Die Revision des Beklagten gegen das Urteil
des Finanzgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 2.7.2014 2 K
716/11 = SIS 14 34 12 wird als unbegründet
zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Beklagte zu tragen.
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I. Streitig ist, ob der
bestandskräftige Einkommensteuerbescheid 2007 vom 4.2.2009
hätte geändert werden dürfen.
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Die Kläger und Revisionsbeklagten
(Kläger) sind Ehegatten und wurden für das Streitjahr
zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Die Klägerin war im
Streitjahr vom 1. Januar bis zum 30. Juni bei der
Wohnungsbaugesellschaft A mbH (A) und vom 1. Juli bis zum 31.
Dezember bei der Steuerberaterin B (B) beschäftigt. In ihrer
gemeinsamen Einkommensteuererklärung erklärten die
Kläger in der Anlage N zu den Einkünften der
Klägerin aus nichtselbständiger Arbeit einen
Bruttoarbeitslohn in Höhe von ./. 20.201 EUR und
Entschädigungen in Höhe von 174.034 EUR. Die Arbeitgeber
der Klägerin übermittelten dem Beklagten und
Revisionskläger (Finanzamt - FA - ) elektronisch für die
Zeit vom 1. Januar bis zum 30.6.2007 einen Bruttoarbeitslohn von
./. 26.980,08 EUR und einen ermäßigt besteuerten
Arbeitslohn in Höhe von 174.034,28 EUR und vom 1. Juli bis zum
31.12.2007 einen Bruttoarbeitslohn in Höhe von 6.920
EUR.
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Nachdem das FA die Kläger aufgefordert
hatte, Unterlagen zur Berechnung und Zahlungsweise des
ermäßigt besteuerten Arbeitslohns der Klägerin und
eine Aufstellung einzureichen, aus der sich der negative
Bruttoarbeitslohn der Klägerin ergebe, reichten die
Kläger mit Schriftsatz vom 23.9.2008 einen Aufhebungsvertrag
der Klägerin mit der A vom 6.6.2007 ein. Danach sollte die
Klägerin aus Anlass der Auflösung des
Arbeitsverhältnisses zum 30.6.2007 eine Abfindung in Höhe
von 174.034,28 EUR erhalten, von der ein Teilbetrag in Höhe
von 50.017 EUR in eine Direktversicherung für die
Klägerin einbezahlt werden sollte. Des Weiteren reichten die
Kläger eine Bescheinigung der A vom 19.9.2008 mit einer
„Aufstellung der bescheinigten Summe in der
Lohnsteuerbescheinigung Zeile 3“ ein. Danach hatte die A bei
der Berechnung des in Zeile 3 der Lohnsteuerbescheinigung
eingetragenen Bruttoarbeitslohns die „Einzahlung aus
Abfindung in Direktversicherung“ in Höhe von 50.017 EUR
als Abzugsposten berücksichtigt und gelangte so zu einem Wert
in Höhe von ./. 26.980,08 EUR.
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Mit Einkommensteuerbescheid vom 25.11.2008
setzte daraufhin das FA die Einkommensteuer fest. In den
Erläuterungen wies das FA darauf hin, dass der
Bruttoarbeitslohn der Klägerin 29.956 EUR betrage. Der Betrag
für die Direktversicherung in Höhe von 50.017 EUR sei
nach § 3 Nr. 63 des Einkommensteuergesetzes (EStG) steuerfrei
und von der Abfindung abzuziehen, so dass 124.017 EUR als
ermäßigt besteuerter Arbeitslohn zu berücksichtigen
seien. Ein Abzug des steuerfreien Betrags vom Bruttoarbeitslohn sei
nicht vorzunehmen, da die Zahlungen im Rahmen der Auflösung
des Dienstverhältnisses erfolgt und auch von der vereinbarten
Abfindung einbehalten worden seien.
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Dagegen legten die Kläger Einspruch
ein, den sie damit begründeten, dass die Klägerin eine
Abfindung in Höhe von 174.034,28 EUR erhalten habe, die nach R
34.1 der Einkommensteuer-Richtlinie zu berücksichtigen sei.
Hierzu reichten sie eine Berechnung der Einkommensteuer, des
Solidaritätszuschlags und der Kirchensteuer ein, in der sie
für die Klägerin einen Bruttoarbeitslohn in Höhe von
./. 20.061 EUR und einen ermäßigt besteuerten
Arbeitslohn in Höhe von 174.034 EUR ansetzten. Eine andere
Sachbearbeiterin des FA half dem Einspruch mit
Änderungsbescheid vom 4.2.2009 ab.
