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A. Die Kläger und Revisionskläger
(Kläger) sind im Streitjahr 2004 zusammen zur Einkommensteuer
veranlagte Eheleute. Der Kläger erzielte im Streitjahr als
Techniker - und wohl auch als
Gesellschafter-Geschäftsführer - Einkünfte aus
nichtselbständiger Tätigkeit bei einer im Inland
ansässigen GmbH. Sein Bruttoarbeitslohn betrug insgesamt
133.276 EUR. Laut Arbeitgeberbescheinigung sind darin
Einkünfte für in der Republik Türkei (Türkei)
erbrachte Tätigkeiten in Höhe von 93.441 EUR enthalten.
In ihrer Einkommensteuererklärung beantragten die Kläger,
den für die Zeit vom 8. März bis 31. Dezember des
Streitjahres auf die Türkei entfallenden Anteil des
Arbeitslohns nach Art. 23 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 i.V.m. Art. 15
Abs. 1 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
der Republik Türkei zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf
dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen vom
16.4.1985 (BGBl II 1989, 867) - DBA-Türkei 1985 - (i.V.m. dem
dazu ergangenen Zustimmungsgesetz vom 27.11.1989, BGBl II 1989,
866) steuerfrei zu belassen und nur den Differenzbetrag der
Einkommensteuer zu unterwerfen.
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Da der Kläger keinen Nachweis
über die Steuerfreiheit oder Steuerentrichtung für den
auf die Tätigkeit in der Türkei entfallenden Arbeitslohn
erbrachte, behandelte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das
Finanzamt - FA - ) den gesamten im Streitjahr erzielten
Bruttoarbeitslohn unter Hinweis auf § 50d Abs. 8 Satz 1 des
Einkommensteuergesetzes 2002 (EStG 2002) i.d.F. des Zweiten
Gesetzes zur Änderung steuerlicher Vorschriften
(Steueränderungsgesetz 2003) vom 15.12.2003 (BGBl I 2003,
2645) - EStG 2002 n.F. - als steuerpflichtig.
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Die dagegen gerichtete Klage blieb
erfolglos; das Finanzgericht (FG) Rheinland-Pfalz wies sie mit
Urteil vom 30.6.2009 6 K 1415/09 (EFG 2009, 1649 = SIS 09 24 26)
als unbegründet ab.
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Ihre Revision stützen die Kläger
auf Verletzung materiellen Rechts. Sie beantragen, das FG-Urteil
aufzuheben und den Einkommensteuerbescheid 2004 dahingehend zu
ändern, dass der auf die Tätigkeit in der Türkei
entfallende Arbeitslohn des Klägers in Höhe von 93.441
EUR steuerfrei belassen wird.
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Das FA beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
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B. Die Vorlage an das
Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ist gemäß Art. 100
Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1
des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht geboten, weil
zur Überzeugung des Senats die Regelung des § 50d Abs. 8
Satz 1 EStG 2002 n.F. gegen bindendes Völkervertragsrecht als
materielle Gestaltungsschranke verstößt und damit der in
Art. 25 GG niedergelegten Wertentscheidung des Grundgesetzes zum
Vorrang der allgemeinen Regeln des Völkerrechts
zuwiderläuft, ohne dass dafür ein tragfähiger
Rechtfertigungsgrund vorliegt. Dadurch werden die Kläger in
ihrem durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG
gewährleisteten subjektiven Grundrecht auf Einhaltung der
verfassungsmäßigen Ordnung und damit auch des sog.
Gesetzesvorbehalts verletzt. Des Weiteren erkennt der Senat aus
zweierlei Gründen einen Verstoß gegen das
Gleichheitsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG: Zum einen deswegen, weil
unbeschränkt Steuerpflichtige mit Einkünften aus
nichtselbständiger Arbeit im Ausland (hier in der Türkei)
unterschiedlich behandelt werden, je nachdem, ob sie die in §
50d Abs. 8 Satz 1 EStG 2002 n.F. geforderten Nachweise erbringen;
für eine derart unterschiedliche Behandlung besteht infolge
des zwischen der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) und der
Türkei geschlossenen Abkommens zur Vermeidung der
Doppelbesteuerung kein rechtfertigender Grund. Und zum anderen
deswegen, weil Steuerpflichtige mit Einkünften aus
nichtselbständiger Arbeit gegenüber Steuerpflichtigen mit
anderen Einkünften - ebenfalls ohne rechtfertigenden Grund -
steuerlich benachteiligt werden.
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I. Anwendung von § 50d Abs. 8 Satz 1
EStG 2002 n.F. im Streitfall
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1. Die Kläger hatten im Streitjahr
einen Wohnsitz im Inland. Sie waren hier infolgedessen mit ihrem
Welteinkommen unbeschränkt steuerpflichtig (§ 1 Abs. 1
EStG 2002).
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2. Das deutsche Besteuerungsrecht wurde
jedoch im Hinblick auf die Einkünfte, welche der Kläger
aus nichtselbständiger Arbeit (§ 19 EStG 2002) erzielt
hat, insoweit ausgeschlossen, als die Arbeit in der Türkei
ausgeübt worden ist. Denn nach Art. 15 Abs. 1 DBA-Türkei
1985 können Gehälter, Löhne und ähnliche
Vergütungen, die eine in einem Vertragsstaat ansässige
Person aus unselbständiger Arbeit bezieht, nur in diesem Staat
besteuert werden, es sei denn, dass die Arbeit im anderen
Vertragsstaat ausgeübt wird. Wird die Arbeit dort
ausgeübt, so können die dafür bezogenen
Vergütungen im anderen Staat besteuert werden. Es handelt sich
hierbei um Einkünfte aus Quellen innerhalb der Türkei,
welche nach Art. 23 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 DBA-Türkei 1985
bei in Deutschland ansässigen Personen zur Vermeidung der
Doppelbesteuerung von der Bemessungsgrundlage der deutschen Steuer
ausgenommen werden; Deutschland kann solche Einkünfte
lediglich bei der Festsetzung des Steuersatzes für die im
Inland steuerpflichtigen Einkünfte berücksichtigen (vgl.
§ 32b Abs. 1 Nr. 3 EStG 2002).
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Der im Streitfall in Rede stehende
Arbeitslohn wurde für entsprechende nichtselbständige
Arbeit geleistet, die der Kläger in der Türkei
ausgeübt hat. Das Besteuerungsrecht an dem Lohn gebührt
deswegen der Türkei.
