Die Beschwerde des Beklagten gegen den
Beschluss des Finanzgerichts Köln vom 17.01.2025 - 12 V
1324/24 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der
Beklagte zu tragen.
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I. Gegen die Antragstellerin und
Beschwerdegegnerin (Antragstellerin) erließ der Antragsgegner
und Beschwerdeführer (Finanzamt - FA - ) am 19.08.2020 einen
geänderten Einkommensteuerbescheid für 2017. Aufgrund des
erhöhten Ansatzes des Gewinnanteils an einer gewerblichen
Personengesellschaft ergab sich eine Nachzahlung von 182.382 EUR
Einkommensteuer und 9.945,81 EUR Solidaritätszuschlag zur
Einkommensteuer.
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Da die Personengesellschaft ein
Rechtsbehelfsverfahren gegen den ergangenen
Gewinnfeststellungsbescheid führte, gewährte das FA der
Antragstellerin am 01.09.2020 Aussetzung der Vollziehung (AdV)
für die Steuernachzahlung, zunächst ohne
Sicherheitsleistung. Am 15.02.2022 erließ es aufgrund des in
der AdV-Verfügung enthaltenen Widerrufsvorbehalts einen
geänderten AdV-Bescheid. Darin heißt es unter
anderem:
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„Sicherheitsleistung:
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Die Aussetzung der Vollziehung wird von
einer Sicherheitsleistung in Höhe von 108.000 EUR
abhängig gemacht (Rechtsgrundlage: § 361 Absatz 2 Satz 5
AO).
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Die Aussetzung der Vollziehung ist nur dann
weiter wirksam, wenn die Sicherheit erbracht ist. Die
möglichen Sicherheitsleistungen sind in §§ 241 bis
248 AO genannt (z.B. Wertpapiere, Sparbücher, Hypotheken,
Grundbucheintragungen). Um Ihnen Gelegenheit zu geben, geeignete
Sicherheiten zu stellen, werde ich bis zum 18.03.2022 von
Vollstreckungsmaßnahmen absehen.
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Die Anordnung der Sicherheitsleistung ist
aus folgenden Gründen erforderlich:
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(…)
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Beginn der Aussetzung der
Vollziehung:
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Die Vollziehung wird weiterhin ab
Fälligkeit ausgesetzt (sofern die Sicherheitsleistung erbracht
wird).“
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Am 09.03.2022 legte die Antragstellerin
Einspruch gegen den geänderten AdV-Bescheid ein. Zur
Begründung führte sie aus, die Adressaten - neben der
Antragstellerin führten mehrere weitere Mitglieder der Familie
der Antragstellerin gleichgelagerte Verfahren - könnten die
geforderten Sicherheiten mangels Liquidität nicht aufbringen.
Sie bot - für alle betroffenen Familienmitglieder zusammen -
die Eintragung einer Grundschuld auf dem Grundstück A an.
Dieses Grundstück stand im Eigentum einer Erbengemeinschaft,
der die Antragstellerin nicht angehörte. Das FA lehnte mit
Schreiben vom 22.04.2022 die Annahme der Grundschuld als Sicherheit
ab, da § 241 Abs. 1 Nr. 5 Buchst. a der Abgabenordnung (AO)
nur erstrangige Hypotheken, Grund- oder Rentenschulden als
Sicherheit vorsehe, das Grundstück A aber bereits belastet
sei, die angebotene Sicherheit also nicht erstrangig sein
könne. Zudem sei weder der Wert des Grundstücks noch die
Höhe der Belastungen belegt worden. Es bat die Antragstellerin
um Vorlage einer Vermögensauskunft.
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Am 23.05.2022 legte die Antragstellerin die
Vermögensauskunft vor. Daraus ergab sich, dass sie
Eigentümerin des Grundstücks B war. Hierzu reichte sie
ein auf den 14.11.2017 erstelltes Wertgutachten über einen
Verkehrswert von 1,2 Mio. EUR ein.
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Dieses Grundstück war bereits mit zwei
Grundschulden belastet. Deren Nennbeträge werden in den Akten
teils mit 700.000 EUR und 150.000 EUR angegeben
(Gesprächsnotiz des FA vom 30.06.2022 und Schreiben der
Antragstellerin vom 07.11.2024), teils mit 700.000 DM und 150.000
DM (Schreiben des FA vom 18.09.2024). Am 30.06.2022 trug die
Antragstellerin dem FA telefonisch vor, die erste Grundschuld
valutiere nur noch mit 340.000 EUR; der Sachverhalt zur zweiten
Grundschuld müsse noch geprüft werden. Das FA ließ
das Wertgutachten durch seinen Bausachverständigen
überprüfen.
