1
|
I. Streitig ist, ob bestandskräftige
Einkommensteuerfestsetzungen nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 der
Abgabenordnung (AO) zu ändern sind.
|
|
|
2
|
Die Kläger und Revisionsbeklagten
(Kläger) sind Eheleute und wurden in den Streitjahren (2001
bis 2003) zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger,
der bei der Stadtsparkasse A beschäftigt war, erwarb im Rahmen
dieser Tätigkeit auch Ansprüche auf eine betriebliche
Altersvorsorge. Bedingt durch die Auflösung der
Zusatzversorgungskasse der Landeshauptstadt A wechselte die
Stadtsparkasse zur Durchführung ihrer betrieblichen
Altersvorsorge zur Y Zusatzversorgungskasse in B. Zum Ausgleich
hierfür hat sie an die übernehmende Versorgungskasse
neben einer allgemeinen Umlage einen jährlichen
Nachteilsausgleich geleistet, diese Zahlungen - anteilig - als
Arbeitslohn des Klägers behandelt und dem Lohnsteuerabzug
unterworfen. Dementsprechend sind auch die auf den Kläger
entfallenden Nachteilsausgleichszahlungen in den auf den
Lohnsteuerbescheinigungen ausgewiesenen Bruttoarbeitslöhnen
enthalten und in die Einkommensteuerfestsetzungen für die
Streitjahre eingegangen.
|
|
|
3
|
Von diesem Umstand erfuhr der Kläger
erstmals auf Grund einer „Allgemeinen Information“ der
Stadtsparkasse A vom 15.3.2006. Zugleich wurde ihm mitgeteilt, dass
die Versteuerung fehlerhaft gewesen sei, wie sich aus dem
zwischenzeitlich ergangenen Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom
14.9.2005 VI R 148/98 (BFHE 210, 443, BStBl II 2006, 532 = SIS 05 45 98) ergebe. Daraufhin beantragten die Kläger beim Beklagten
und Revisionskläger (Finanzamt - FA - ) erfolglos, die
bestandskräftigen Einkommensteuerfestsetzungen der Streitjahre
nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO dahingehend zu ändern, dass
die zu Unrecht erfolgte Besteuerung des Nachteilsausgleichs als
Arbeitslohn rückgängig gemacht werde. Auch die hiergegen
eingelegten Einsprüche blieben ohne Erfolg. Der fristgerecht
erhobenen Klage gab das Finanzgericht (FG) mit den in EFG 2008,
1926 = SIS 08 40 24 veröffentlichten Gründen
statt.
|
|
|
4
|
Mit der Revision rügt das FA die
Verletzung materiellen Rechts.
|
|
|
5
|
Das FA beantragt, das Urteil des FG
Düsseldorf vom 22.8.2008 11 K 580/07 E aufzuheben und die
Klage abzuweisen.
|
|
|
6
|
Die Kläger beantragen, die Revision
zurückzuweisen.
|
|
|
7
|
II. Die Revision des FA ist begründet.
Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung
der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung
- FGO - ). Das FG hat zu Unrecht entschieden, dass die
Einkommensteuerfestsetzungen 2001 bis 2003 nach § 173 Abs. 1
Nr. 2 AO zu ändern sind.
|
|
|
8
|
1. Die Vorentscheidung verletzt § 173
Abs. 1 Nr. 2 AO. Danach sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu
ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich
bekanntwerden, die zu einer niedrigeren Steuer führen.
|
|
|
9
|
a) Der Senat kann dahinstehen lassen, ob es
sich bei dem Umstand, dass der auf der Lohnsteuerkarte des
Klägers ausgewiesene Bruttolohn in den Streitjahren auch auf
diesen entfallende Nachteilsausgleichszahlungen enthält, um
eine dem FA nachträglich bekanntgewordene Tatsache i.S. des
§ 173 Abs. 1 AO handelt. Denn auch bei rechtzeitiger Kenntnis
um diese Sonderzahlungen an die aufnehmende Versorgungskasse und
deren - anteilige - Erfassung in den Lohnsteuerbescheinigungen des
Klägers wäre das FA bei der ursprünglichen
Veranlagung zu keiner niedrigeren Steuer gelangt.