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3. Allerdings bestimmt § 50d Abs. 8
Satz 1 EStG 2002 n.F., dass die Freistellung für
Einkünfte der genannten Art, die nach einem Abkommen zur
Vermeidung der Doppelbesteuerung von der Bemessungsgrundlage der
deutschen Steuer auszunehmen sind, ungeachtet des Abkommens nur
gewährt wird, soweit der Steuerpflichtige nachweist, dass der
Staat, dem nach dem Abkommen das Besteuerungsrecht zusteht, auf
dieses Besteuerungsrecht verzichtet hat oder dass die in diesem
Staat auf die Einkünfte festgesetzten Steuern entrichtet
wurden. Derartige Nachweise haben die Kläger nach den
tatrichterlichen Feststellungen, die den Senat binden (§ 118
Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung), nicht erbracht. Es ist nicht
vorgebracht worden, dass es dem Kläger unmöglich oder
für ihn unzumutbar gewesen wäre, dem Nachweiserfordernis
nachzukommen. Dafür ist auch sonst nichts ersichtlich, zumal
in Art. 25 Abs. 5 DBA-Türkei 1985 (i.V.m. Nrn. 1 bis 3 des
dazu ergangenen Notenwechsels) für Staatsangehörige eines
der beiden Vertragsstaaten, die im anderen Vertragsstaat eine
unselbständige Arbeit ausüben, in besonderer Weise eine
wechselseitige Hilfestellung bei der Regelung ihrer
Steuerangelegenheiten vorgesehen ist. Das Besteuerungsrecht
für den Arbeitslohn fällt infolgedessen nach
Maßgabe von § 50d Abs. 8 Satz 1 EStG 2002 n.F. an
Deutschland zurück.
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II. Verfassungsrechtliche Beurteilung
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Auf der Grundlage der vorstehenden
Regelungslage müsste der erkennende Senat, die
Verfassungsmäßigkeit des § 50d Abs. 8 Satz 1 EStG
2002 n.F. unterstellt, die Revision zurückweisen. Der Senat
ist jedoch der Überzeugung, dass die Vorschrift gegen
Völkervertragsrecht verstößt, dass für diesen
Verstoß keine tragfähigen Gründe bestehen und dass
die Kläger infolgedessen in ihrem subjektiven Grundrecht auf
die Einhaltung der verfassungsmäßigen Ordnung verletzt
sind. Er ist überdies davon überzeugt, dass die
Vorschrift dem Gleichheitsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG
widerspricht.
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1. Die in § 50d Abs. 8 EStG 2002 n.F.
getroffene Regelung weicht von Art. 15 Abs. 1 DBA-Türkei 1985
und der darin völkerrechtlich zwischen beiden Staaten
vereinbarten Verteilung und Zuordnung des Besteuerungsrechts ab.
Sie bricht damit diese Vereinbarung und verstößt gegen
den Grundsatz des pacta sunt servanda, der gewohnheitsrechtlich zu
den allgemeinen Regeln des Völkerrechts gehört und der
insoweit in Art. 26 und Art. 27 des Wiener Übereinkommens vom
23.5.1969 über das Recht der Verträge (BGBl II 1985, 927)
kodifiziert ist. Allerdings verwandelt der Grundsatz
„pacta sunt servanda“ die einzelnen Normen
völkerrechtlicher Verträge nicht ihrerseits ebenfalls in
allgemeine Regeln des Völkerrechts mit Vorrang vor
innerstaatlichem Recht (vgl. BVerfG-Entscheidung vom 9.6.1971 2 BvR
225/69, BVerfGE 31, 145 „Milchpulver“, unter
Hinweis auf BVerfG-Urteil vom 26.3.1957 2 BvG 1/55, BVerfGE 6, 309
(363) „Reichskonkordat“). Vielmehr werden
Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und damit hier auch
das DBA-Türkei 1985 in Deutschland nicht unmittelbar, sondern
nach Maßgabe von Art. 59 Abs. 2 GG nur mittelbar in der Form
des Zustimmungsgesetzes vom 27.11.1989 (BGBl II 1989, 866)
angewendet. Das (förmliche) Zustimmungsgesetz - sei es als
sog. Transformationsakt, sei es als sog. Vollzugsbefehl
(„Rechtsanwendungsbefehl“, so BVerfG, z.B.
Beschluss vom 14.10.2004 2 BvR 1481/04, BVerfGE 111, 307 = SIS 04 39 67 „Görgülü“; Urteile vom
3.7.2007 2 BvE 2/07, BVerfGE 118, 244
„ISAF-Mandat“; vom 4.5.2011 2 BvR 2333/08, 2 BvR
2365/09, 2 BvR 571/10, 2 BvR 740/10, 2 BvR 1152/10, BVerfGE 128,
326 „Sicherungsverwahrung I und II“; vgl.
umfassend und zum Diskussionsstand Rauschning in Bonner Kommentar
zum Grundgesetz, Stand Dezember 2009, Art. 59 Rz 137 ff., 144 f.,
m.w.N.) - ist ein einseitiger Akt des deutschen Gesetzgebers. Das
Abkommen erhält dadurch innerstaatlich den Rang eines
einfachen Bundesgesetzes, das infolge der normhierarchischen
Gleichrangigkeit mit Vorbehalten versehen, aufgehoben oder
geändert werden kann. Ob durch einen Vorbehalt bzw. durch die
Aufhebung oder Änderung Völkerrecht verletzt würde,
ist eine andere Frage, die die formale Wirksamkeit des Vorbehaltes
bzw. der Aufhebung oder Änderung nicht berührt. Aus
§ 2 (nunmehr § 2 Abs. 1) der Abgabenordnung ergibt sich
nichts anderes, weil die Vorschrift nicht den Fall betrifft, dass
der Gesetzgeber - wie in § 50d Abs. 8 EStG 2002 n.F. geschehen
- ausdrücklich eine vom Zustimmungsgesetz abweichende Regelung
trifft; es gilt dann vielmehr der Grundsatz des lex posterior
derogat legi priori. Art. 25 GG ist insoweit nicht angesprochen,
weil Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung nicht zu den
allgemeinen Regeln des Völkerrechts gehören und auch
nicht unter Art. 79 Abs. 1 GG fallen, weshalb die Einfügung
des § 50d Abs. 8 EStG 2002 n.F. kein den Art. 25 GG im
Einzelfall mit der qualifizierten Mehrheit des Art. 79 Abs. 2 GG
änderndes Gesetz voraussetzt. Schließlich gilt im
Bereich des Art. 59 Abs. 2 GG kein
„Alles-oder-nichts-Prinzip“. Der innerstaatliche
Gesetzgeber ist im Prinzip frei darin, im Zustimmungsgesetz
Vorbehalte gegenüber der Anwendung bestimmter
Abkommensvorschriften zu verankern.
