1
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I. Die Kläger und Revisionskläger
(Kläger) wurden im Streitzeitraum, den Jahren 2003 und 2004,
zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Ihr älteres Kind,
geboren im Jahr 1981, absolvierte bis August 2004 eine
Berufsausbildung; ihr jüngeres Kind, geboren im Jahr 1983,
befand sich während des Streitzeitraums in Ausbildung. Die
Kläger bezogen in den Streitjahren zunächst kein
Kindergeld für ihre Kinder.
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2
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Mit der Einkommensteuererklärung 2003
reichten die Kläger u.a. zwei Anlagen „Kind“ beim
Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA - ) ein. Die
Einkünfte und Bezüge der Kinder gaben sie dabei mit 8.541
EUR und 7.737 EUR an. Die Einkommensteuererklärung 2004
beinhaltete keine Anlage „Kind“. Bei der Festsetzung
der Einkommensteuer, Kirchensteuer und des
Solidaritätszuschlags 2003 mit Bescheid vom 2.4.2004 sowie der
Festsetzung der Einkommensteuer, Kirchensteuer und des
Solidaritätszuschlags 2004 mit Bescheid vom 15.4.2005
berücksichtigte das FA keine Kinderfreibeträge. In den
Erläuterungen der Bescheide wird angeführt, dass die
Steuerfestsetzung hinsichtlich der beschränkten
Abzugsfähigkeit von Vorsorgeaufwendungen (§ 10 Abs. 3 des
Einkommensteuergesetzes - EStG - ) nach § 165 Abs. 1 der
Abgabenordnung (AO) vorläufig ist. Die vorstehend genannten
Bescheide wurden nicht angefochten.
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3
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Die Familienkasse setzte im November 2005
Kindergeld für das jüngere Kind für den gesamten
Streitzeitraum und im Januar 2006 für das ältere Kind bis
einschließlich August 2004 fest. Unter Hinweis auf die
nachträgliche Festsetzung von Kindergeld beantragten die
Kläger daraufhin, die Steuerfestsetzungen 2003 und 2004 zu
ändern und Kinderfreibeträge zu berücksichtigen.
Diesen Antrag lehnte das FA mit Bescheid vom 24.3.2006 ab. Der beim
FA eingelegte Einspruch blieb erfolglos.
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Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab
(Urteil vom 11.9.2007 14 K 5023/06 E, EFG 2007, 1926 = SIS 08 02 55). Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, dass
die Klage gegen die Einkommensteuerbescheide 2003 und 2004
zulässig sei. Zwar könnten die Kläger keine
Herabsetzung der Einkommensteuer erreichen, weil das Kindergeld -
nach den probeweisen Berechnungen des FA - in beiden Streitjahren
günstiger als die Freibeträge gewesen wäre. Die von
den Klägern begehrte Änderung (Herabsetzung) der
Bemessungsgrundlage für den Solidaritätszuschlag und
für die - in diesem Revisionsverfahren nicht
streitgegenständliche - Kirchensteuer sei aber nur durch eine
Änderung des Einkommensteuerbescheids zu erreichen.
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Die Klage sei jedoch unbegründet, weil
es an einer Rechtsgrundlage für die begehrte Änderung
fehle. Eine Korrektur nach § 165 AO sei nicht möglich,
weil die Vorläufigkeitsvermerke den Fall der
nachträglichen Berücksichtigung von
Kinderfreibeträgen nicht erfassten. § 175 Abs. 1 Satz 1
Nr. 1 AO sei nicht einschlägig, weil es sich bei den
Kindergeldbescheiden nicht um Grundlagenbescheide i.S. von §
171 Abs. 10 AO handele. Das für eine Änderung nach §
175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO erforderliche rückwirkende Ereignis
läge mit der Festsetzung und Zahlung von Kindergeld für
die Streitjahre zwar grundsätzlich vor. Allerdings seien die
Bescheide über die Festsetzung von Kindergeld Bescheinigungen
bzw. Bestätigungen i.S. des § 175 Abs. 2 Satz 2 AO, deren
nachträgliche Erteilung und Vorlage ausdrücklich nicht
als rückwirkendes Ereignis gelte. Auch § 173 Abs. 1 Nr. 2
AO sei nicht einschlägig, da die Kindergeldfestsetzung ein
rückwirkendes Ereignis i.S. von § 175 AO darstelle.