|
|
|
10
|
b) Seit dem Beschluss des Großen Senats
des BFH vom 23.11.1987 GrS 1/86 (BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180
= SIS 88 05 47) vertritt die HFR die Auffassung, dass ein
Steuerbescheid wegen nachträglich bekanntgewordener Tatsachen
oder Beweismittel zugunsten des Steuerpflichtigen nur aufgehoben
oder geändert werden darf, wenn das FA bei ursprünglicher
Kenntnis der Tatsachen oder Beweismittel mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit anders entschieden hätte
(BFH-Beschluss in BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180 = SIS 88 05 47,
unter C. II. am Anfang). Eine Änderung nach § 173 Abs. 1
AO scheidet hingegen aus, wenn die Unkenntnis der später
bekanntgewordenen Tatsache für die ursprüngliche
Veranlagung nicht ursächlich (rechtserheblich) gewesen ist,
weil das FA auch bei rechtzeitiger Kenntnis der Tatsache mit an
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu keiner anderen Steuer
gelangt wäre (BFH-Beschluss in BFHE 151, 495, BStBl II 1988,
180 = SIS 88 05 47, unter C. II. 2. b).
|
|
|
11
|
Rechtfertigender Grund für die
Durchbrechung der Bestandskraft nach § 173 AO ist nicht die
Unrichtigkeit der Steuerfestsetzung, sondern der Umstand, dass das
FA bei seiner Entscheidung von einem unvollständigen
Sachverhalt ausgegangen ist. Demnach ist die nachträgliche
Berücksichtigung neuer Tatsachen und Beweismittel strikt von
der Korrektur von Rechtsfehlern abzugrenzen. Insbesondere
dürfen über den Umweg des § 173 Abs. 1 AO
Rechtsfehler der Finanzbehörde weder zulasten (Nr. 1) noch
zugunsten des Steuerpflichtigen (Nr. 2) berichtigt werden. Das
Kriterium der Rechtserheblichkeit (Kausalität) der neuen
Tatsache bei der ursprünglichen Veranlagung schließt
demnach aus, dass die Beteiligten des
Steuerschuldverhältnisses mit Hilfe eines
Änderungsbescheids eine neue Tatsache zum bloßen Anlass
oder Vorwand nehmen, ihre geläuterte Rechtsansicht
nachträglich durchzusetzen (BFH-Beschluss in BFHE 151, 495,
BStBl II 1988, 180 = SIS 88 05 47). Der Gesetzgeber hat vielmehr
dem Rechtsfrieden und der Rechtssicherheit in solchen Fällen
Vorrang vor der materiellen Richtigkeit der ergangenen
Verwaltungsentscheidung eingeräumt (BFH-Beschluss in BFHE 151,
495, BStBl II 1988, 180 = SIS 88 05 47).
|
|
|
12
|
c) Maßgebend für die Frage nach der
Rechtserheblichkeit einer neuen Tatsache oder eines neuen
Beweismittels ist grundsätzlich der Zeitpunkt, in dem die
Willensbildung des FA über die Steuerfestsetzung abgeschlossen
wird, d.h. im Normalfall der Zeitpunkt der abschließenden
Zeichnung des Eingabewertbogens (bei EDV-mäßiger
Abwicklung der Steuerfestsetzung) oder der Verfügung zum
Steuerbescheid (BFH-Urteile vom 13.7.1990 VI R 109/86, BFHE 161,
11, BStBl II 1990, 1047 = SIS 90 19 50, und vom 20.6.2001 VI R
70/00, BFH/NV 2001, 1527 = SIS 01 81 07; von Wedelstädt in
Beermann/Gosch, AO § 173 Rz 29, 47, m.w.N.).