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2. Wegen dieser Ausgangslage entspricht es
herkömmlicherweise bis heute der wohl überwiegenden
Rechtsauffassung im Schrifttum, dass der unilaterale
„Bruch“ des völkervertragsrechtlich
Vereinbarten - das sog. Treaty overriding - zwar aus
rechtspolitischer Sicht unerfreulich, dass darin aber kein
verfassungsrelevanter Vorgang zu sehen ist (so z.B. Bron, IStR
2007, 431; Musil, Recht der Internationalen Wirtschaft - RIW -
2006, 287; derselbe, FR 2012, 149, 151; Stein, IStR 2006, 505;
Hahn, IStR 2011, 863; Frotscher, Steuerberater-Jahrbuch - StJB -
2009/2010, S. 151; derselbe in Spindler/Tipke/Rödder [Hrsg.],
Steuerzentrierte Rechtsberatung, Festschrift für Harald
Schaumburg, 2009, S. 687; derselbe, IStR 2009, 866.
Jansen/Weidmann, IStR 2010, 596; Brombach-Krüger, Die
Unternehmensbesteuerung - Ubg - 2008, 324; Lehner/Waldhoff in
Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 1 Rz A 516a; Heger,
Steuer und Wirtschaft International - SWI - 2011, 95; Karla,
Steueranwaltsmagazin - SAM - 2011, 181; Mitschke, DStR 2011, 2221;
Wichmann, FR 2011, 1082). Dem hat sich der erkennende Senat in
seiner bisherigen Spruchpraxis angeschlossen (vgl. z.B. Urteil vom
13.7.1994 I R 120/93, BFHE 175, 351, BStBl II 1995, 129 = SIS 94 24 27, dort m.w.N. zur älteren Literatur; Beschluss vom 17.5.1995
I B 183/94, BFHE 178, 59, BStBl II 1995, 781 = SIS 95 18 32).
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3. Der Senat möchte an dieser
Spruchpraxis nicht festhalten. Er ist zu der Überzeugung
gelangt, dass die bislang vertretene Einschätzung den
verfassungsrechtlichen Vorgaben und Anforderungen nicht gerecht
wird.
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a) Grund dafür gibt ihm die
ursprünglich vor allem von Vogel angefachte (z.B. in
Cagianut/Vallender [Hrsg.], Steuerrecht, Ausgewählte Probleme
am Ende des 20. Jahrhunderts, Festschrift für Ernst Höhn,
1995, S. 461 ff.; in Juristen-Zeitung 1997, 161; in
Blankenagel/Pernice/Schulze-Fielitz [Hrsg.], Verfassung im Diskurs
der Welt, Festschrift für Peter Häberle, 2004, S. 481
ff.; in IStR 2005, 29, und in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl., Einl. Rz
193 ff., 205) und in den letzten Jahren wieder aufgeflammte
intensive Diskussion (z.B. Rust/Reimer, IStR 2005, 843. Jankowiak,
Doppelte Nichtbesteuerung im Internationalen Steuerrecht, 2009, S.
219 ff. und passim; Bron, IStR 2007, 431; Musil, RIW 2006, 287;
derselbe, FR 2012, 149, 151; Stein, IStR 2006, 505; Hahn, IStR
2011, 863; Kempf/Bandl, DB 2007, 1377; Rust, Die
Hinzurechnungsbesteuerung, 2007, S. 108 ff.; Gosch, IStR 2008, 413;
derselbe in Kirchhof, EStG, 11. Aufl., § 50d Rz 25; Frotscher,
StJB 2009/2010, S. 151; derselbe in Festschrift Schaumburg, a.a.O.,
S. 687; derselbe, IStR 2009, 593 sowie 866; Schaumburg,
Internationales Steuerrecht, 3. Aufl., Rz 3.24 ff.. Jansen/
Weidmann, IStR 2010, 596; Brombach-Krüger, Ubg 2008, 324;
Heger, SWI 2011, 95; Karla, SAM 2011, 181; Mitschke, DStR 2011,
2221; Wichmann, FR 2011, 1082; Lehner, FR 2011, 1087; derselbe,
IStR 2011, 733; Drüen in Tipke/Kruse, Abgabenordnung,
Finanzgerichtsordnung, § 2 AO Rz 5a; Wassermeyer/
Schönfeld in Flick/Wassermeyer/Baumhoff/Schönfeld,
Außensteuerrecht, § 20 AStG Rz 41 ff.; Lüdicke
[Hrsg.], Überlegungen zur deutschen DBA-Politik, 2008, S. 34
ff., 87 ff. und passim; M. Lang in Lehner [Hrsg.], Reden zum
Andenken an Klaus Vogel, 2010, S. 59; Rauschning in Bonner
Kommentar zum Grundgesetz, a.a.O., Art. 59 Rz 137 ff., 143), welche
ihrerseits an die zwischenzeitliche Entwicklung der Rechtsprechung
des BVerfG anknüpft. Diese Rechtsprechung wird markiert durch
die Beschlüsse in BVerfGE 111, 307 = SIS 04 39 67 (319) - den
sog. Görgülü-Beschluss - sowie vom 26.10.2004 2 BvR
955/00, 2 BvR 1038/01 (BVerfGE 112, 1) - den sog.
Alteigentümer-Beschluss - sowie - nachfolgend darauf aufbauend
- das Urteil in BVerfGE 128, 326 in Sachen
„Sicherungsverwahrung I und II“.
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Das BVerfG bestätigt in diesen
Entscheidungen die aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende
Verpflichtung aller staatlichen Organe zur Beachtung der
Europäischen Menschenrechts-Konvention, die kraft Zustimmung
gemäß Art. 59 Abs. 2 GG - nicht anders als ein Abkommen
zur Vermeidung der Doppelbesteuerung (hier das DBA-Türkei
1985) - in den Rang eines innerstaatlichen Bundesgesetzes
überführt worden ist (vgl. z.B. BVerfG, Beschluss in
BVerfGE 111, 307, 316 f. = SIS 04 39 67; Urteil in BVerfGE 128,
326). Es äußert sich dahin, „dass der
Gesetzgeber von Verfassungs wegen gehalten ist,
Völkervertragsrecht zu beachten, wenn nicht ausnahmsweise die
Voraussetzungen vorliegen, von denen das BVerfG die
Zulässigkeit der Abweichung vom Völkervertragsrecht
abhängig macht“. Darauf aufbauend ergibt sich aus
Sicht des BVerfG in dem sog. Alteigentümer-Beschluss die
Verpflichtung aller Staatsorgane, „die die Bundesrepublik
Deutschland bindenden Völkerrechtsnormen zu befolgen und
Verletzungen nach Möglichkeit zu unterlassen“. Aus
diesen Erkenntnissen ist - aus Sicht des erkennenden Senats zu
Recht - der Umkehrschluss gezogen worden: Der Gesetzgeber wird von
Verfassungs wegen (und damit basierend auf dem Rechtsstaatsgebot
des Art. 20 Abs. 3 GG) in die Pflicht genommen,
Völkervertragsrecht zu beachten. Die prinzipielle
Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes ist vorrangig.