Überdies handele es sich bei dem Kindergeldbescheid nicht um
eine Tatsache im Sinne dieser Vorschrift. Die Zahlung gesetzlicher
Sozialversicherungsbeiträge sei jedenfalls keine
rechtserhebliche Tatsache, weil sie das FA zu dem Zeitpunkt, als es
die Steuer festgesetzt habe, bei der Ermittlung der Einkünfte
und Bezüge des Kindes außer Ansatz gelassen hätte.
Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11.1.2005
2 BvR 167/02 (BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 = SIS 05 30 28) sei im Zeitpunkt des Bescheiderlasses am 2.4.2004
(für 2003) und am 15.4.2005 (für 2004) weder den
Beteiligen bekannt gegeben noch veröffentlicht gewesen. §
174 AO greife ebenfalls nicht ein.
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Mit ihrer Revision rügen die
Kläger die Verletzung formellen und materiellen
Rechts.
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7
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Das FG habe den Sachvortrag der Kläger
nicht vollständig gewürdigt. Es habe sich nicht mit ihrem
Vorbringen zu den Geschehnissen im FA bei Abgabe der
Steuererklärung 2003 auseinandergesetzt. Das FA habe ihnen
damals versichert, wenn nachträglich Kindergeld gezahlt werde,
werde eine Günstigerprüfung durchgeführt und der
Kinderfreibetrag gewährt. Es handele sich dabei um eine
rechtlich bindende Zusage. Das FA habe das rechtliche Gehör
der Kläger verletzt, indem es die ausgefüllten Anlagen
„Kind“ aus den eingereichten
Steuererklärungsformularen der Kläger entfernt
habe.
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Zudem habe das FG verkannt, dass die
Bescheide nach § 165 AO änderbar seien. In der
Vorstellung der Kläger sei streitgegenständlich die
Berücksichtigung von Sozialabgaben und Vorsorgeaufwendungen;
diese seien im jeweiligen Vorläufigkeitsvermerk genannt. Die
Vorläufigkeitsvermerke seien auch deshalb nicht eindeutig,
weil sie auf die „Anhängigkeit von
Verfassungsbeschwerden und Revisionen“ abstellten, anstatt
darauf hinzuweisen, dass nur eine einzige Verfassungsbeschwerde
bezüglich der Vorsorgeaufwendungen anhängig gewesen sei.
Eine Bescheidänderung sei jedenfalls nach § 175 Abs. 1
Satz 1 Nr. 2 AO möglich. Die Kindergeldbescheide seien keine
Bescheinigungen bzw. Bestätigungen i.S. des § 175 Abs. 2
Satz 2 AO. Diese Norm betreffe Bescheinigungen über gezahlte
Körperschaftsteuer. Ihre Anwendung auf Kindergeldbescheide sei
weder veranlasst noch geboten.
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Die Kläger beantragen
sinngemäß, das FG-Urteil vom 11.9.2007 14 K 5023/06 E,
den Ablehnungsbescheid vom 24.3.2006 sowie die hierzu ergangene
Einspruchsentscheidung vom 26.10.2006 aufzuheben und das FA zu
verpflichten, die Festsetzung des Solidaritätszuschlags 2003
mit Bescheid vom 2.4.2004 sowie die Festsetzung des
Solidaritätszuschlags 2004 mit Bescheid vom 15.4.2005
dergestalt zu ändern, dass jeweils die für Kinder zu
gewährenden Freibeträge berücksichtigt
werden.
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Das FA beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
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II. Die Revision ist als unbegründet
zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2, 4 der Finanzgerichtsordnung
- FGO - ). Das FG ist im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, dass
die Kläger keinen Anspruch auf Herabsetzung des
bestandskräftig festgesetzten Solidaritätszuschlags 2003
und 2004 haben.
