Die Revision des Beklagten gegen das Urteil
des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 9.10.2014 5 K 5225/12 =
SIS 14 33 67 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der
Beklagte zu tragen.
1
|
I. Die Beteiligten streiten darüber,
ob die in 2008 (Streitjahr) erfolgte Veräußerung des
hälftigen Miteigentumsanteils am X-Buch (Buch) an eine in
London ansässige Galerie als innergemeinschaftliche Lieferung
steuerfrei ist.
|
|
|
2
|
Der Kläger und Revisionsbeklagte
(Kläger) betreibt einen Handel mit Kunstgegenständen.
Nachdem er am 3.7.2008 auf einer Auktion in München das Buch
ersteigert hatte, verkaufte er am 11.7.2008 einen Anteil von 50 %
an dem Buch („50% share“) an die in London
ansässige Y-Galery (Galerie) zu einem Preis von 65.484 EUR. In
der Rechnung vom 11.7.2008 wird weder Umsatzsteuer ausgewiesen noch
enthält die Rechnung einen Hinweis auf eine Steuerfreiheit. Am
30.10.2012 berichtigte der Kläger die Rechnung
gemäß § 31 Abs. 5 der
Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung (UStDV) durch die Angabe:
„Der Umsatz ist gemäß § 4 Nr. 1b, § 6a
UStG als innergemeinschaftliche Lieferung
steuerfrei.“
|
|
|
3
|
Der Galerist JF holte das Buch in
München ab und transportierte es im Handgepäck nach
London. Dort wurde das Buch begutachtet und ausgestellt. Im
März 2010 verkaufte es die Galerie an eine amerikanische
Sammlung.
|
|
|
4
|
Am 1.5.2010 verkaufte der Kläger auch
die bei ihm verbliebene (50 %ige) Beteiligung am Buch zu einem
Kaufpreis von 240.000 EUR an die Galerie. Auch diese
Veräußerung behandelte der Kläger als steuerfreie
innergemeinschaftliche Lieferung.
|
|
|
5
|
Der Beklagte und Revisionskläger (das
Finanzamt - FA - ) führte am 5.11.2010 eine
Umsatzsteuer-Sonderprüfung beim Kläger durch. Nach dem
Bericht vom 15.7.2011 (Tz. 15) ging die Prüferin davon aus, JF
sei im Streitjahr nicht nur ein Anteil am Werk
veräußert, sondern Verfügungsmacht am gesamten Werk
eingeräumt worden, da ihm das Buch zur Verwertung
überlassen worden sei. Es sei offensichtlich, dass JF die
Fähigkeit gehabt habe, das Werk zu veräußern. Dies
ergebe sich aus der Tatsache, dass er das Buch bereits vor dem
Verkauf des restlichen Anteils von 50 % an dem Werk
weiterveräußert habe und nicht zur Offenlegung des
Kunden verpflichtet sei. Die Veräußerung der Beteiligung
an dem Buch sei im Inland steuerbar, aber steuerpflichtig, weil der
Kläger den Belegnachweis nicht geführt habe. Durch die
Rechnung vom 1.5.2010 in Höhe von 240.000 EUR sei es zu einer
im Streitjahr zu berücksichtigenden Änderung der
Bemessungsgrundlage gekommen. Diese betrage daher 285.499
EUR.
|
|
|
6
|
Den Feststellungen der
Umsatzsteuer-Sonderprüfung folgend erließ das FA am
18.8.2011 einen geänderten Umsatzsteuerbescheid 2008 und hob
den Vorbehalt der Nachprüfung auf.
|
|
|
7
|
Dem dagegen eingelegten Einspruch half das
FA mit dem Änderungsbescheid vom 29.6.2012 (Anlage zur
Einspruchsentscheidung) insoweit ab, als es die Bemessungsgrundlage
für die dem ermäßigten Steuersatz unterliegenden
Umsätze um 224.299 EUR (240.000 EUR ./. 15.701 EUR) minderte.