|
|
|
13
|
d) Wie das FA bei Kenntnis bestimmter
Tatsachen und Beweismittel einen Sachverhalt in seinem
ursprünglichen Bescheid gewürdigt hätte, ist im
Einzelfall aufgrund des Gesetzes, wie es nach der damaligen
Rechtsprechung des BFH ausgelegt wurde, und den die FÄ
bindenden Verwaltungsanweisungen zu beurteilen, die im Zeitpunkt
des ursprünglichen Bescheiderlasses durch das FA gegolten
haben (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Urteile vom 15.3.2007
III R 57/06, BFH/NV 2007, 1461 = SIS 07 23 83; in BFH/NV 2001, 1527
= SIS 01 81 07; vom 15.12.1999 XI R 22/99, BFH/NV 2000, 818 = SIS 00 56 02; Senatsbeschluss vom 10.10.2007 VI B 48/06, BFH/NV 2008,
191 = SIS 08 07 52, m.w.N.). Liegen - wie im Streitfall -
unmittelbar zu der umstrittenen Rechtslage weder eine
Rechtsprechung des BFH noch bindende Verwaltungsanweisungen vor, so
ist aufgrund anderer Umstände abzuschätzen, wie das FA in
Kenntnis des vollständigen Sachverhalts entschieden hätte
(vgl. auch BFH-Urteil vom 10.3.1999 II R 99/97, BFHE 188, 276,
BStBl II 1999, 433 = SIS 99 16 34). Hierzu rechnet beispielsweise
das Vorgehen der Finanzbehörden in Parallelverfahren
(BFH-Urteil vom 9.8.1989 X R 7/84, BFH/NV 1990, 613). Darüber
hinaus sind auch interne Schreiben und Mitteilungen (BFH-Urteil vom
11.6.1997 X R 117/95, BFH/NV 1997, 853 = SIS 97 21 75), etwa eines
Landesfinanzministeriums an den Bundesminister der Finanzen, zu
berücksichtigen (BFH-Urteile vom 15.12.1999 XI R 22/99, BFH/NV
2000, 818 = SIS 00 56 02, und XI R 38/99, BFH/NV 2000, 820 = SIS 00 56 03). Deshalb ist das FG bei der Ermittlung der
Verwaltungsauffassung auch nicht an bestimmte Beweismittel gebunden
(BFH-Urteile in BFH/NV 2000, 818 = SIS 00 56 02, und in BFH/NV
2000, 820 = SIS 00 56 03; Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung,
Finanzgerichtsordnung, § 173 AO Rz 57b). Das mutmaßliche
Verhalten des einzelnen Sachbearbeiters und seine individuellen
Rechtskenntnisse sind hingegen für die Frage, ob die
Veränderung im Tatsächlichen oder in der rechtlichen
Beurteilung liegt, aus gleichheitsrechtlichen Erwägungen ohne
Bedeutung. Subjektive Fehler der FÄ und damit des einzelnen
Bearbeiters, wie sie sowohl in rechtlicher als auch in
tatsächlicher Hinsicht denkbar sein mögen, sind für
die Beurteilung der Rechtserheblichkeit einer nachträglich
bekanntgewordenen Tatsache unbeachtlich (vgl. BFH-Urteil vom
11.5.1988 I R 216/85, BFHE 153, 296, BStBl II 1988, 715 = SIS 88 17 42).
|
|
|
14
|
Demgegenüber hat das FG im Streitfall den
hypothetischen Kausalverlauf allein nach den idealtypischen
individuellen Rechtskenntnissen des zuständigen
Veranlagungssachbearbeiters und nicht nach der in den Streitjahren
herrschenden Verwaltungsauffassung beurteilt. Deshalb war die
Vorentscheidung aufzuheben.
|
|
|
15
|
2. Die Sache ist spruchreif.
|
|
|
16
|
Die Klage wird abgewiesen. Dass der auf der
Lohnsteuerkarte des Klägers ausgewiesene Bruttolohn in den
Streitjahren auch auf diesen entfallende
Nachteilsausgleichszahlungen enthält, ist bei der
ursprünglichen Veranlagung nicht rechtserheblich gewesen.
|
|
|
17
|
a) Im Streitfall wäre das FA bei den
Veranlagungen der Streitjahre auch bei rechtzeitiger Kenntnis des
Umstands, dass der auf der Lohnsteuerkarte des Klägers
ausgewiesene Bruttoarbeitslohn in den Streitjahren auch die auf ihn
entfallenden Nachteilsausgleichzahlungen enthielt, zu keiner
anderen Steuer gelangt. Es hätte insbesondere nicht den
Entlohnungscharakter der streitigen Sonderzahlungen verneint,
sondern vielmehr die Ausgleichszahlungen im Zeitpunkt der
streitigen Veranlagungen als steuerbaren Arbeitslohn beurteilt.