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1. Die Kläger wenden sich mit ihrem
Klagebegehren (§ 96 Abs. 1 Satz 2 FGO) ausschließlich
gegen die abgelehnte Änderung der Festsetzung des
Solidaritätszuschlags 2003 und 2004, nicht (auch) gegen die
abgelehnte Änderung der Einkommensteuerfestsetzungen 2003 und
2004.
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13
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Verfahrenserklärungen sind in
entsprechender Anwendung des § 133 des Bürgerlichen
Gesetzbuches auszulegen (vgl. z.B. Urteil des Bundesfinanzhofs -
BFH - vom 30.8.1994 IX R 42/91, BFH/NV 1995, 481). Die Kläger
hatten dem FG, bevor es durch Urteil entschied, zuletzt mitgeteilt,
sie beantragten, der Klage entsprechend den Kontrollberechnungen
des FA stattzugeben. In diesen Berechnungen hatte das FA für
die Einkommensteuerveranlagungen in den beiden Streitjahren
Vergleichsrechnungen durchgeführt. Daraus ergab sich, dass
sich lediglich die Bemessungsgrundlage für den
Solidaritätszuschlag und für die - in diesem
Revisionsverfahren nicht streitgegenständliche - Kirchensteuer
ändern würde, wenn bei den Steuerfestsetzungen die
Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG Berücksichtigung
fänden. Durch die Ablehnung des FA, die
Einkommensteuerbescheide zu ändern, sind die Kläger daher
nicht - auch nicht mittelbar - beschwert (§ 40 Abs. 2
FGO).
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Den Einkommensteuerbescheiden kommt, soweit
das Klagebegehren reicht, auch keine Grundlagenfunktion für
die Festsetzung des Solidaritätszuschlags zu. Nach § 3
Abs. 2 des Solidaritätszuschlaggesetzes (SolZG) ist
Bemessungsgrundlage für den Solidaritätszuschlag die
Einkommensteuer, die abweichend von § 2 Abs. 6 EStG unter
Berücksichtigung von Freibeträgen gemäß §
32 Abs. 6 EStG in allen Fällen des § 32 EStG festzusetzen
wäre. Zwar ist der Solidaritätszuschlag nach
Maßgabe von § 3 Abs. 1 Nr. 1 SolZG Folgesteuer zu der
als Maßstabsteuer dienenden Einkommensteuer. Insoweit stehen
der Einkommensteuerbescheid und die Festsetzung des
Solidaritätszuschlags im Verhältnis
Grundlagen-/Folgebescheid (vgl. § 1 Abs. 5 SolZG; s. auch zum
entsprechenden Verhältnis von Einkommensteuerbescheid zur
Kirchensteuerfestsetzung BFH-Beschluss vom 28.11.2007 I R 99/06,
BFHE 221, 288 = SIS 08 14 74, m.w.N.). Soweit jedoch § 3 Abs.
2 SolZG Modifikationen bei der Berechnung der maßgeblichen
Einkommensteuer vorsieht, die ausschließlich der Bemessung
des Solidaritätszuschlags dienen und für die Festsetzung
der tatsächlichen Einkommensteuer keine Bedeutung haben, hat
der Einkommensteuerbescheid diese Grundlagenfunktion nicht.
Einwendungen, die sich gegen die Berechnung der modifizierten
Einkommensteuer nach § 3 Abs. 2 SolZG richten, sind nicht im
Rechtsbehelfsverfahren gegen den Einkommensteuerbescheid, sondern
in jenem gegen die Festsetzung des Solidaritätszuschlags
geltend zu machen (vgl. auch BFH-Beschluss in BFHE 221, 288 = SIS 08 14 74; a.A. FG Düsseldorf vom 14.1.2000 18 K 5985/98 E, EFG
2000, 439 = SIS 01 56 27).
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2. Der für die Jahre 2003 und 2004
bestandskräftig durch Steuerbescheid festgesetzte
Solidaritätszuschlag (vgl. Blümich/ Lindberg, § 1
SolZG 1995 Rz 8, 9) kann nicht mehr herabgesetzt werden.
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a) Die Voraussetzungen für eine
Änderung nach § 165 AO liegen nicht vor.