Die Änderung der Bemessungsgrundlage sei nicht im Streitjahr
eingetreten, sondern im Zeitraum der Rechnungserteilung am 1.5.2010
und werde daher im 2. Quartal 2010 erfasst. Im Übrigen wies
das FA den Einspruch durch die Einspruchsentscheidung vom 29.6.2012
als unbegründet zurück.
|
|
|
8
|
Im Klageverfahren vertrat das FA - entgegen
seiner bisherigen Ansicht - die Auffassung, dass es sich bei der
Veräußerung der Miteigentumsanteile nicht um
Lieferungen, sondern um sonstige Leistungen handele. Die im
Streitjahr erbrachte Leistung sei nach § 3a Abs. 1 des
Umsatzsteuergesetzes in der für das Streitjahr gültigen
Fassung (UStG) an dem Ort ausgeführt worden, von dem aus der
Unternehmer sein Unternehmen betreibe und damit im Inland steuerbar
und steuerpflichtig. Bei der zweiten Veräußerung des
Miteigentumsanteils liege der Ort der Leistung dagegen - nach der
gesetzlichen Neuregelung durch § 3a Abs. 2 UStG in der ab
1.1.2010 geltenden Fassung - in London, sodass diese nicht mehr im
Inland steuerbar sei. Dem Einspruch gegen die entsprechende
Steuerfestsetzung 2010 werde daher abgeholfen.
|
|
|
9
|
Mit dem nach § 174 Abs. 4 der
Abgabenordnung (AO) geänderten Bescheid vom 15.3.2013
erhöhte das FA im Klageverfahren die Umsatzsteuerfestsetzung
auf 6.248,37 EUR. Da die sonstige Leistung dem Regelsteuersatz
unterliege, betrage die Bemessungsgrundlage nicht 61.200 EUR,
sondern 55.028 EUR.
|
|
|
10
|
Auf Nachfrage des Finanzgerichts (FG) in
der mündlichen Verhandlung vom 9.10.2014 erklärte der
Vertreter des FA, dass das direkte Verbringen des Buches von
München nach London nicht bestritten werde. Der
Prozessbevollmächtigte des Klägers gab an, bei der
Veräußerung des Miteigentumsanteils im Jahr 2008 sei
bereits angedacht gewesen, dass die Galerie in London das Buch
weiterveräußere.
|
|
|
11
|
Die Klage hatte aus den in EFG 2015, 166 =
SIS 14 33 67 abgedruckten Gründen Erfolg. Das FG qualifizierte
die Veräußerung des Miteigentumsanteils als Lieferung.
Diese sei steuerfrei, weil objektiv feststehe, dass der
veräußerte Miteigentumsanteil nach Großbritannien
verbracht wurde.
|
|
|
12
|
Mit seiner Revision macht das FA die
Verletzung von Bundesrecht (§ 3 Abs. 1 und 9, § 3a Abs. 1
UStG) geltend. Die Veräußerung des Miteigentumsanteils
an dem Buch stelle keine Lieferung i.S. des § 3 Abs. 1 UStG
dar. Bei dem umsatzsteuerrechtlichen Liefergegenstand müsse es
sich um eine einheitliche unteilbare Sache als Ganzes handeln.
Daran fehle es bereits faktisch bei einem Miteigentumsanteil an
einem Buch, da der Liefergegenstand (Anteil am Buch) nicht nach
Art, Güte, Beschaffenheit, Menge oder Gewicht hinreichend
konkretisiert werden könne. Das Wesen derartiger
Übertragungsvorgänge liege in der Übertragung eines
Rechts und nicht in der Verschaffung der Verfügungsmacht an
einer einheitlichen Sache als Ganzes. Es sei schwer vorstellbar,
wie an einem „virtuellen Gebilde“, wie es ein
Miteigentumsanteil darstelle, faktisch die Verfügungsmacht
verschafft werden könne.
|
|
|
13
|
Entgegen den Ausführungen des FG sei
dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften
(EuGH) vom 15.12.2005 C-63/04 Centralan Property Ltd.
(EU:C:2005:773) nicht zu entnehmen, dass die Übertragung eines
Miteigentumsanteils (§§ 1008 ff., 741 ff. des
Bürgerlichen Gesetzbuchs - BGB - ) zwingend die Lieferung
eines Gegenstands darstelle. Dieser Entscheidung habe keine
Übertragung eines Miteigentumsanteils zugrunde gelegen.