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Am 14.5.2009 stellte das FA im Rahmen einer
bei der A durchgeführten Lohnsteuer-Außenprüfung
fest, dass durch eine falsche Lohnsteuerverschlüsselung
Beiträge zur Direktversicherung nicht mit der Abfindung,
sondern mit dem Bruttoarbeitslohn verrechnet worden waren. Dadurch
wurde auf der elektronischen Lohnsteuerbescheinigung ein negativer
Bruttoarbeitslohn ausgewiesen. Tatsächlich hätte A einen
Bruttoarbeitslohn in Höhe von 23.036,92 EUR und eine Abfindung
in Höhe von 124.017,28 EUR bescheinigen müssen.
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Daraufhin erließ das FA am 8.4.2010
einen nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO)
geänderten Einkommensteuerbescheid und berücksichtigte
dabei - wie im ursprünglichen Bescheid vom 25.11.2008 - einen
Bruttoarbeitslohn der Klägerin in Höhe von 29.956 EUR und
eine Entschädigung in Höhe von 124.017 EUR.
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Der hiergegen erhobenen Klage gab das
Finanzgericht (FG) statt.
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Mit der Revision rügt das FA die
Verletzung materiellen Rechts.
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Es beantragt, das Urteil des FG aufzuheben
und die Klage abzuweisen.
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Die Kläger beantragen, die Revision
zurückzuweisen.
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II. Die Revision ist unbegründet und
daher nach § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO)
zurückzuweisen. Das FG hat zu Recht entschieden, dass der
bestandskräftige Einkommensteuerbescheid 2007 vom 4.2.2009
weder nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO noch nach § 172 Abs. 1
Satz 1 Nr. 2 Buchst. c AO geändert werden durfte.
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1. Nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sind
Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen
oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer
höheren Steuer führen.
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a) Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1
AO ist jeder Lebenssachverhalt, der Merkmal oder Teilstück
eines gesetzlichen Tatbestands sein kann, also Zustände,
Vorgänge, Beziehungen, Eigenschaften materieller oder
immaterieller Art (ständige Rechtsprechung, z.B.
Senatsbeschluss vom 18.12.2014 VI R 21/13, BFHE 248, 116 = SIS 15 06 31; Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 19.2.2013 IX R
24/12, BFHE 240, 265, BStBl II 2013, 484 = SIS 13 11 50, m.w.N.,
und BFH-Beschluss vom 19.10.2011 X R 29/10, BFH/NV 2012, 227 = SIS 12 00 46, m.w.N.). Nicht unter den Tatsachenbegriff fallen dagegen
Schlussfolgerungen aller Art, rechtliche Würdigungen und
Bewertungen, Rechtsansichten und juristische Subsumtionen, bei
denen auf Grund von Tatsachen anhand gesetzlicher Vorschriften ein
bestimmter Schluss gezogen wird (BFH-Urteile vom 13.10.1983 I R
11/79, BFHE 140, 2, BStBl II 1984, 181 = SIS 84 05 36; vom
24.7.1984 VIII R 304/81, BFHE 141, 485, BStBl II 1984, 785 = SIS 84 21 39; vom 27.10.1992 VIII R 41/89, BFHE 170, 1, BStBl II 1993, 569
= SIS 93 10 51; vom 23.11.2001 VI R 125/00, BFHE 197, 387, BStBl II
2002, 296 = SIS 02 04 78; vom 28.6.2006 III R 13/06, BFHE 214, 287,
BStBl II 2007, 714 = SIS 06 38 92; vom 27.1.2011 III R 90/07, BFHE
232, 485, BStBl II 2011, 543 = SIS 11 13 60). Nachträglich
werden Tatsachen oder Beweismittel bekannt, wenn deren Kenntnis
nach dem Zeitpunkt erlangt wird, in dem die Willensbildung
über die Steuerfestsetzung abgeschlossen ist.
Grundsätzlich kommt es dabei auf den Wissensstand der zur
Bearbeitung des Steuerfalls berufenen Dienststelle an, wobei
aktenkundige Tatsachen stets als bekannt gelten (Senatsurteil vom
13.6.2012 VI R 85/10, BFHE 238, 295, BStBl II 2013, 5 = SIS 12 28 18, m.w.N.).
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b) Nach diesen Grundsätzen konnte der
Einkommensteuerbescheid 2007 vom 4.2.2009 durch das FA nicht nach
§ 173 Abs. 1 Nr. 1 AO geändert werden.
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aa) Denn dem FA waren bereits bei Erlass des
Einkommensteuerbescheids vom 4.2.2009 sämtliche für die
Besteuerung maßgeblichen Tatsachen bekannt. Tatsachen sind in
diesem Zusammenhang, dass die Klägerin mit der A am 6.6.2007
einen Auflösungsvertrag geschlossen hatte, dass nach diesem
die Klägerin aus Anlass der Auflösung des
Arbeitsverhältnisses zum 30.6.2007 von der A eine
Abfindungssumme in Höhe von 174.034,28 EUR erhielt und dass
die A von dieser Abfindungssumme einen Teilbetrag in Höhe von
50.017 EUR in eine Direktversicherung für die Klägerin
einzubezahlen hatte. Tatsache ist des Weiteren, dass die A in der
Lohnsteuerbescheinigung bei der Berechnung des Bruttoarbeitslohns
der Klägerin die Einzahlung in die Direktversicherung in
Höhe von 50.017 EUR als Abzugsposten berücksichtigt hat.