Sie nimmt dem Gesetzgeber - in Abkehr von der bisherigen (und
früher auch vom BVerfG vertretenen, s. sub B.II.1.) Sichtweise
- „die Verfügungsmacht über den
Rechtsbestand“ (so - mit allerdings noch anderem Ergebnis
- BVerfG-Urteil in BVerfGE 6, 309 (363)) und wirkt für den
Gesetzgeber unbeschadet dessen demokratisch-legitimierten
Rechtssetzungsbefugnissen als unmittelbar bindendes Gebot wie als
materiell-rechtliche „Sperre“. Ausnahmen
bedürfen einer besonderen Rechtfertigung. Die Voraussetzungen
dafür sind eng; im sog. Alteigentümer-Beschluss wird dies
präzisiert: Rechtfertigungsgründe sind die Beachtung der
Menschenwürde, die Beachtung der Grundrechte. Das BVerfG
verschiebt damit nicht die Rangfolge zwischen Zustimmungs- und
speziellem Steuergesetz. es formt und bestimmt jedoch die
inhaltlichen, die materiellen Maßstäbe für das, was
an Spezielle(re)m zulässig ist und weist methodisch den Weg zu
einer Erforderlichkeitsprüfung. Als „in diesem Sinne
rechtsstaatlich kann Art. 59 Abs. 2 GG daher nur dergestalt
gedeutet werden, dass der Gesetzgeber“ mit der Umsetzung
„über seine Gesetzgebungskompetenzen verfügt und
dadurch seine ungebundene Normsetzungsautorität in dem
Maße, das der völkerrechtliche Vertrag vorgibt,
einbüßt“. Ein Bruch des
Völkervertragsrechts ist ausnahmsweise innerstaatlich bindend,
„sofern nur auf diese Weise ein Verstoß gegen
tragende Grundsätze der Verfassung abzuwenden
ist“.
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Damit weist das BVerfG den methodischen Weg
zur Anwendung des Erforderlichkeitsgrundsatzes auch für ein
Treaty override: Es kommt für den Ausgleich der
widerstreitenden Verfassungsprinzipien von Rechtsstaat und
Demokratie darauf an, ob dem Gesetzgeber gegenüber dem
Vertragsbruch ein gleich sicheres, aber milderes Mittel zu Gebote
steht (so Rust, a.a.O., S. 108 ff.; im Ergebnis ebenso z.B.
Rust/Reimer, IStR 2005, 843. Jankowiak, a.a.O., S. 219 ff. und
passim; Gosch, IStR 2008, 413; derselbe in Kirchhof, a.a.O., §
50d Rz 25; Schaumburg, a.a.O., Rz 3.24 ff.; Kempf/Bandl, DB 2007,
1377; Wassermeyer/Schönfeld in Flick/Wassermeyer/Baumhoff/
Schönfeld, a.a.O., § 20 AStG Rz 41 ff.; Rauschning in
Bonner Kommentar zum Grundgesetz, a.a.O., Art. 59 Rz 137 ff.,
143).
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b) Der Senat macht sich diese
Überlegungen zu eigen. Er erkennt in § 50d Abs. 8 EStG
2002 n.F. einen Völkerrechtsverstoß, der sich nicht nur
im Sinne einer möglichen völkerrechtsfreundlichen
Normauslegung auswirkt, sondern der in dem prinzipiellen Vorrang
des Abkommens begründet ist und der aus verfassungsrechtlicher
Sicht die Nichtigkeit der
„abkommensüberschreibenden“ unilateralen
Vorschrift nach sich zieht.
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aa) Bei § 50d Abs. 8 EStG 2002 n.F.
handelt es sich um ein Treaty override: Völkerrechtlich haben
Deutschland und die Türkei sich für Arbeitseinkünfte
auf das Quellenprinzip und auf die Freistellungsmethode
verständigt, und Arbeitseinkünfte können unter den
im Streitfall festgestellten Gegebenheiten im Tätigkeitsstaat
besteuert werden. Das ist hier die Türkei. Die beschriebene
Freistellung ist vorbehaltlos und unbedingt vereinbart und ebenso
vorbehaltlos und unbedingt kraft Zustimmung in nationales Recht
überführt worden. Es fehlt sowohl an einer
abkommenseigenen Rückfallklausel - einer sog. subject to
tax-Klausel - zugunsten des Ansässigkeitsstaats als auch an
einem Nachweisvorbehalt über die Besteuerung im anderen
Vertragsstaat.
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Deutschland hat sich damit aufgrund eines
völkerrechtlichen Vertrages seines Besteuerungsrechts begeben,
und es nimmt als Ansässigkeitsstaat insofern auch in Kauf,
dass „seine“ Bürger, wenn sie als
Arbeitnehmer in dem anderen Vertragsstaat tätig sind, anders,
ggf. auch günstiger, besteuert werden als ein
Steuerpflichtiger, der einer vergleichbaren Arbeit im Inland
nachgeht. Die Gleichbehandlung mit Jenem wird suspendiert. Die
Steuerfreistellung sichert die Vermeidung der doppelten Besteuerung
auf Basis der „Virtualität“, nicht der
konkreten Besteuerungslage. Die Abwehr der
„virtuellen“ Doppelbesteuerung
repräsentiert gerade das tragende Prinzip der Freistellung.
Dementsprechend erfordert die in Art. 23 Abs. 1 Buchst. a Satz 1
i.V.m. Art. 15 Abs. 1 DBA-Türkei 1985 zwischenstaatlich
verabredete Freistellung von Arbeitslohn für eine
Tätigkeit, die eine in Deutschland ansässige Person in
der Türkei leistet, keine Ausnahme für den Fall, dass die
Türkei auf das ihr zustehende Besteuerungsrecht nicht
nachweislich verzichtet hat, oder für den Fall, dass die
Ertragsteuer, die auf den Arbeitslohn entfällt, in der
Türkei nicht nachweislich entrichtet worden ist.