Vielmehr betreffe die Entscheidung eine Konstellation im englischen
Zivilrecht, die eher dem deutschen Erbbaurecht als dem Miteigentum
vergleichbar sei. Konkret sei es um eine zeitliche Verteilung der
Eigentumsrechte und nicht um gleichzeitige Nutzungsrechte wie beim
Miteigentum nach deutschem Zivilrecht gegangen. Mit diesen
Besonderheiten des Sachverhalts der EuGH-Entscheidung habe sich das
FG nicht auseinandergesetzt.
|
|
|
14
|
Das FA beantragt, das Urteil des FG
Berlin-Brandenburg vom 9.10.2014 5 K 5225/12 aufzuheben und die
Klage abzuweisen.
|
|
|
15
|
Der Kläger beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
|
|
|
16
|
Durch die Übertragung des
Miteigentumsanteils und durch die Inbesitznahme des Buches durch
den Erwerber habe die faktische Verfügungsmacht beim Erwerber
gelegen. Der Hinweis des FA, dass es sich bei dem vom EuGH zu
entscheidenden Fall um einen gänzlich anderen Sachverhalt
handele, gehe ins Leere. Denn der EuGH habe entschieden, dass der
Begriff der „Lieferung eines Gegenstandes“ jede
Übertragung eines Gegenstands durch eine Partei umfasse, die
eine andere Partei ermächtige, über diesen Gegenstand
faktisch so zu verfügen, als wäre dieser Eigentümer,
also auch den Miteigentumsanteil.
|
|
|
17
|
II. Die Revision des FA ist unbegründet
und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ). Das FA war zwar zum Erlass des
Umsatzsteuer-Änderungsbescheids 2008 vom 15.3.2013 berechtigt,
die Übertragung des Miteigentumsanteils an dem Buch stellt
jedoch - wie das FG zu Recht entschieden hat - eine Lieferung dar,
die nach § 4 Nr. 1 Buchst. b i.V.m. § 6a UStG steuerfrei
ist.
|
|
|
18
|
1. Das FA war nach § 132 AO i.V.m. §
174 Abs. 4 AO - auch noch im Rahmen des Klageverfahrens - zum
Erlass des Umsatzsteuer-Änderungsbescheids 2008 vom 15.3.2013
berechtigt.
|
|
|
19
|
a) Die Vorschriften über die Aufhebung
und Änderung von Verwaltungsakten gelten auch während
eines finanzgerichtlichen Verfahrens (§ 132 AO), sodass eine
nach dem Gesetz bestehende Änderungsmöglichkeit durch ein
schwebendes finanzgerichtliches Verfahren nicht eingeschränkt
wird.
|
|
|
20
|
b) Diese gesetzliche
Änderungsmöglichkeit besteht vorliegend nach § 174
Abs. 4 AO. Ist aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten
Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen, der aufgrund eines
Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen durch die
Finanzbehörde zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert
wird, so können nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO aus dem
Sachverhalt nachträglich durch Erlass oder Änderung eines
Steuerbescheids die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen
werden.
|
|
|
21
|
c) Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall
vor:
|
|
|
22
|
aa) Der „bestimmte
Sachverhalt“ als maßgeblicher Lebensvorgang besteht
vorliegend in der jeweils hälftigen Veräußerung des
Buches in 2008 und 2010. Diesen Sachverhalt berücksichtigte
das FA nicht nur im Streitjahr, sondern erfasste ihn auch im 2.
Quartal 2010 als eine dem ermäßigten Steuersatz
unterliegende Lieferung.
|
|
|
23
|
bb) Die Beurteilung des FA erweist sich
insoweit als irrig, als es unter Berücksichtigung von Abschn.
3.5 Abs. 3 Nr. 2 des Umsatzsteuer-Anwendungserlasses (UStAE) und
der höchstrichterlichen Rechtsprechung (Urteil des
Bundesfinanzhofs - BFH - vom 27.4.1994 XI R 91-92/92, BFHE 174,
559, BStBl II 1994, 826 = SIS 94 18 21, unter II.1., Rz 15, m.w.N.)
von einer sonstigen Leistung ausgehen musste und die
Übertragung des Bruchteilseigentums in 2010 dann nicht mehr
steuerbar ist (§ 3a Abs. 2 UStG). Die Umsatzsteuerfestsetzung
2010 wurde daher aufgrund eines Rechtsbehelfs des Klägers
geändert und eine Besteuerung im Veranlagungszeitraum 2010
unterlassen.
|
|
|
24
|
cc) Rechtsfolge ist, dass das FA -
korrespondierend zur Änderung des sog. Ausgangsbescheids in
2010 - die richtigen steuerlichen Konsequenzen ziehen und den
streitgegenständlichen Änderungsbescheid erlassen durfte.