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Nach § 165 Abs. 2 Satz 1 AO kann die
Finanzbehörde eine Steuerfestsetzung aufheben oder
ändern, soweit sie die Steuer vorläufig festgesetzt hat.
Maßgebend ist dabei, welchen Umfang der
Vorläufigkeitsvermerk tatsächlich hat. Ist die
entsprechende Formulierung objektiv unklar, so ist der Umfang der
Vorläufigkeit durch Auslegung zu ermitteln (BFH-Urteil vom
12.7.2007 X R 22/05, BFHE 218, 26, BStBl II 2008, 2 = SIS 07 37 80,
m.w.N.).
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Im Streitfall scheidet eine Änderung nach
dieser Vorschrift schon deshalb aus, weil sich die
Vorläufigkeitsvermerke auf die beschränkte
Abzugsfähigkeit von Vorsorgeaufwendungen nach § 10 Abs. 3
EStG und damit nur auf die Einkommensteuerfestsetzungen 2003 und
2004, nicht auch auf die Festsetzung des Solidaritätszuschlags
2003 und 2004 beziehen. Abgesehen davon betreffen die
Vorläufigkeitsvermerke inhaltlich nicht die Frage, ob die
gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge bei der Ermittlung
der Einkünfte und Bezüge der Kinder nach § 32 Abs. 4
EStG als Abzugsposten zu berücksichtigen sind. Die gebrauchte
Formulierung bietet keine Anhaltspunkte dafür, dass sie auch
gesetzliche Sozialversicherungsbeiträge von Personen, die
nicht Adressaten des Steuerbescheids sind, umfassen soll.
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b) Die nachträgliche Festsetzung von
Kindergeld begründet für die Kläger keinen Anspruch
aus § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO auf Änderung des
festgesetzten Solidaritätszuschlags.
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Nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO ist ein
Steuerbescheid zu ändern, soweit ein für ihn bindender
Grundlagenbescheid (§ 171 Abs. 10 AO) erlassen, aufgehoben
oder geändert wird. Grundlagenbescheide sind gemäß
§ 171 Abs. 10 Satz 1 AO Feststellungsbescheide,
Steuermessbescheide oder sonstige für eine Steuerfestsetzung
bindende Verwaltungsakte. Für die Annahme einer
Bindungswirkung ist nach der Rechtsprechung des BFH
grundsätzlich eine gesetzliche Regelung erforderlich
(Senatsurteil vom 10.6.1988 III R 232/84, BFHE 154, 68, BStBl II
1988, 981 = SIS 88 20 32; vgl. Klein/Rüsken, AO, 10. Aufl.,
§ 171 Rz 102). Hieran fehlt es im Streitfall; eine
Bindungswirkung des Kindergeldbescheids für die Festsetzung
des Solidaritätszuschlags ist gesetzlich nicht vorgesehen.
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c) Auch eine Änderung nach § 175
Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist im Streitfall nicht möglich.
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aa) Nach dieser Vorschrift ist ein
Steuerbescheid zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das
steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat
(rückwirkendes Ereignis). Ein rückwirkendes Ereignis i.S.
von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO liegt vor, wenn sich nach
Ergehen eines Steuerbescheids der rechtserhebliche Sachverhalt in
der Weise ändert, dass nunmehr der veränderte anstelle
des zuvor verwirklichten Sachverhalts der Besteuerung zugrunde zu
legen ist. Eine andere rechtliche Beurteilung des unverändert
bleibenden Sachverhalts genügt insoweit nicht. Eine
Gerichtsentscheidung ist daher nur dann ein rückwirkendes
Ereignis i.S. des § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO, wenn sie den
Tatbestand, an den das Steuergesetz anknüpft, rückwirkend
verändert (Senatsurteil vom 28.6.2006 III R 13/06, BFHE 214,
287, BStBl II 2007, 714 = SIS 06 38 92, m.w.N.). Entsprechendes
gilt für Merkmale, auf welche das Steuergesetz abstellt und
die durch eine behördliche Entscheidung rückwirkend
umgestaltet werden (Klein/Rüsken, a.a.O., § 175 Rz 56a).