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Das Prinzip der nur virtuellen
Doppelbesteuerung baut dem Gedanken nach allerdings darauf auf,
dass der andere Vertragsstaat sein ihm zustehendes
Besteuerungsrecht überhaupt kennt und von der Möglichkeit
der konkreten Besteuerung weiß. Um das zu erreichen oder
immerhin dazu beizutragen, sieht Art. 26 DBA-Türkei 1985 den
Informationsaustausch zwischen den Vertragsstaaten vor: Die
zuständigen Behörden der Vertragsstaaten tauschen die
Informationen aus, die zur Durchführung dieses Abkommens und
des innerstaatlichen Rechts der Vertragsstaaten betreffend die
unter das Abkommen fallenden Steuern erforderlich sind. Indem es
die Freistellung von Nachweisen über die Besteuerung in der
Türkei abhängig macht und solche dem Steuerpflichtigen
auferlegt, setzt Deutschland sich über dieses
„stimmige“ Konzept in Gestalt des § 50d
Abs. 8 EStG 2002 n.F. einseitig hinweg.
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bb) Eine Rechtfertigung für den
Völkerrechtsverstoß erkennt der vorlegende Senat
nicht.
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aaa) Zwar liegt es auf der Hand, dass die
abkommensrechtlich vereinbarte „virtuelle“
Freistellung der Auslandseinkünfte steuerliche Vorteile mit
sich bringen kann, wenn diese Einkünfte im Ausland - aus
welchen Gründen auch immer - unbesteuert bleiben. Das Treaty
override bewirkt, dass dem Steuerpflichtigen dieser Vorteil wieder
genommen wird. Zugleich wird er damit im Ergebnis mit anderen
Steuerpflichtigen gleichbehandelt, welche entsprechende
Arbeitseinkünfte im Inland beziehen, mit diesen
Einkünften im Rahmen ihres sog. Welteinkommens aber besteuert
werden. § 50d Abs. 8 EStG 2002 n.F. orientiert sich so gesehen
an dem in Art. 3 Abs. 1 GG wurzelnden
Leistungsfähigkeitsprinzip, verhindert eine sog.
Keinmalbesteuerung und stellt eine gleichheitsgerechte Besteuerung
(wieder) her (s. denn auch Frotscher in Festschrift Schaumburg,
a.a.O., S. 687 ff., 707). Im Ergebnis ähnlich argumentiert
auch der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (jetzt
Gerichtshof der Europäischen Union) - EuGH -, wenn er (in
seinem Urteil vom 6.12.2007 C-298/05, Slg. 2007, I-10451 = SIS 08 07 26 „Columbus Container Services“) die durch
ein Treaty override (dort: § 20 Abs. 2 des Gesetzes über
die Besteuerung bei Auslandsbeziehungen - Außensteuergesetz -
) herbeigeführte Gleichbehandlung von sog. Inbound- und
Outbound-Engagements unbeschränkt Steuerpflichtiger hervorhebt
und das Treaty override gerade deswegen gemessen an den
unionsrechtlichen Grundfreiheiten als nicht diskriminierend ansieht
(Tz. 38 ff. des Urteils). Diese Einschätzung beruht allerdings
nicht auf der verfassungs-, sondern auf der unionsrechtlichen
Sicht, welche einem nur eingeschränkten
Prüfungsmaßstab unterliegt; der EuGH darf nämlich
das Verhältnis zwischen einer nationalen Maßnahme und
einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung nicht
prüfen, da diese Frage nicht zur Auslegung des
Gemeinschaftsrechts gehört, vielmehr allein dem
innerstaatlichen Recht überantwortet ist (Tz. 46 f. des
Urteils). Die abkommensrechtliche Freistellung wird sonach
ausgeblendet und nicht in die Vergleichsbetrachtung einbezogen.
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Aus Verfassungssicht verhält es sich
jedoch anders. Hier darf nicht außer Acht gelassen werden,
dass ausschließlich im Inland tätige Steuerpflichtige in
einem anderen Regelungszusammenhang agieren. Gleiches gilt für
Steuerpflichtige, welche zwar im Ausland agieren, jedoch in einem
Staat, mit dem Deutschland sich abkommensrechtlich auf die sog.
Anrechungsmethode verständigt hat. Solchen Steuerpflichtigen
steht keine Steuerfreistellung zu. Richtigerweise muss deswegen
auch die maßgebende Vergleichsgruppe eine andere sein:
Derjenige Steuerpflichtige, der unter den Voraussetzungen der
abkommensrechtlich vereinbarten Freistellungsmethode auf Basis der
sog. virtuellen Doppelbesteuerung im Ausland (hier in der
Türkei) arbeitet, muss - und das nur - mit ebensolchen
Personen verglichen werden. Mit Steuerpflichtigen, die
ausschließlich über entsprechende Inlandsbeziehungen
verfügen oder die mit ihren Auslandseinkünften unter
Anrechnung einer ausländischen Steuer im Inland besteuert
werden, sind Steuerpflichtige mit einschlägigen,
freigestellten Auslandseinkünften so gesehen bereits im
Ausgangspunkt ebenso wenig vergleichbar, wie dies beschränkt
und unbeschränkt Steuerpflichtige sind (vgl. BVerfG, Beschluss
vom 12.10.1976 1 BvR 2328/73, BVerfGE 43, 1, BStBl II 1977, 190 =
SIS 77 01 11; s. auch Beschlüsse vom 24.2.1989 1 BvR 519/87,
Die Information über Steuer und Wirtschaft 1990, 359; vom
9.2.2010 2 BvR 1178/07, IStR 2010, 327 = SIS 10 22 85). Es ist hier
wie dort allein sachgerecht, die inländische
(Gesamt-)Leistungsfähigkeit von der ausländischen
(Teil-)Leistungsfähigkeit zu trennen und beide
Leistungsfähigkeiten im jeweiligen Kontext einerseits mit dem
Welteinkommensprinzip, andererseits mit dem
Territorialitätspinzip und als deren Konkretisierung und
Ausformung zu erkennen (zutreffend Jankowiak, a.a.O., S. 100 ff.,
m.w.N.). Dass vor diesem Hintergrund dann der eine der solcherart
identifizierten Steuerpflichtigen mit Auslandseinkünften aus
nichtselbständiger Arbeit den von § 50d Abs. 8 EStG 2002
n.F. eingeforderten Nachweis erbringt, der andere aber nicht, kann
daran nichts ändern. Insbesondere erzwingt dieser Umstand der
Nachweiserbringung vor dem Hintergrund des vertraglich Vereinbarten
nicht eine Ungleichbehandlung jener Personen. Sichtbar wird das
nicht zuletzt, wenn der Steuerpflichtige den Nachweis über den
Besteuerungsverzicht des anderen Staates erbringt oder wenn ihm der
Besteuerungsnachweis gelingt, er in dem anderen Vertragsstaat
jedoch mit seinen dortigen Einkünften einer niedrigen
Steuerlast („Dumpingsteuer“) von 5 v.H. oder
auch nur 1 v.H. unterworfen wird. Auch dann scheidet er insoweit
aus der deutschen Besteuerung aus; das Gesetz verlangt keineswegs
einen Besteuerungszwang des anderen Staates oder einen
einheitlichen Steuersatz auf Basis des deutschen Steuertarifs. Die
drohende „Keinmalsteuer“ in Gestalt eines
Besteuerungsvoll- oder -teilverzichts wird also nicht nur aus Sicht
des Abkommensrechts und des bilateralen Abkommens, sondern auch aus
Sicht des unilateralen Treaty override durchaus hingenommen.