Die im Verhältnis zum Ausgangsbescheid richtige steuerliche
Konsequenz besteht darin, die Übertragung des
Miteigentumsanteils als sonstige Leistung dem Regelsteuersatz zu
unterwerfen.
|
|
|
25
|
Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass
der Steuerbescheid infolge der irrigen Beurteilung
unrechtmäßig sein muss und daher eine lediglich von der
Behörde angenommene, tatsächlich aber nicht bestehende
Unrichtigkeit die Anwendbarkeit des § 174 Abs. 4 AO nicht
rechtfertige (BFH-Urteil vom 4.3.2009 I R 1/08, BFHE 225, 312,
BStBl II 2010, 407 = SIS 09 26 31, Rz 54, unter Hinweis auf von
Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO § 174 Rz 95, sowie FG
Düsseldorf, Urteil vom 17.3.1998 9 K 1307/95 G, EFG 1998,
1308). Der Fall einer lediglich subjektiven Unrichtigkeit liegt
hier nicht vor, weil das FA mit der bisherigen BFH-Rechtsprechung
von einer sonstigen Leistung ausgehen konnte.
|
|
|
26
|
dd) Einer Änderung nach § 174 Abs. 4
AO steht das Verböserungsverbot des § 367 Abs. 2 Satz 2
AO nicht entgegen, da es sich bei der Änderung nach § 174
Abs. 4 AO nicht um eine Entscheidung im Rechtsbehelfsverfahren,
sondern um eine eigenständige Änderung handelt
(BFH-Urteile vom 19.5.2005 IV R 17/02, BFHE 209, 384, BStBl II
2005, 637 = SIS 05 25 39, sowie vom 26.10.1989 IV R 25/88, BFHE
159, 37, BStBl II 1990, 373 = SIS 90 05 14). Dasselbe gilt für
das finanzgerichtliche Verböserungsverbot. Dieses verwehrt dem
FG lediglich, den Kläger bezogen auf die mit der Klage
angegriffene Steuerfestsetzung schlechter zu stellen (BFH-Urteil
vom 13.6.2012 VI R 92/10, BFHE 237, 302, BStBl II 2013, 139 = SIS 12 25 21, unter II.4.a, m.w.N.).
|
|
|
27
|
2. Die Übertragung des hälftigen
Miteigentumsanteils an dem Buch stellt eine Lieferung dar.
|
|
|
28
|
a) Lieferungen eines Unternehmers sind nach
§ 3 Abs. 1 UStG Leistungen, durch die er oder in seinem
Auftrag ein Dritter den Abnehmer oder in dessen Auftrag einen
Dritten befähigt, im eigenen Namen über einen Gegenstand
zu verfügen (Verschaffung der Verfügungsmacht).
Unionsrechtlich beruht § 3 Abs. 1 UStG auf Art. 14 Abs. 1 der
Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das
gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL), der die Lieferung von
Gegenständen als Übertragung der Befähigung
definiert, wie ein Eigentümer über einen
körperlichen Gegenstand zu verfügen.
|
|
|
29
|
b) Die bisherige Rechtsprechung des V. und des
XI. Senats des BFH (zuletzt im BFH-Urteil in BFHE 174, 559, BStBl
II 1994, 826 = SIS 94 18 21, unter II.1., Rz 15, davor in den
BFH-Urteilen vom 22.6.1967 V 185/63, BFHE 89, 366, BStBl III 1967,
662 = SIS 67 04 13; vom 18.1.1968 V 28/65, BFHE 91, 502, DB 1968,
966, und vom 20.6.1968 V 116/65, BFHE 93, 291, BStBl II 1968, 788 =
SIS 68 05 46), die Finanzverwaltung (Abschn. 3.5 Abs. 3 Nr. 2
UStAE) sowie Teile des Schrifttums (Birkenfeld in
Birkenfeld/Wäger, Umsatzsteuer-Handbuch, § 94 Rz 161;
Husmann in Rau/Dürrwächter, UStG, § 1 Rz E 77) sind
der Auffassung, dass es sich bei der Übertragung eines
Miteigentumsanteils an einem Gegenstand um eine sonstige Leistung
handele.