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Am 08.08.2022 wies das FA den Einspruch
gegen den AdV-Widerrufsbescheid vom 15.02.2022 zurück. Es
setzte eine Nachfrist für die Zahlung der sich hieraus
ergebenden Gesamtbeträge bis zum 18.08.2022. Am 15.08.2022 bot
die Antragstellerin dem FA konkret die Eintragung einer Grundschuld
auf dem Grundstück B an, was das FA am 19.08.2022 ablehnte.
Hiergegen wandte sich die Antragstellerin mit Schreiben vom
25.08.2022. Sie wies darauf hin, dass eine Grundschuld angesichts
der hohen Kosten erst eingetragen werden könne, wenn klar sei,
dass das FA sie als Sicherheit akzeptieren werde. In der Folgezeit
kam es zu mehreren Telefongesprächen zwischen der
Antragstellerin und dem FA. Am 27.09.2022 und 06.10.2022
übermittelte die Antragstellerin dem FA Entwürfe zur
Grundschuldbestellung. Am 10.10.2022 erklärte das FA
telefonisch gegenüber der Antragstellerin, dass der Text laut
dem Schreiben vom 06.10.2022 akzeptiert werde.
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Am 20.12.2022 wurde die Belastung des
Grundstücks B mit einer Grundschuld zugunsten des FA im
Grundbuch eingetragen. Daraufhin gewährte das FA mit Bescheid
vom 09.01.2023 erneut AdV mit Wirkung ab dem 20.12.2022.
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In der Folgezeit vertrat das FA die
Auffassung, für die Zeit vom 19.03.2022 bis zum 19.12.2022
seien Säumniszuschläge entstanden (16.411,50 EUR
Säumniszuschläge zur Einkommensteuer 2017 und 891,00 EUR
Säumniszuschläge zum Solidaritätszuschlag zur
Einkommensteuer 2017). Auf Antrag der Antragstellerin erließ
das FA einen Abrechnungsbescheid, in dem unter anderem die
genannten Säumniszuschläge ausgewiesen sind.
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Hiergegen legte die Antragstellerin
Einspruch ein. Sie führte aus, die Steuernachforderungen
könnten angesichts der gesetzten Nachfrist erst am 19.08.2022
fällig geworden sein. Bis zum Erlass der
Einspruchsentscheidung vom 08.08.2022 sei unklar gewesen, ob das FA
an der Forderung nach einer Sicherheitsleistung festhalten
würde. Auch in der Folgezeit habe das FA die Frist zur
Bestellung der Sicherheit zumindest konkludent verlängert, da
es deren Annahme nicht endgültig abgelehnt habe. Zudem sei die
Höhe der Säumniszuschläge verfassungswidrig. Im
Hinblick auf den letztgenannten Gesichtspunkt ruht das
Einspruchsverfahren mit Zustimmung der Antragstellerin nach §
363 Abs. 2 AO.
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Nachdem das FA einen AdV-Antrag
hinsichtlich der Säumniszuschläge abgelehnt hatte,
beantragte die Antragstellerin beim Finanzgericht (FG) die
Gewährung von AdV. Zur Begründung führte sie
ergänzend aus, angesichts des Wortlauts des Bescheids vom
15.02.2022 habe sie davon ausgehen dürfen, dass die AdV ab
Fälligkeit gewährt werde, sofern die Sicherheitsleistung
erbracht werde. Das in diesem Bescheid genannte Datum 18.03.2022
könne nicht als Ausschlussfrist für die rechtswirksame
Umsetzung einer Sicherheitsleistung verstanden werden. Vielmehr
habe die Antragstellerin davon ausgehen können, dass bis zu
diesem Datum in Betracht kommende Sicherheiten zunächst
genannt werden sollten. Anschließend hätte die
Abstimmung zur konkreten Umsetzung vorgenommen werden können.
Selbst wenn es sich um eine Ausschlussfrist gehandelt haben sollte,
wäre sie nach § 125 Abs. 2 Nr. 2 AO nichtig, da sie aus
tatsächlichen Gründen von niemandem hätte befolgt
werden können. Die Antragstellerin habe innerhalb der
genannten Frist eine Sicherheit angeboten, die das FA erst nach
langer Verzögerung abgelehnt habe. Bis zum Fristablauf
hätte die Antragstellerin daher schon mangels Rückmeldung
des FA keine Sicherheit erbringen können.