Ob ein Ereignis in die Vergangenheit zurückwirkt, ist den
Normen des materiellen Steuerrechts zu entnehmen (Senatsurteil vom
28.7.2005 III R 48/03, BFHE 210, 393, BStBl II 2005, 865 = SIS 05 41 68).
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bb) Nach diesen Maßstäben sind
weder der Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005,
Beilage 3, 260 = SIS 05 30 28 noch die nachträgliche
Festsetzung und/oder Zahlung von Kindergeld ein rückwirkendes
Ereignis für die Festsetzung des
Solidaritätszuschlags.
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Die nach § 3 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 SolZG
als Bemessungsgrundlage des Solidaritätszuschlags dienende
„fiktive“ Einkommensteuer ist die
Einkommensteuer, die abweichend von § 2 Abs. 6 EStG unter
Berücksichtigung von Freibeträgen nach § 32 Abs. 6
EStG in allen Fällen des § 32 EStG festzusetzen
wäre. Diese Bemessungsgrundlage berücksichtigt also stets
die Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG
(Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses, BTDrucks
13/1558, S. 159), unabhängig davon, ob sie bei der Veranlagung
zur Einkommensteuer in Abzug gebracht worden sind oder ob die nach
§ 31 EStG für die Einkommensteuerfestsetzung
vorzunehmende Vergleichsrechnung ergeben hat, dass sich das
Kindergeld für den Steuerpflichtigen günstiger auswirkt
(vgl. Giloy, FR 1996, 409; Blümich/Treiber, § 51a EStG Rz
51; Wagner in Herrmann/Heuer/ Raupach, § 51a EStG Rz 23). Der
Abzug der Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG ist, wie
§ 3 Abs. 2 SolZG ausdrücklich regelt, jedoch nur
möglich in den Fällen des § 32 EStG. D.h., dass die
Regelungen des § 32 EStG zu prüfen sind und deren
Voraussetzungen vorliegen müssen (vgl. zur inhaltsgleichen
Bestimmung des § 51a Abs. 2 Satz 1 EStG Frotscher in
Frotscher, EStG, 6. Aufl., Freiburg 1998 ff., § 51a Rz 56;
Petersen, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 51a Rz
C4; Pust in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht,
Kommentar, § 51a EStG Rz 88); anderenfalls können bei der
Berechnung der fiktiven Einkommensteuer für Zwecke der
Festsetzung des Solidaritätszuschlags keine Freibeträge
i.S. von § 32 Abs. 6 EStG abgezogen werden.
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25
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aaa) Der Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112,
164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 = SIS 05 30 28 hat die Tatsache,
dass für die Kinder der Kläger Beiträge zur
gesetzlichen Sozialversicherung abgeführt wurden, nicht
verändert. Der Beschluss führt lediglich zu einer anderen
rechtlichen Beurteilung des unverändert bleibenden
Sachverhalts dergestalt, dass solche Beiträge nunmehr bei der
Ermittlung der Einkünfte und Bezüge des Kindes
gemäß § 32 Abs. 4 Sätze 2 ff. EStG abzuziehen
sind.
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bbb) Ebenso sind die nachträgliche
Festsetzung und/oder Zahlung von Kindergeld keine
rückwirkenden Ereignisse, weil der Tatbestand von § 3
Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 SolZG und von § 32 EStG weder an eine
Kindergeldfestsetzung noch an die Zahlung von Kindergeld, sondern -
wie ausgeführt - an das Vorliegen der Voraussetzungen des
§ 32 EStG anknüpft. Der nachträglich ergangene
Kindergeldfestsetzungsbescheid entfaltet auch keine
Tatbestandswirkung in dem Sinne (vgl. zur Tatbestandswirkung von
Verwaltungsakten BFH-Urteil vom 21.1.2010 VI R 52/08, BFHE 228,
295, BStBl II 2010, 703 = SIS 10 13 17; Steinhauff,
AO-Steuerberater 2010, 271), dass das FA bei der Prüfung, ob
die Voraussetzungen des § 32 EStG oder § 3 Abs. 2 SolZG
erfüllt sind, das Ergebnis der Familienkasse übernehmen
müsste; die Tatbestandswirkung des
Kindergeldfestsetzungsbescheids beschränkt sich auf seinen
verfügenden Teil („Tenor“), umfasst aber
nicht seine Begründung (vgl. Steinhauff, AO-Steuerberater
2010, 271). Das FA hat daher selbständig und ohne Bindung an
die im Kindergeldfestsetzungsbescheid enthaltene Begründung
das Vorliegen der Voraussetzungen des § 32 EStG zu
prüfen.