|
|
|
30
|
c) Unter Aufgabe seiner bisherigen
Rechtsprechung und nach Zustimmung des XI. Senats des BFH
(Beschluss vom 16.12.2015 XI ER-S 3/15) zur Abweichung von seiner
bisherigen Rechtsprechung in dem Urteil in BFHE 174, 559, BStBl II
1994, 826 = SIS 94 18 21 geht der erkennende Senat davon aus, dass
der Miteigentumsanteil an einem Gegenstand geliefert wird.
|
|
|
31
|
aa) Eine Beurteilung der Übertragung des
Miteigentumsanteils an einem Gegenstand als sonstige Leistung
wäre nicht mit dem Unionsrecht vereinbar: Nach Art. 12 Abs. 1
Buchst. a sowie Art. 135 Abs. 1 Buchst. j und Art. 137 Abs. 1
Buchst. b MwStSystRL können nicht nur Gebäude, sondern
auch „Gebäudeteile“ Gegenstand einer
Lieferung sein. Dies setzt voraus, dass in Bezug auf einen
Gegenstand gleichzeitig mehrere Lieferungen bewirkt werden
können. Dementsprechend hat der EuGH in dem Urteil Centralan
Property Ltd. (EU:C:2005:773 = SIS 06 06 85) sowohl die
Einräumung eines Besitzrechts an einem bebauten
Grundstück als auch die eng damit verbundene Übertragung
des „Resteigentums“ an einen anderen Erwerber
jeweils als Lieferung beurteilt (EuGH-Urteil Centralan Property
Ltd., EU:C:2005:773, Rz 26/27 und Rz 64). Die Aufspaltung der
Verfügungsmacht an einem körperlichen Gegenstand mit der
Folge, dass mehrere Personen das Recht innehaben, über einen
Gegenstand wie ein Eigentümer zu verfügen, entspricht
damit der Rechtsposition eines Miteigentümers, der nach §
747 Satz 1 BGB über seinen Miteigentumsanteil frei
verfügen kann. Miteigentum nach Bruchteilen ist seinem Wesen
nach dem Alleineigentum gleichartig, sodass der Miteigentümer
dieselbe Rechtsposition hat wie ein Eigentümer (Urteil des
Bundesgerichtshofs vom 10.5.2007 V ZB 6/07, BGHZ 172, 209, unter
III.3.a).
|
|
|
32
|
bb) Bestätigt wird diese Auffassung
dadurch, dass das Miteigentum als Bruchteil an einem
körperlichen Gegenstand - ebenso wie das Volleigentum als
dessen wesensgleiches Minus - im Wirtschaftsleben wie ein
körperlicher Gegenstand behandelt wird (Stadie, UStG, 3.
Aufl., § 3 Rz 7; Nieskens in Rau/Dürrwächter,
Umsatzsteuergesetz, § 3 Rz 1455; Frye in
Rau/Dürrwächter, a.a.O., § 6a Rz 138).
|
|
|
33
|
cc) Dementsprechend wird im Schrifttum ganz
überwiegend die Auffassung vertreten, dass ein
Miteigentumsanteil an einer Sache „Gegenstand“
einer Lieferung sein könne (vgl. Heuermann in
Sölch/Ringleb, § 3 Rz 312; Martin in Sölch/Ringleb,
§ 3 Rz 43; Nieskens in Rau/Dürrwächter, a.a.O.,
§ 3 Rz 1455; Frye in Rau/Dürrwächter, a.a.O., §
6a Rz 138; Leipold, in Sölch/Ringleb, § 4 Nr. 28 Rz 3;
Leonard in Bunjes, § 3 Rz 39; Lippross, Umsatzsteuer, 23.