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Das FG setzte mit seinem angefochtenen
Beschluss die Vollziehung des Abrechnungsbescheids in voller
Höhe aus. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit
des angefochtenen Verwaltungsakts bestünden schon deshalb,
weil mehrere Senate des Bundesfinanzhofs (BFH) in vergleichbaren
Fällen AdV wegen Zweifeln an der
Verfassungsmäßigkeit der Höhe der
Säumniszuschläge gewährt hätten. Es sei nicht
erkennbar, dass diese Senate ihre Zweifel aufgegeben hätten
oder ihre Rechtsprechung durch Entscheidungen anderer Senate des
BFH überholt sei.
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Die Antragstellerin habe auch ein
berechtigtes Interesse an der AdV-Gewährung, so dass
dahinstehen könne, ob ein solches Interesse in Fällen, in
denen AdV wegen verfassungsrechtlicher Zweifel an der
Gültigkeit einer Norm begehrt werde, überhaupt verlangt
werden könne. Zum einen gingen die Zweifel an der
Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts
vorliegend über dasjenige hinaus, was üblicherweise
für eine AdV-Gewährung für erforderlich gehalten
werde. Zum anderen sei weder dargelegt noch sonst ersichtlich, dass
eine AdV im Streitfall das öffentliche Interesse an einer
geordneten Haushaltsführung verletzen könne.
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Mit seiner vom FG zugelassenen Beschwerde,
der das FG nicht abgeholfen hat, bringt das FA vor, der X. Senat
des BFH habe in einer Entscheidung, die in einem
Hauptsacheverfahren ergangen sei, ausdrücklich
ausgeführt, dass damit die divergierenden Entscheidungen
anderer Senate überholt seien. Auch fehle das erforderliche
besondere Aussetzungsinteresse. Auf Seiten der Antragstellerin sei
kein besonderes Interesse über den bloßen
Zahlungsaufschub hinaus erkennbar. Demgegenüber würde
eine AdV-Gewährung zur faktischen Nichtanwendung des §
240 AO führen.
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Das FA beantragt
sinngemäß,
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den angefochtenen Beschluss aufzuheben und
den AdV-Antrag abzulehnen.
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Die Antragstellerin beantragt,
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die Beschwerde zurückzuweisen.
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Sie wiederholt und vertieft ihr bisheriges
Vorbringen.
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II. Das FG hat zu Unrecht ernstliche Zweifel
an der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Regelung
über die Höhe der Säumniszuschläge (§ 240
Abs. 1 Satz 1 AO) für die hier in Rede stehende Zeit ab
März 2022 bejaht (dazu unten 1.). Gleichwohl stellt sich die
vom FG ausgesprochene AdV-Gewährung aus anderen Gründen
im Ergebnis als richtig dar, da ernstliche Zweifel an der
Rechtmäßigkeit der Entscheidung des FA bestehen, die
Vollziehung abweichend von dem Wortlaut des geänderten
AdV-Bescheids vom 15.02.2022 trotz Erbringung der
Sicherheitsleistung nicht weiterhin ab Fälligkeit auszusetzen
(unten 2.).
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1. Entgegen der Auffassung des FG bestehen
aufgrund des ab Februar 2022 markant und nachhaltig gestiegenen
Zinsniveaus jedenfalls ab März 2022 auch dann, wenn man auf
einen teilweisen Gegenleistungscharakter der
Säumniszuschläge abstellen wollte, keine ernstlichen
Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Höhe der
Säumniszuschläge, hier in Gestalt eines Verstoßes
gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 des
Grundgesetzes durch Vornahme einer nicht realitätsgerechten
Typisierung.
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a) Nach § 69 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 Satz 2
der Finanzgerichtsordnung (FGO) ist die Vollziehung eines
angefochtenen Verwaltungsakts ganz oder teilweise auszusetzen, wenn
ernstliche Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit bestehen
oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige
Härte zur Folge hätte.
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Ernstliche Zweifel im Sinne von § 69 Abs.