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bbb) Allerdings geht es dem Gesetzgeber
ausweislich der parlamentarischen Bekundungen auch nicht -
jedenfalls nicht in erster Linie - darum, die
„Keinmalsteuer“ zu verhindern. Vielmehr scheint
im Vordergrund die (ggf. mangelnde) Steuerehrlichkeit des
betreffenden Steuerpflichtigen zu stehen. So heißt es in der
einschlägigen Passage der Bundestags-Drucksache zum
Steueränderungsgesetz 2003 (BTDrucks 15/1562, S. 39 f.; ebenso
BRDrucks 630/03, S. 66) zu § 50d EStG 2002 n.F.:
„Damit soll verhindert werden, dass die Einkünfte
nicht besteuert werden, weil der Steuerpflichtige die
Einkünfte im Tätigkeitsstaat pflichtwidrig nicht
erklärt und dieser Staat deshalb häufig seinen
Steueranspruch nicht mehr durchsetzen kann, wenn er von dem
Sachverhalt erfährt, z.B. weil dann keine
Vollstreckungsmöglichkeiten gegen den Steuerpflichtigen mehr
bestehen“ und: „Dadurch wird sichergestellt,
dass das Besteuerungsrecht des Tätigkeitsstaats geschützt
ist und die Gefahr einer sonst eintretenden Doppelbesteuerung
[sic!] vermieden wird.“ Letzten Endes macht Deutschland
sich eine gewisse „Fürsorge“ um das
Besteuerungsaufkommen des anderen Vertragsstaates zur Aufgabe.
Diese altruistisch anmutende Regelungsintention wird dann jedoch
nicht stringent und folgerichtig umgesetzt. Denn wenn Deutschland
sich zum „Steuervollstrecker“ des anderen
Staates machen wollte, dann wäre das nur glaubhaft, wenn die
Steuer dann auch tatsächlich - sei es konkret, sei es im
Rahmen eines zwischenstaatlichen Fiskalausgleichs - an diesen Staat
weitergereicht würde. Das ist indessen nicht der Fall.
Stattdessen profitiert Deutschland als Ansässigkeitsstaat von
dem (unterstellten) Fehlverhalten des Steuerpflichtigen im
Quellenstaat, was annehmen lässt, dass der deutsche
Gesetzgeber bei Schaffung des § 50d Abs. 8 EStG 2002 n.F. eher
von fiskalischen Überlegungen geleitet gewesen sein
dürfte (Jankowiak, a.a.O., S. 93 ff., 97 f., 100 ff., 105 f.,
226; s. auch Senatsurteil vom 31.7.1974 I R 27/73, BFHE 113, 437,
BStBl II 1975, 61 = SIS 75 00 37). Ohnehin ist in der qua
Besteuerungsrückfall zu ahndenden
„Steuerunehrlichkeit“ des betreffenden
Steuerpflichtigen auch kein rechtfertigender Grund für die
Durchbrechung der Freistellungsmethode erkennbar; Art. 26
DBA-Türkei 1985 sichert in hinreichendem Maße, dass der
andere Vertragsstaat die notwendigen Informationen erhält, um
seinen Besteuerungsanspruch auch durchsetzen zu können. Und
schließlich sind solche Überlegungen von vornherein samt
und sonders nicht einschlägig, wenn der andere Vertragsstaat,
also der Quellenstaat, im Sinne der zweiten tatbestandlichen
Nachweisalternative des § 50d Abs. 8 Satz 1 EStG 2002 n.F. auf
die Wahrnehmung des ihm abkommensrechtlich zugewiesenen
Besteuerungsrechts verzichtet; es ist ebenso wenig wie bei
steuerlichem Fehlverhalten des Steuerpflichtigen nachzuvollziehen,
weshalb Deutschland unbeschadet der vereinbarten Steuerfreistellung
von einer derartigen „Steuerwohltat“ des anderen
Staates - aus welchen Gründen auch immer diese erfolgt -
irgendeinen fiskalischen Vorteil ziehen sollte. Die verabredete
Freistellung zur Vermeidung einer „virtuellen“
Doppelbesteuerung ist unabhängig davon, ob der
Besteuerungsverzicht im anderen Vertragsstaat
„freiwillig“ auf Basis einer bewussten
Entscheidung oder aber „unfreiwillig“ wegen
mangelnder Informationen beim Steuervollzug erfolgt.
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ccc) Unabhängig davon teilt der Senat
nicht die gelegentlich vertretene Rechtsauffassung, die andernfalls
drohende sog. Keinmalbesteuerung rechtfertige per se die
Durchbrechung des abkommensrechtlich Vereinbarten (so aber z.B.
Mitschke, DStR 2011, 2221). Die Vermeidung der Keinmalsteuer ist
nicht das primäre Ziel von Abkommen zur Vermeidung der
Doppelbesteuerung, sie kann immer nur ein damit verbundener,
allenfalls erwünschter Nebenzweck sein (s. jetzt auch die von
der EU-Kommission eingeleitete öffentliche Konsultation zur
doppelten Nichtbesteuerung von grenzüberschreitend
tätigen Unternehmen, abrufbar unter:
www.ec.europa.eu/taxation_customs/common/
consultations/tax/index_de.htm). Verständigen sich zwei
Vertragsstaaten auf die sog. Freistellungsmethode, dann geschieht
das stets und vorbehaltlich besonderer, im Abkommen vereinbarter
sog. Rückfallklauseln vor dem Hintergrund einer
„Kann-Besteuerung“ in dem anderen Vertragsstaat.