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d) Schließlich scheidet auch eine
Korrektur nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO aus.
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aa) Der Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112,
164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 = SIS 05 30 28 stellt schon
deshalb keine nachträglich bekanntgewordene Tatsache dar, weil
er lediglich eine geänderte rechtliche Beurteilung der Zahlung
von Sozialversicherungsbeiträgen enthält und solche
rechtlichen Schlussfolgerungen, insbesondere juristischen Wertungen
und Subsumtionen, keine Tatsachen sind (vgl. Senatsurteil in BFHE
214, 287, BStBl II 2007, 714 = SIS 06 38 92). Im Übrigen fehlt
es hinsichtlich des Solidaritätszuschlags 2003 an einem
nachträglichen Bekanntwerden des Beschlusses vom 11.1.2005; er
ist vielmehr nachträglich eingetreten, weil er im Zeitpunkt
des Bescheiderlasses am 2.4.2004 (für 2003) noch nicht
vorhanden war (vgl. dazu BFH-Urteil vom 2.4.1998 V R 34/97, BFHE
185, 536, BStBl II 1998, 695 = SIS 98 17 31).
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bb) Eine Änderungsmöglichkeit nach
§ 173 Abs. 1 Nr. 2 AO ergibt sich auch dann nicht, wenn dem FA
im Zeitpunkt der ursprünglichen Steuerfestsetzungen die
Tatsache der Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge durch die
Kinder noch nicht bekannt gewesen sein sollte, weil diese Tatsache
nicht rechtserheblich war.
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Ein Steuerbescheid darf nicht nach § 173
Abs. 1 Nr. 2 AO zu Gunsten des Steuerpflichtigen aufgehoben oder
geändert werden, wenn die Finanzbehörde bei
ursprünglicher Kenntnis der Tatsachen oder Beweismittel nicht
anders entschieden hätte. Eine Änderung nach § 173
Abs. 1 AO scheidet danach aus, wenn die Unkenntnis der später
bekannt gewordenen Tatsache für die ursprüngliche
Veranlagung nicht ursächlich (rechtserheblich) gewesen ist.
Wie die Finanzbehörde bei Kenntnis bestimmter Tatsachen und
Beweismittel einen Sachverhalt im ursprünglichen Bescheid
gewürdigt hätte, ist im Einzelfall aufgrund des Gesetzes,
wie es nach der damaligen Rechtsprechung des BFH ausgelegt wurde,
und der die Finanzbehörden bindenden Verwaltungsanweisungen zu
beurteilen, die im Zeitpunkt des ursprünglichen
Bescheiderlasses durch das FA gegolten haben (BFH-Beschluss vom
23.11.1987 GrS 1/86, BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180 = SIS 88 05 47; BFH-Urteil vom 22.4.2010 VI R 40/08, BFHE 229, 57, BStBl II
2010, 951 = SIS 10 18 71).
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Im Streitfall hätte das FA auch bei
Kenntnis der Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge nicht
anders entschieden. Im Zeitpunkt des Bescheiderlasses am 2.4.2004
(für 2003) und am 15.4.2005 (für 2004) minderten die
gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge nach der
Rechtsprechung des BFH (BFH-Urteil vom 4.11.2003 VIII R 59/03, BFHE
204, 126, BStBl II 2004, 584 = SIS 04 05 45) nicht die
Einkünfte und Bezüge des Kindes. Gleiches galt nach
Auffassung der Verwaltung (H 180e
„Versicherungsbeiträge des Kindes“ des
Amtlichen Einkommensteuer-Handbuchs 2004; vgl. auch Abschn.