Diese Tatsachen waren bereits seit Einreichung des
Klägerschriftsatzes vom 23.9.2008 aktenkundig und damit dem FA
bekannt. Auf die individuelle Kenntnis der neu zuständigen
Sachbearbeiterin kommt es nicht an (Senatsurteil in BFHE 238, 295,
BStBl II 2013, 5 = SIS 12 28 18).
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bb) Keine Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1
Nr. 1 AO ist dagegen, dass das FA nach erneuter Prüfung zu dem
Ergebnis gelangt ist, dass die Einzahlung in die Direktversicherung
mit der Entschädigung und nicht mit dem Bruttoarbeitslohn zu
verrechnen ist. Es geht nunmehr davon aus, dass die Einzahlung in
die Direktversicherung nach § 3 Nr. 63 EStG steuerfrei und
statt vom Bruttoarbeitslohn von der Entschädigungssumme in
Höhe von 174.034,28 EUR abzuziehen war. Diese Beurteilung ist
das Ergebnis einer Subsumtion des § 3 Nr. 63 EStG und einer
Auslegung des Abfindungsvertrags und nicht Folge neuer,
nachträglich bekannt gewordener Tatsachen. Das FA ist vielmehr
zu einer anderen rechtlichen Würdigung gelangt, als es im
Abhilfebescheid vertreten hat.
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2. Nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst.
c AO darf ein Steuerbescheid geändert werden, soweit er durch
unlautere Mittel, wie arglistige Täuschung, Drohung oder
Bestechung erwirkt worden ist.
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a) Unter arglistiger Täuschung i.S. des
§ 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c AO ist die bewusste und
vorsätzliche Irreführung zu verstehen, wie jedes
vorsätzliche Verschweigen oder Vortäuschen von Tatsachen,
durch das die Willensbildung der Behörde unzulässig
beeinflusst wird (Wedelstädt in Beermann/ Gosch, AO § 172
Rz 194, m.w.N.). Für Arglist reicht bereits das Bewusstsein
aus, wahrheitswidrige Angaben zu machen. Nicht erforderlich ist
dagegen die Absicht, damit das Finanzamt zu einer Entscheidung zu
veranlassen (BFH-Urteil vom 14.12.1994 XI R 80/92, BFHE 176, 308,
BStBl II 1995, 293 = SIS 95 09 63). Ein Mitverschulden der
Finanzbehörde ist unerheblich, insbesondere der Umstand, dass
es die Unrichtigkeit hätte durchschauen können
(Wedelstädt, a.a.O., AO § 172 Rz 197; Klein/Rüsken,
AO, 12. Aufl., § 172 Rz 55).
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b) Diesen Grundsätzen entsprechend durfte
der Einkommensteuerbescheid 2007 vom 4.2.2009 nicht nach § 172
Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c AO geändert werden.
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Eine arglistige Täuschung liegt im
Streitfall nicht vor. In der (erneuten) Bezugnahme auf die Angaben
in der elektronischen Lohnsteuerbescheinigung im Rahmen des
Einspruchsverfahrens ist keine Irreführung über Tatsachen
oder das Bewusstsein, wahrheitswidrige Angaben zu machen, zu sehen.
Denn nachdem der Sachverhalt dem FA bereits vollständig
offengelegt war, haben die Kläger hierdurch dem FA lediglich
eine andere rechtliche Würdigung hinsichtlich der
lohnsteuerlichen Behandlung der Einzahlung in die
Direktversicherung mitgeteilt. Der schlichte Vortrag einer anderen
Rechtsauffassung im Rahmen des Einspruchsverfahrens ist jedoch
nicht „arglistig“ oder in sonstiger Weise
„unlauter“. Zudem entfaltet die
Lohnsteuerbescheinigung lediglich einen Beweiswert dahingehend, wie
der Lohnsteuerabzug tatsächlich stattgefunden hat
(Senatsurteil vom 30.10.2008 VI R 10/05, BFHE 223, 202, BStBl II
2009, 354 = SIS 09 00 50) und gerade nicht darüber, wie er
hätte durchgeführt werden müssen, so dass auch aus
diesem Grund durch die Bezugnahme auf die Lohnsteuerbescheinigung
keine „unrichtigen (tatsächlichen) Angaben“
gemacht wurden. Eine etwaige Hoffnung der Kläger, das FA werde
sich ohne eine weitere Sachprüfung ihrer Rechtsauffassung
anschließen, ist keine arglistige Täuschung (FG
Köln, Urteil vom 12.6.1996 10 K 1473/91, EFG 1996, 1073).
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135
Abs. 2 FGO.
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