Maßstab des Vereinbarten ist bei der Freistellungsmethode
immer die Gefahr der virtuellen, nicht indessen der
tatsächlichen Doppelbesteuerung. Gerade darin liegen im
Ergebnis die Vorteile dieser Methode: Die Vertragsstaaten sollen
nicht auf die Regelungslage und Besteuerungspraxis des anderen
Staates oder deren Kenntnis angewiesen sein (vgl. z.B. Jankowiak,
a.a.O., S. 74 ff.; Lüdicke, a.a.O., S. 87 ff., 93 f.;
Wassermeyer/Schönfeld in
Flick/Wassermeyer/Baumhoff/Schönfeld, a.a.O., § 20 AStG
Rz 41 ff.; Lehner, IStR 2011, 733, 735 f., jeweils m.w.N.; s. auch
Senatsurteil vom 24.8.2011 I R 46/10, BFHE 234, 339 = SIS 11 34 06,
unter II.3. der Entscheidungsgründe). Ist die mögliche
„Keinmalbesteuerung“ damit aber für die
Freistellungsmethode in gewisser Weise kennzeichnend, wäre es
systemfremd, aus ihr - von einer hier nicht in Rede stehenden
Vermeidung von Missbräuchen einmal abgesehen - einen
Rechtfertigungsgrund für den unilateral angeordneten
Besteuerungsrückfall abzuleiten.
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ddd) Schließlich ist auch nicht
erkennbar, dass Deutschland gezwungen gewesen wäre, mittels
der in § 50d Abs. 8 EStG 2002 n.F. getroffenen Neuregelung in
beschleunigter Weise auf einen besonderen Missstand oder einen in
besonderer Weise kurzfristig zutage tretenden Steuerausfall bei
Einkünften aus im Ausland geleisteter nichtselbständiger
Arbeit zu reagieren. Selbst wenn es sich aber 2003 - bei
Neuschaffung der Regelung - so verhalten hätte, hätte dem
Gesetzgeber jedenfalls für das hier in Rede stehende
DBA-Türkei 1985 - wie in Übereinstimmung mit Art. 31 des
Musterabkommens der Organisation for Economic Cooperation and
Development auch nach den meisten anderen deutscherseits
geschlossenen Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung -
zweifelsfrei ein anderweitiges, milderes Mittel der Reaktion zur
Verfügung gestanden: Es war nach dessen Art. 30 Abs. 2 im
Jahre 2004 während der ersten sechs Monate des Kalenderjahres
einseitig kündbar; das Abkommen war danach nicht mehr
anwendbar auf die Steuern für die Steuerjahre, die am 1.
Januar des Jahres beginnen, das auf das Jahr folgt, in dem die
Kündigung ausgesprochen wird (Art. 30 Abs. 2 Satz 2 Buchst. b
DBA-Türkei 1985). Der Gesetzgeber war also sehr wohl in der
Lage, schnell handeln zu können, und im Ergebnis
überwiegt demnach das rechtsstaatliche Interesse an der
Einhaltung der völkerrechtlichen Verpflichtungen (s. auch
Rust, a.a.O., S. 108 ff.). Beredter Beleg dafür, dass dieser
Weg über die Vertragskündigung gangbar ist, ist nicht
zuletzt das DBA-Türkei 1985 selbst. Denn in ebendieser Weise
hat Deutschland in der Folgezeit von seinem Kündigungsrecht
gegenüber der Türkei auch tatsächlich Gebrauch
gemacht; das DBA-Türkei 1985 wurde am 21.7.2009 von deutscher
Seite - soweit ersichtlich ohne formale Änderung oder
Aufhebung des seinerzeitigen Zustimmungsgesetzes vom 27.11.1989
(BGBl II 1989, 866) - mit Wirkung vom 1.1.2011 gekündigt. In
dem daraufhin neuverhandelten Abkommen vom 19.9.2011 sind sodann -
bei prinzipieller Beibehaltung der Freistellungsmethode (Art. 22
Abs. 2 Buchst. a) - in Art. 22 Abs. 2 Buchst. b, c und e auch
entsprechende Rückfallklauseln vereinbart worden; die
streitgegenständliche Situation wird dadurch indessen nach wie
vor nicht erfasst.
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c) Nach der Rechtsauffassung des Senats steht
§ 50d Abs. 8 EStG 2002 n.F. nach allem nicht mit der
verfassungsmäßigen Ordnung in Einklang. Die zitierte,
vom BVerfG (im Beschluss in BVerfGE 111, 307, 319 = SIS 04 39 67)
dem Gesetzgeber zugestandene Ausnahme,
„Völkervertragsrecht (...) nicht (zu beachten),
sofern nur auf diese Weise ein Verstoß gegen tragende
Grundsätze der Verfassung abzuwenden ist“, liegt bei
der Abgrenzung der Tatbestände im Steuerrecht im Allgemeinen
(s. auch z.B. BVerfG, Beschluss vom 14.5.1986 2 BvL 2/83, BVerGE
72, 200, 272: „keinen zwingenden Grund des gemeinen
Wohls“) und bei der hier in Rede stehenden Vorschrift des
§ 50d Abs. 8 Satz 1 EStG 2002 n.F. im Besonderen nicht vor.
Der Senat erkennt in Anbetracht dessen keine andere
Möglichkeit, dem klägerischen Begehren abzuhelfen.
Insbesondere erscheint ihm als nicht gangbar, die ihrem Wortlaut
nach zugleich klare wie weitgefasste Regelung des § 50d Abs. 8
Satz 1 EStG 2002 n.F. vermittels eines
völkerrechtsfreundlichen und damit zugleich
verfassungskonformen Normenverständnisses im Sinne dieses
Begehrens auszulegen.