63.4.2.1 Abs. 2 Satz 6 der Dienstanweisung zur Durchführung
des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des
Einkommensteuergesetzes, Stand Januar 2002, BStBl I 2002, 369, und
Stand August 2004, BStBl I 2004, 743). Der Beschluss des BVerfG in
BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 = SIS 05 30 28 war am
15.4.2005 den Beteiligten weder bekannt gegeben noch
veröffentlicht. In der Regel gibt die zuständige
Geschäftsstelle des BVerfG Pressemitteilungen einen Tag nach
der Veranlassung der Bekanntgabe an die Beteiligten heraus (vgl.
Senatsurteil vom 19.10.2006 III R 31/06, BFH/NV 2007, 392 = SIS 07 06 54, m.w.N.). Die entsprechende Pressemitteilung datiert jedoch
erst vom 13.5.2005.
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32
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3. Die Verfahrensrüge der Kläger,
sie seien in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103
Abs. 1 des Grundgesetzes - GG -, § 96 Abs. 2 FGO) verletzt,
greift nicht durch.
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33
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a) Soweit die Kläger die Verletzung
rechtlichen Gehörs durch das FG wegen
Nichtberücksichtigung ihres Vorbringens bezüglich der
Geschehnisse im FA bei Abgabe der Steuererklärung 2003
rügen, liegt hierin kein Verfahrensmangel.
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34
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Der Anspruch auf rechtliches Gehör
verpflichtet das FG, die Beteiligten über den Verfahrensstoff
zu informieren und ihnen Gelegenheit zur Äußerung zu
geben, ihre Ausführungen zur Kenntnis zu nehmen, in
Erwägung zu ziehen und sich mit dem entscheidungserheblichen
Kern ihres Vorbringens auseinanderzusetzen. Art. 103 Abs. 1 GG und
§ 96 Abs. 2 FGO sind erst dann verletzt, wenn sich aus den
besonderen Umständen des Einzelfalls deutlich ergibt, dass das
Gericht Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis
genommen oder doch bei seiner Entscheidung ersichtlich nicht in
Erwägung gezogen hat (Senatsbeschluss vom 27.7.2007 III S
8/07, BFH/NV 2007, 2135 = SIS 07 35 76).
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35
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Im Streitfall hat das FG das klägerische
Vorbringen bezüglich der Geschehnisse im FA bei Abgabe der
Steuererklärung 2003 im Tatbestand des Urteils wiedergegeben,
so dass von dessen Berücksichtigung bei der
Entscheidungsfindung auszugehen ist (vgl. BFH-Urteil vom 25.8.2009
I R 88, 89/07, BFHE 226, 296, BFH/NV 2009, 2047 = SIS 09 33 70).
Besondere Umstände, aus denen sich ergeben würde, dass
das FG diesen Sachvortrag ersichtlich nicht in Erwägung
gezogen hat, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
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36
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b) Soweit die Kläger die Verletzung des
rechtlichen Gehörs durch das FA rügen, genügt die
Revisionsbegründung nicht den gesetzlichen Anforderungen.
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Nach § 120 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. b FGO
sind bei einer Verfahrensrüge die Tatsachen zu bezeichnen, die
den Mangel ergeben. Eine Verfahrensrüge ist unzulässig,
wenn sie nicht schlüssig ist, d.h. wenn die zur
Begründung der Rüge vorgetragenen Tatsachen als solche -
unabhängig von ihrer Beweisbarkeit - nicht ausreichen oder
nicht geeignet sind darzutun, dass der behauptete Verfahrensmangel
vorliegt (BFH-Beschluss vom 27.11.2003 VII R 49/03, BFH/NV 2004,
521 = SIS 04 11 41, m.w.N.). Mit ihrem Vorbringen, das FA habe das
rechtliche Gehör der Kläger dadurch verletzt, dass es die
Anlagen „Kind“ aus der eingereichten
Steuererklärung entfernt habe, machen die Kläger keinen
revisiblen Verfahrensmangel des Gerichtsverfahrensrechts geltend,
sondern einen vermeintlichen Fehler des FA im Besteuerungsverfahren
(vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., §
115 Rz 77).
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