2 Satz 2 FGO liegen vor, wenn bei summarischer Prüfung des
angefochtenen Bescheids neben für seine
Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige
Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit
in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der
Beurteilung entscheidungserheblicher Tatfragen bewirken. Die
Entscheidung hierüber ergeht bei der im AdV-Verfahren
gebotenen summarischen Prüfung aufgrund des Sachverhalts, der
sich aus dem Vortrag der Beteiligten und der Aktenlage ergibt. Zur
Gewährung der AdV ist es nicht erforderlich, dass die für
die Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe im Sinne einer
Erfolgswahrscheinlichkeit überwiegen. Ernstliche Zweifel an
der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts
können auch auf verfassungsrechtlichen Zweifeln hinsichtlich
einer dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm
beruhen (ständige Rechtsprechung; vgl. aus jüngerer Zeit
BFH-Beschluss vom 28.10.2022 - VI B 15/22 (AdV), BFHE 278, 27,
BStBl II 2023, 12 = SIS 22 19 76, Rz 15, m.w.N.).
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b) Der VII. Senat des BFH hat in
Entscheidungen zur Hauptsache die Verfassungsmäßigkeit
der gesetzlichen Regelung über die Höhe der
Säumniszuschläge für Zeiträume bis
einschließlich 2017 bejaht (BFH-Urteile vom 23.08.2022 - VII
R 21/21, BFHE 278, 1, BStBl II 2023, 304 = SIS 23 02 31 und vom
15.11.2022 - VII R 55/20, BFHE 278, 403, BStBl II 2023, 621 = SIS 23 05 18). Da die tragenden Gründe dieser Entscheidungen
gleichermaßen für die Zeit ab 2019 gelten, hat der
beschließende Senat - ebenfalls in einer
Hauptsacheentscheidung - die Verfassungsmäßigkeit auch
für Zeiträume, die in den Jahren ab 2019 liegen, bejaht
(BFH-Urteil vom 23.08.2023 - X R 30/21, BFHE 282, 195, BStBl II
2024, 215 = SIS 24 00 42, Rz 48 ff.). Zudem haben mehrere Senate
des BFH in zwischenzeitlichen AdV-Entscheidungen ernstliche Zweifel
an der Verfassungsmäßigkeit der Höhe der
Säumniszuschläge für Zeiträume ab 2019 verneint
(BFH-Beschlüsse vom 28.10.2022 - VI B 15/22 (AdV), BFHE 278,
27, BStBl II 2023, 12 = SIS 22 19 76, Rz 17 ff.; vom 13.09.2023 - X
B 52/23 (AdV), BFHE 281, 500, BStBl II 2023, 1102 = SIS 23 17 34;
vom 13.09.2023 - XI B 38/22 (AdV), BFHE 282, 213, BStBl II 2024,
214 = SIS 24 00 31; vom 13.09.2023 - XI B 52/22 (AdV), BFH/NV 2024,
273 = SIS 24 00 27 und vom 16.10.2023 - V B 49/22 (AdV), BFHE 281,
509, BStBl II 2024, 97 = SIS 23 17 68) und eine grundsätzliche
Bedeutung der Frage der Verfassungsmäßigkeit sowie eine
Divergenz innerhalb der BFH-Rechtsprechung verneint
(Senatsbeschluss vom 17.07.2024 - X B 79/23, BFH/NV 2024, 1144 =
SIS 24 12 35).
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c) Selbst wenn man aber - anders als der
beschließende Senat - darauf abstellen wollte, dass
Säumniszuschläge auch einen Gegenleistungscharakter haben
und dann die Grundsätze des zur Höhe der
Nachzahlungszinsen ergangenen Beschlusses des
Bundesverfassungsgerichts vom 08.07.2021 - 1 BvR 2237/14, 1 BvR
2422/17 (BVerfGE 158, 282 = SIS 21 14 23) für übertragbar
hielte (so BFH-Beschluss vom 22.09.2023 - VIII B 64/22 (AdV), DStR
kurzgefaßt 2023, 335 = SIS 23 16 33), wäre dies durch
die zwischenzeitlich eingetretene Entwicklung auf den Geld- und
Kapitalmärkten überholt. Denn mit dem Beginn des
russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine im Februar 2022 und
den dadurch auch in der Bundesrepublik Deutschland ausgelösten
wirtschaftlichen Verwerfungen hat sich die Lage auf den Geld- und
Kapitalmärkten grundlegend verändert. Der Kriegsbeginn
hat eine klare und sogleich für jeden erkennbare Ursache
dafür gesetzt, dass die Zinssätze in der Folgezeit
deutlich und sehr schnell gestiegen sind. Die ausgeprägte
Niedrigzinsphase der Vorjahre hatte damit ein Ende gefunden. Dieses
gestiegene Zinsniveau hat bis heute Bestand; es handelt sich also
nicht um eine kurzfristige Schwankung des Marktzinses, sondern um
eine grundlegende - und damit im Rahmen einer etwaigen Prüfung
der Angemessenheit der gesetzlichen Typisierung eines Zinssatzes zu
berücksichtigende - Änderung der Verhältnisse.