Nach dem Urteil des Senats in BFHE 210, 443, BStBl II 2006, 532 =
SIS 05 45 98 fließt zwar den Arbeitnehmern kein Arbeitslohn
zu, wenn der Arbeitgeber beim Wechsel zu einer anderen
umlagefinanzierten Zusatzversorgungskasse Sonderzahlungen leistet.
Im Streitfall erfolgte die abschließende Zeichnung der
Eingabewertbögen zu den Einkommensteuerbescheiden 2001, 2002
und 2003 unstreitig jedoch jeweils vor der Veröffentlichung
des BFH-Urteils in BFHE 210, 443, BStBl II 2006, 532 = SIS 05 45 98
in der Ausgabe Nr. 11 des BStBl II 2006, das am 24.7.2006
ausgegeben wurde.
|
|
|
18
|
b) Bei rechtzeitiger Kenntnis von der im
Bruttolohn des Klägers enthaltenen anteiligen Sonderumlage
hätte das FA entsprechend der damaligen Verwaltungsauffassung
diese Zahlungen als Arbeitslohn erfasst und der Besteuerung
unterworfen. Dies ergibt sich vor allem aus dem Umstand, dass die
Finanzverwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen die
Revisionsverfahren VI R 32/04 und VI R 148/98 geführt und in
diesen Verfahren stets die Auffassung vertreten hat, dass es sich
bei Sonderumlagen in Versorgungssysteme um Arbeitslohn handele.
Darüber hinaus ist die Auffassung der Finanzbehörden,
dass der Nachteilsausgleich als Arbeitslohn zu erfassen sei, u.a.
in der Mitteilung für den Lohnsteueraußendienst Nr.
12/2001 vom 5.12.2001 niedergelegt. Entgegen der Auffassung der
Vorinstanz ist insoweit ohne Bedeutung, ob der zuständige
Veranlagungssachbearbeiter diese Mitteilung kannte und
berücksichtigt hätte. Insoweit ist ausreichend, dass aus
diesem internen Schreiben die Rechtsauffassung der Verwaltung
hervorgeht. Dies gilt gleichermaßen für den
Schriftwechsel des Finanzministeriums des Landes
Nordrhein-Westfalen und der Steuerberatungsgesellschaft der
Zusatzversorgungskasse der Landeshauptstadt A. Auch aus diesen
Schreiben ist zweifelsfrei ersichtlich, dass die
Landesfinanzbehörden im Streitfall bei der Besteuerung von
Zukunftssicherungsleistungen nicht nach allgemeinen Umlagezahlungen
und dem sogenannten Nachteilsausgleich unterschieden
hätten.
|
|
|
19
|
Schließlich weist das FA auch zu Recht
darauf hin, dass sich aus der Gesetzesbegründung des
Jahressteuergesetzes 2007 die in den Streitjahren herrschende
Verwaltungsauffassung ergibt. Dort ist ausdrücklich darauf
hingewiesen, dass nach Auffassung der Finanzverwaltung
Sonderzahlungen des Arbeitgebers, die er anlässlich der
Überführung einer Mitarbeiterversorgung in eine
Zusatzversorgungskasse leistet, als steuerpflichtiger Arbeitslohn
beurteilt worden sind (BTDrucks 16/2712, 45 f.). Aufgrund dieser
feststehenden Verwaltungsübung ist nicht ersichtlich, dass das
FA im Streitfall bei rechtzeitiger Kenntnis um die Sonderzahlungen
an die aufnehmende Versorgungskasse und deren - anteilige -
Erfassung in den Lohnsteuerbescheinigungen des Klägers die
streitige Einkommensteuer niedriger festgesetzt hätte.
|
|
|
20
|
Folglich hätte die streitige
Änderung der Einkommensteuerbescheide 2001, 2002 und 2003
mangels Rechtserheblichkeit dieses Umstands nicht durchgeführt
werden dürfen. Damit war die Klage abzuweisen.
|