Aufl., 2.3.2a; Stadie, a.a.O., § 3 Rz 7; Hahn in
Weymüller, Umsatzsteuergesetz, § 3 Rz 57.1; FG
Niedersachsen, Urteil vom 13.12.2012 16 K 305/12, DStRE 2014, 163 =
SIS 13 27 05; Ruppe/Achatz, Kommentar zum österreichischen
Umsatzsteuergesetz, 4. Aufl., § 3 Rz 25, unter Hinweis auf das
Urteil des Verwaltungsgerichtshofs vom 20.10.2004 2000/14/0185,
Beilage zur Österreichischen Steuer-Zeitung 2005, 255 zum sog.
time sharing).
|
|
|
34
|
d) Im Streitfall übertrug die
Klägerin der Galerie die Befugnis, über das Buch wie ein
Miteigentümer zu verfügen. Dies ergibt sich insbesondere
daraus, dass JF als Betreiber der Galerie nicht nur Besitz am Buch
eingeräumt wurde, sondern diesem auch gestattet war, das Buch
begutachten und kunsthistorisch erforschen zu lassen. Im Hinblick
darauf, dass bereits bei der Veräußerung des
Miteigentumsanteils ein Weiterverkauf durch die Galerie
beabsichtigt war, durfte diese das Buch in einem Verkaufskatalog
anbieten und schließlich sogar im März 2010
weiterverkaufen, obwohl sie erst durch den Kauf des restlichen
Anteils von 50 % vom 1.5.2010 zur alleinigen Eigentümerin am
Buch wurde.
|
|
|
35
|
3. Bei der Veräußerung des
hälftigen Miteigentumsanteils handelt es sich, wie das FG zu
Recht entschieden hat, um eine nach § 4 Abs. 1 Buchst. b UStG
i.V.m. § 6a UStG steuerfreie innergemeinschaftliche
Lieferung.
|
|
|
36
|
a) Nach § 4 Nr. 1 Buchst. b UStG i.V.m.
§ 6a Abs. 1 Satz 1 UStG ist eine innergemeinschaftliche
Lieferung steuerfrei, wenn die folgenden Voraussetzungen
erfüllt sind:
|
|
“1. Der Unternehmer oder der Abnehmer
hat den Gegenstand der Lieferung in das übrige
Gemeinschaftsgebiet befördert oder versendet,
|
|
2. der Abnehmer ist
|
|
a) ein Unternehmer, der den Gegenstand der
Lieferung für sein Unternehmen erworben hat, ...
|
|
und
|
|
3. der Erwerb des Gegenstands der Lieferung
unterliegt beim Abnehmer in einem anderen Mitgliedstaat den
Vorschriften der Umsatzbesteuerung.“
|
|
|
37
|
Unionsrechtlich beruht die Steuerfreiheit im
Streitjahr auf Art. 138 MwStSystRL (vor dem 1.1.2007: Art. 28c Teil
A Buchst. a Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des
Rates vom 17.5.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der
Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer - Richtlinie 77/388/EWG
- ). Danach befreien die Mitgliedstaaten die Lieferungen von
Gegenständen, die durch den Verkäufer, den Erwerber oder
für ihre Rechnung nach Orten außerhalb ihres jeweiligen
Gebiets, aber innerhalb der Gemeinschaft versandt oder
befördert werden von der Steuer, wenn diese Lieferung an einen
anderen Steuerpflichtigen oder an eine nichtsteuerpflichtige
juristische Person bewirkt wird, der/die als solche/r in einem
anderen Mitgliedstaat als dem des Beginns der Versendung oder
Beförderung der Gegenstände handelt.
|
|
|
38
|
b) Vorliegend hat JF im Auftrag der Galerie
das Buch in München abgeholt und es im Juli 2008 nach London
gebracht. Die Galerie ist gerichtsbekannt seit 1970 in
Großbritannien als Unternehmerin tätig.