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Nach den Daten der Deutschen Bundesbank
(www.bundesbank.de/de/statistiken) haben sich die nachfolgend
genannten wesentlichen Marktzinssätze zwischen dem Monat, in
dem der russische Überfall auf die Ukraine begonnen hat
(Februar 2022) und dem Ende des Monats, für den das FA im
Streitfall von der Verwirkung von Säumniszuschlägen
ausgeht (Dezember 2022) wie folgt entwickelt, wobei die
Zinssätze während dieses Zeitraums stetig angestiegen
sind:
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Selbst wenn ein abgrenzbarer Teilbetrag der
Säumniszuschläge als Gegenleistung für einen
Liquiditätsgewinn des Steuerpflichtigen beziehungsweise einen
Liquiditätsverlust des Fiskus anzusehen sein sollte,
könnte die Bemessung dieses Teilbetrags daher jedenfalls
für den hier streitgegenständlichen Zeitraum ab März
2022 nicht mehr als realitätsfremd angesehen werden.
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2. Auch wenn der Senat die gesetzliche
Regelung über die Höhe der Säumniszuschläge
danach für verfassungsgemäß hält, bestehen im
Streitfall gleichwohl ernstliche Zweifel an der
Rechtmäßigkeit der im angefochtenen Abrechnungsbescheid
dokumentierten Entscheidung des FA, die Antragstellerin habe
für die Zeit vom 19.03.2022 bis zum 19.12.2022
Säumniszuschläge verwirkt.
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a) Wird eine Steuer nicht bis zum Ablauf des
Fälligkeitstages entrichtet, so ist für jeden
angefangenen Monat der Säumnis ein Säumniszuschlag von 1
% des abgerundeten rückständigen Steuerbetrags zu
entrichten; abzurunden ist auf den nächsten durch 50 EUR
teilbaren Betrag (§ 240 Abs. 1 Satz 1 AO).
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b) Die Fälligkeit der sich aus dem
Bescheid vom 19.08.2020 ergebenden Nachzahlungen zur
Einkommensteuer 2017 und zum Solidaritätszuschlag zur
Einkommensteuer 2017 war durch die AdV-Verfügung vom
01.09.2020 zunächst aufgeschoben. Mit dem geänderten
AdV-Bescheid vom 15.02.2022 ist die Fortdauer der AdV zwar unter
die aufschiebende Bedingung der Erbringung einer
Sicherheitsleistung in Höhe von 108.000 EUR nach näherer
Maßgabe der Regelungen der §§ 241 bis 248 AO
gestellt worden. Es heißt dort aber ausdrücklich:
„Die Vollziehung wird weiterhin ab Fälligkeit ausgesetzt
(sofern die Sicherheitsleistung erbracht
wird).“ Diese Formulierung ist für sich
genommen eindeutig: Sofern die geforderte Sicherheitsleistung
erbracht wird - was hier mit Eintragung der Grundschuld im
Grundbuch am 20.12.2022 geschehen ist -, wird die Vollziehung
weiterhin ab Fälligkeit ausgesetzt. Säumniszuschläge
sind dann bei rückblickender Betrachtung nicht entstanden.
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c) Diese vom Wortlaut des Bescheids ausgehende
Auslegung steht im Einklang mit den von der
höchstrichterlichen Rechtsprechung aufgestellten
Grundsätzen über den Zeitpunkt, zu dem eine AdV wirksam
wird, die das FA von der Erbringung einer Sicherheitsleistung
abhängig macht. So heißt es im BFH-Beschluss vom
10.12.1986 - I B 121/86 (BFHE 149, 6, BStBl II 1987, 389 = SIS 87 09 51, unter II.3.d), wenn eine Sicherheit entsprechend der
AdV-Verfügung geleistet werde, trete die AdV - soweit etwas
anderes nicht verfügt worden sei - ab dem Zeitpunkt ein, in
dem die Verfügung Rechtswirksamkeit erlangt habe. Für den
Regelfall bedeute dies, dass die Sicherheitsleistung zuvor
entstandene Säumniszuschläge in Wegfall geraten lasse
(hierauf Bezug nehmend ferner BFH-Beschluss vom 30.08.1989 - I B
39/89, BFH/NV 1990, 161 = SIS 90 04 21, unter II.1.).