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4. Der Senat ist gleichermaßen der
Überzeugung, dass § 50d Abs. 8 EStG 2002 n.F. nicht dem
Gleichheitsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG standhält. Das ist zum
einen darin begründet, dass der Steuerpflichtige mit
nichtselbständigen Einkünften, der den von § 50d
Abs. 8 Satz 1 EStG 2002 n.F. geforderten Nachweis erbringt, anders
behandelt wird, als derjenige Steuerpflichtige mit entsprechenden
Einkünften, dem dieser Nachweis nicht gelingt. Dafür
besteht vor dem Hintergrund der völkervertraglich vereinbarten
Freistellung auf Basis der virtuellen doppelten Besteuerung aus den
(sub B.II.3.b bb aaa) beschriebenen Erwägungen kein sachlicher
Grund. Zum anderen wurzelt der Verstoß gegen das
Gleichheitsgebot darin, dass das angeordnete Nachweiserfordernis,
um in den Vorteil der abkommensrechtlichen Freistellung zu
gelangen, hiernach allein Steuerpflichtige mit Einkünften aus
nichtselbständiger Arbeit i.S. von § 19 EStG 2002 trifft,
Steuerpflichtige mit anderen Einkünften hingegen nicht,
obschon das DBA-Türkei 1985 auch für solche
Einkünfte die Freistellungsmethode vorsieht, so für
Betriebsstätteneinkünfte (Art. 7 Abs. 1 Satz 2
DBA-Türkei 1985), für Einkünfte aus unbeweglichem
Vermögen (Art. 6 Abs. 1 DBA-Türkei 1985) oder aus
selbständiger Tätigkeit (Art. 14 Abs. 1 Satz 2
DBA-Türkei 1985). Solche Einkünfte sind aber nicht minder
geeignet, sog. weiße Einkünfte, also eine
„Keinmalbesteuerung“, nach sich zu ziehen, falls
ein in Deutschland ansässiger Steuerpflichtiger seine
Einkünfte im anderen Vertragsstaat nicht
pflichtgemäß erklärt oder darauf entfallende Steuer
nicht an die Finanzbehörden abführt. Dass der andere
Vertragsstaat in der Lage wäre, derartige Einkünfte
innerhalb seines Staatsgebiets leichter aufzuspüren, ist weder
belegt noch ersichtlich. Auch für die Besteuerungszuordnung
bei selbständiger Arbeit genügt nach Art. 14 Abs. 1
DBA-Türkei 1985 die bloße Tätigkeit im anderen
Vertragsstaat, auch für die unternehmerische Tätigkeit
mittels einer Betriebsstätte im anderen Vertragsstaat ist
angesichts der „Flüchtigkeit“ und der
oftmals nur unzulänglichen „Verwurzelung“
einer solchen Betriebsstätte ein Besteuerungszugriff
keineswegs verlässlich gesichert. In beiden Situationen
ermöglicht Art. 26 DBA-Türkei 1985 gleichermaßen
den zwischenstaatlichen Informationsaustausch. Und dafür, dass
Steuerpflichtige mit Einkünften aus nichtselbständiger
Arbeit generell steuerunredlicher wären oder dass hier in
besonderem Maße die Gefahr einer doppelten Nichtbesteuerung
bestünde, ist nichts dargetan oder erkennbar. Die
Ungleichbehandlung ist deswegen nicht durch einen sachlichen
Unterscheidungsgrund gerechtfertigt (ebenso Hofmann/Otto, FR 2004,
826; Holthaus, IStR 2004, 16. Jankowiak, a.a.O., S. 226 f.; Gosch
in Kirchhof, a.a.O., § 50d Rz 35 ff.; Schaumburg, a.a.O., Rz
16.85 f.).
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5. Verstößt § 50d Abs. 8 EStG
2002 n.F. damit aber in gleichheitswidriger Weise gegen vorrangiges
Völkervertragsrecht, so löst dies zugleich einen
Verstoß gegen die verfassungsmäßige Ordnung aus,
die in Art. 20 Abs. 3 GG Handlungsmaßstab und Bindung
für die Gesetzgebung ist und woraus dem betroffenen
Steuerpflichtigen, hier den Klägern, wiederum aus der
allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs.
1 GG ein subjektives Recht auf Beachtung jener Ordnung
erwächst.
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Die gegenläufige Argumentation, wie diese
vor allem von Frotscher (Festschrift Schaumburg, a.a.O., S. 687
ff., 698 ff., 705 ff., sowie IStR 2009, 593, 598) vertreten wird,
überzeugt nicht. Frotscher ist der Auffassung, der vom Senat
angenommene Verfassungsverstoß lasse sich im Rahmen einer
Normenkontrolle nicht überprüfen, es mangele an dem
daraus erwachsenden subjektiven Recht des betroffenen
Steuerpflichtigen. Namentlich für § 50d Abs. 8 EStG 2002
n.F. räume die Verfassung dem Steuerpflichtigen
„unter keinem denkbaren Gesichtspunkt ein subjektiv
öffentliches Recht (ein) entgegen den bestehenden gesetzlichen
Regeln im Quellenstaat oder den Zuteilungsnormen des DBA nicht
besteuert zu werden“, er habe folglich „wiederum
unter keinem denkbaren Gesichtspunkt ein aus den Grundrechten
fließendes subjektives öffentliches Recht darauf, dass
die Doppelbesteuerung gerade durch Freistellung, und nicht durch
Anrechnung beseitigt wird“. Das ist aus mancherlei
Gründen unzutreffend: Zum einen schon deswegen, weil der
Tatbestand des § 50d Abs. 8 EStG 2002 n.F. eben nicht nur
„eine vom Quellenstaat nicht gewollte
Nichtbesteuerung“ erfasst, sondern ebenfalls eine
„gewollte“ Nichtbesteuerung. Zum andern
deswegen, weil Deutschland sich, wie beschrieben, mit der
Türkei als Vertragsstaat auf die Freistellungsmethode zur
Vermeidung einer doppelten Besteuerung vertraglich eingelassen hat;
dass dies gleichermaßen und ohne Verfassungsverstoß
auch mittels Anrechnung hätte geschehen können, ist
angesichts dessen ohne Belang. Zum weiteren ist die Annahme, dass
§ 50d Abs. 8 EStG 2002 n.F. kein subjektiv öffentliches
Abwehrrecht eröffne, infolge des konstatierten, gleich
mehrfachen Gleichheitsverstoßes in casu nicht richtig. Und
schließlich folgt der Senat auch der von Frotscher
eingenommenen Grundannahme nicht. Auch wenn das Abkommen zur
Vermeidung der Doppelbesteuerung als transformiertes oder
vollzogenes „einfaches“ Gesetz nicht zu den
allgemeinen Regel des Völkerrechts gehört und deswegen
nicht unmittelbar oder über Art. 2 Abs. 1 GG als
verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab wirken kann, so
verhält es sich doch anders bei dem zugrundeliegenden
völkervertraglichen Grundsatz des pacta sunt servanda. Der
Verstoß dagegen und gegen den allgemeinen Vorrang des
Völkervertragsrechts als materielle Begrenzungen
grundrechtlicher Gewährleistung stellt aber einen
Verstoß gegen die verfassungsmäßige Ordnung dar,
welcher für die inhaltliche Reichweite des Grundrechtsschutzes
aus Art. 2 Abs. 1 GG maßgebend ist. Über einen
derartigen Verstoß ist deswegen im Rahmen der Normenkontrolle
vom BVerfG zu befinden (z.B. Di Fabio in Maunz/Dürig/Herzog,
Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1 Rz 43; D. Lorenz in Bonner Kommentar,
a.a.O., Art. 2 Abs. 1 Rz 124 f., jeweils m.w.N.).
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III. Entscheidung des Senats
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Infolge der hiernach vom Senat angenommenen
Verfassungswidrigkeit von § 50d Abs. 8 Satz 1 EStG 2002 n.F.
war das Revisionsverfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 GG
auszusetzen und ist die Entscheidung des BVerfG über die im
Tenor formulierte Frage zur Verfassungsmäßigkeit des
§ 50d Abs. 8 Satz 1 EStG 2002 n.F. einzuholen.
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