des FG erhielt K
finanzielle Leistungen der Eingliederungshilfe in Höhe von
insgesamt 4.050 EUR. Ein darüber hinausgehender
behinderungsbedingter Mehrbedarf des K für eine häusliche
Versorgung, Betreuung und Unterstützung durch die
Klägerin steht dem Grunde nach nicht fest. Soweit die
Klägerin erstmals im Revisionsverfahren eigene Betreuungs- und
Unterstützungsleistungen für K geltend macht, handelt es
sich um neues tatsächliches Vorbringen. Dieses kann, selbst
wenn es erheblich wäre, im Revisionsverfahren nicht mehr
berücksichtigt werden, weil die Klägerin dessen
Nichtberücksichtigung in der Vorinstanz nicht mit
Verfahrensrügen geltend gemacht hat (§ 118 Abs. 2
FGO).
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b) Dem stehen eigene verfügbare Mittel
des K in Höhe von 4.861 EUR gegenüber. K bezog
Nettoeinkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit in
Höhe von 1.443 EUR, von denen der anteilige
Werbungskostenpauschbetrag gemäß § 9a Satz 1 Nr. 1
Buchst. a EStG von 83 EUR in Abzug zu bringen ist. Außerdem
sind die Eingliederungshilfeleistungen abzüglich der
monatlichen Kostenpauschale von 15 EUR und des Unterhaltsbeitrags
der Klägerin in Höhe von 28,38 EUR zu
berücksichtigen. Revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist,
dass das FG den Kostenbeitrag des K lediglich mit 506 EUR als
Abzugsposten in Ansatz gebracht hat. Eine anteilige
Berücksichtigung des durch Änderungsbescheid des L vom
29.04.2016 geltend gemachten Betrages von 3.949,19 EUR kommt nicht
in Betracht, da das FG nicht festgestellt hat, dass K bereits ab
Ende 2015 mit der Ende April 2016 erhobenen Nachforderung rechnen
musste, zumal sich diese nicht lediglich auf das Jahr 2016 bezog,
sondern auch das Jahr 2015 betraf.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf
§§ 143 Abs. 1, 135 Abs. 2 FGO.
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