Schließlich unterliegt der Erwerb des Buches auch nach den
(harmonisierten) Vorschriften der Erwerbsbesteuerung in
Großbritannien (Art. 2 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i MwStSystRL,
vor dem 1.1.2007: Art. 28a Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie
77/388/EWG). Hingegen ist nicht erforderlich, dass der
innergemeinschaftliche Erwerb tatsächlich besteuert worden ist
(BFH-Urteil vom 8.11.2007 V R 72/05, BFHE 219, 422, BStBl II 2009,
55 = SIS 08 16 57, unter Hinweis auf das EuGH-Urteil Teleos vom
27.9.2007 C-409/04 u.a., EU:C:2007:548 = SIS 08 00 38, Rz 69
ff.).
|
|
|
39
|
c) Der Unternehmer hat die Voraussetzungen des
§ 6a Abs. 1 UStG gemäß § 6a Abs. 3 UStG i.V.m.
§§ 17a ff. UStDV beleg- und buchmäßig
nachzuweisen (BFH-Urteil vom 19.3.2015 V R 14/14, BFHE 250, 248,
BStBl II 2015, 912 = SIS 15 18 65, sowie vom 14.11.2012 XI R 8/11,
BFH/NV 2013, 596 = SIS 13 07 48). Das FG ist in dem angegriffenen
Urteil davon ausgegangen, dass der Belegnachweis erbracht wurde,
während Feststellungen dazu fehlten, ob der Kläger die
Voraussetzungen der Steuerbefreiung einschließlich der
Umsatzsteuer-Identifikationsnummer des Abnehmers
ordnungsgemäß i.S. von § 17c Abs. 2 UStDV
aufgezeichnet habe, sodass offenbleibt, ob auch der Buchnachweis
erbracht wurde.
|
|
|
40
|
d) Der Senat sieht gleichwohl von einer
Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung an das FG zur
Nachholung der fehlenden Feststellungen ab, weil das Vorliegen der
Voraussetzungen für die Steuerbefreiung (§ 6a Abs. 1
UStG) objektiv feststeht.
|
|
|
41
|
aa) Nach der Rechtsprechung des EuGH und der
nunmehr ständigen Rechtsprechung des BFH sind die
Nachweispflichten keine materiellen Voraussetzungen für die
Befreiung als innergemeinschaftliche Lieferung. Trotz
Nichtvorliegens der formellen Nachweispflichten ist eine Lieferung
steuerfrei, wenn die Voraussetzungen einer innergemeinschaftlichen
Lieferung unbestreitbar feststehen (EuGH-Urteil Collée vom
27.9.2007 C-146/05, EU:C:2007:549, Rz 31 und 33; BFH-Urteile in
BFHE 250, 248, BStBl II 2015, 912 = SIS 15 18 65; in BFHE 219, 422,
BStBl II 2009, 55 = SIS 08 16 57; vom 24.7.2014 V R 44/13, BFHE
246, 207, BStBl II 2014, 955 = SIS 14 23 87; vom 21.5.2014 V R
34/13, BFHE 246, 232, BStBl II 2014, 914 = SIS 14 23 86; vom
14.11.2012 XI R 17/12, BFHE 239, 516, BStBl II 2013, 407 = SIS 13 10 39; vom 12.5.2011 V R 46/10, BFHE
234, 436, BStBl II 2011, 957 = SIS 11 28 16).
|
|
|
42
|
bb) So liegen die Verhältnisse im
Streitfall: Das Buch wurde ausweislich der Exportbestätigung
von JF von diesem im Handgepäck nach London gebracht, dort von
einem Papierexperten begutachtet, in der Galerie von Februar bis
Mai 2010 ausgestellt und schließlich von dort aus an eine
amerikanische Sammlung verkauft. Dieser Ablauf wird auch vom FA
nicht in Zweifel gezogen. Ausweislich des Protokolls der
mündlichen Verhandlung vom 9.10.2014 hat es daher auf
Nachfrage des Gerichts erklärt, dass das direkte Verbringen
des Buches von München nach London nicht bestritten werde. Da
auch die Unternehmereigenschaft der Galerie und die
Erwerbsbesteuerung in Großbritannien feststehen, liegen die
Voraussetzungen des § 6a Abs. 1 UStG unstrittig vor.
|
|
|
43
|
4. Der Senat entscheidet durch Urteil, da die
Beteiligten auf eine mündliche Verhandlung verzichtet haben
(§ 121 Satz 1 i.V.m. § 90 Abs. 2 FGO).
|
|
|
44
|
5. Die Kostenentscheidung beruht auf §
135 Abs. 2 FGO.
|