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d) Dem steht nicht entgegen, dass die vom
Gesetzgeber in § 361 Abs. 2 Satz 5 AO gewählte
Formulierung, wonach die AdV von einer Sicherheitsleistung
„abhängig gemacht werden“ kann,
eine aufschiebende Bedingung im Sinne des § 120 Abs. 2 Nr. 2
AO bedeutet (BFH-Beschlüsse vom 20.06.1979 - IV B 20/79, BFHE
128, 306, BStBl II 1979, 666 = SIS 79 03 38, unter 2.b und vom
12.05.2000 - VI B 266/98, BFHE 192, 1, BStBl II 2000, 536 = SIS 00 11 93, unter II.10.), die Wirkungen der AdV damit nur und erst dann
eintreten, wenn der Steuerpflichtige die Sicherheit leistet und die
getroffene Verfügung ins Leere geht, wenn der Steuerpflichtige
die Sicherheitsleistung nicht innerhalb der von der
Finanzbehörde gesetzten Frist erbringt (BFH-Beschluss vom
19.02.2018 - II B 75/16, BFH/NV 2018, 706 = SIS 18 06 94, Rz 24).
Denn eine aufschiebende Bedingung hat zwar im Regelfall zur Folge,
dass die von der Bedingung abhängig gemachte Wirkung (erst)
mit dem Eintritt der Bedingung beginnt (§ 158 Abs. 1 des
Bürgerlichen Gesetzbuchs - BGB - ). § 159 BGB sieht aber
ausdrücklich vor, dass die Beteiligten, wenn nach dem Inhalt
des Rechtsgeschäfts die an den Eintritt der Bedingung
geknüpften Folgen auf einen früheren Zeitpunkt
zurückbezogen werden sollen, im Fall des Eintritts der
Bedingung verpflichtet sind, einander zu gewähren, was sie
haben würden, wenn die Folgen in dem früheren Zeitpunkt
eingetreten wären. So liegt es hier, da das FA in dem
geänderten AdV-Bescheid ausgesprochen hat, im Fall der
Erbringung der Sicherheitsleistung werde die Vollziehung
„weiterhin“ ab Fälligkeit
ausgesetzt. Damit hat das FA ausgesprochen, dass die Folgen des
Eintritts der Bedingung (Erbringung der Sicherheitsleistung) auf
einen früheren Zeitpunkt zurückbezogen werden sollen.
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e) Nach den Grundsätzen der vorstehend
unter c angeführten BFH-Rechtsprechung hat das FA zwar die
Möglichkeit, im Einzelfall einen anderen Wirksamkeitszeitpunkt
der AdV zu verfügen (Ende der zuvor gewährten AdV einen
Monat nach Bekanntgabe des geänderten AdV-Bescheids;
Wirksamwerden einer erneuten AdV erst mit Erbringung der
Sicherheitsleistung). Bei Anwendung des im summarischen Verfahren
gebotenen Maßstabs bestehen aber jedenfalls ernstliche
Zweifel daran, ob dies vorliegend mit der erforderlichen
Eindeutigkeit geschehen ist. Denn der Ausspruch, die Vollziehung
werde weiterhin ab Fälligkeit ausgesetzt, sofern die
Sicherheitsleistung erbracht werde, ist für sich genommen
eindeutig. Hieran ändert sich nichts dadurch, dass es im
vorangehenden Text des Bescheids heißt, das FA werde bis zum
18.03.2022 von Vollstreckungsmaßnahmen absehen. Denn für
den Fall, dass eine Sicherheitsleistung bis zum genannten Termin
18.03.2022 nicht erbracht sein würde, trat zunächst ein
Schwebezustand ein, für dessen Dauer
Vollstreckungsmaßnahmen - mangels Erbringung der
Sicherheitsleistung und daher aktuell nicht gegebener AdV - zwar
zulässig waren. Dieser Schwebezustand war aber darauf
angelegt, durch Erbringung der geforderten Sicherheitsleistung
beendet zu werden. Für diesen Fall hatte das FA ausgesprochen,
dass die Vollziehung „weiterhin ab Fälligkeit
ausgesetzt“ werde. Damit sind die beiden im
Bescheid getroffenen Aussagen - einerseits die Ankündigung,
dass ab dem 18.03.2022 Vollstreckungsmaßnahmen möglich
sind, sofern keine Sicherheitsleistung erbracht werde; andererseits
die Zusage, dass im Fall der Leistung einer Sicherheit weiterhin
AdV ab Fälligkeit gewährt werde - widerspruchslos
miteinander vereinbar.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf §
135 Abs. 2 FGO.
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