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I. Die Klägerin und
Revisionsklägerin (Klägerin) ist die Mutter einer im
April 1984 geborenen Tochter (T). Im Januar 2006 gebar T selbst
einen Sohn. Dessen Vater erbringt für das Kind, nicht aber
für T Unterhaltszahlungen. T lebt seit 2006 zusammen mit ihrem
Sohn und dem Kindsvater im Haus der Mutter des Kindsvaters, die bis
zu ihrem Tod (April 2011) ebenfalls dort wohnte. Seit März
2008 besucht der Sohn der T den Kindergarten.
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T studierte zunächst ab dem
Wintersemester 2002/2003 Soziologie und Erziehungswissenschaften.
In den Wintersemestern 2005/2006 und 2006/2007 nahm T jeweils ein
Urlaubssemester. In den Jahren 2006 bis 2008 stellte T verschiedene
Bemühungen um einen Ausbildungsplatz an. Am 1.9.2008 begann
sie eine Berufsausbildung im Justizdienst.
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Der Kindsvater erzielte 2006 ein zu
versteuerndes Einkommen in Höhe von 21.106 EUR und in 2007 in
Höhe von 23.237 EUR. Im Jahr 2008 erhielt er Bruttoeinnahmen
in Höhe von 28.309,59 EUR und es entstanden ihm Werbungskosten
in Höhe von 3.519,54 EUR.
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Die Beklagte und Revisionsbeklagte
(Familienkasse) hob die zugunsten der Klägerin erfolgte
Kindergeldfestsetzung für T mit Bescheid vom 4.3.2009 ab
Januar 2006 auf und forderte das für Januar 2006 bis Dezember
2008 bereits ausbezahlte Kindergeld in Höhe von 5.544 EUR von
der Klägerin zurück. Die Familienkasse ging dabei davon
aus, dass ein Kindergeldanspruch der Klägerin ausgeschlossen
sei, weil gegenüber der T nach § 1615l des
Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) vorrangig der Kindsvater des
gemeinsamen Sohnes unterhaltspflichtig sei.
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Während des hiergegen geführten
Einspruchsverfahrens erhob die Klägerin
Untätigkeitsklage, die am 19.5.2009 beim Finanzgericht (FG)
einging. Mit Einspruchsentscheidung vom 6.8.2009 wies die
Familienkasse den Einspruch als unbegründet
zurück.
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Die Klage wies das FG mit den in EFG 2013,
300 = SIS 13 00 89 veröffentlichten Gründen als
unbegründet ab.
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Mit ihrer vom FG zugelassenen Revision
rügt die Klägerin die Verletzung formellen und
materiellen Rechts.
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Die Klägerin beantragt, das FG-Urteil
und den Aufhebungsbescheid der Familienkasse vom 4.3.2009 in
Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 6.8.2009 aufzuheben.
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Die Familienkasse beantragt, die Revision
als unbegründet zurückzuweisen.
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II. Die Revision ist begründet. Sie
führt gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der
Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung des finanzgerichtlichen
Urteils und zur Zurückverweisung der nicht spruchreifen Sache
an das FG. Die Feststellungen des FG lassen keine Entscheidung
darüber zu, ob ein Kindergeldanspruch der Klägerin
ausgeschlossen ist, weil zu berücksichtigende Bezüge des
Kindes vorlagen, die zu einer Überschreitung des Grenzbetrags
des § 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes in der im
Streitzeitraum geltenden Fassung (im Folgenden: EStG)
führen.
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1. a) Zu Recht ist das FG davon ausgegangen,
dass T im Streitzeitraum Januar 2006 bis Dezember 2008
grundsätzlich nach § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2
i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a und c EStG
kindergeldrechtlich zu berücksichtigen ist, da sie in diesen
Monaten nach den Feststellungen des FG entweder für einen
Beruf ausgebildet wurde oder eine Berufsausbildung mangels
Ausbildungsplatzes nicht beginnen konnte.
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b) Die Frage, ob das Kind trotz einer
gegenüber der Unterhaltspflicht der Eltern vorrangigen
Unterhaltsverpflichtung des Ehegatten oder nach § 1615l BGB
des anderen Elternteils eines nichtehelichen Kindes weiterhin beim
Kinderfreibetrag oder beim Kindergeld berücksichtigt werden
kann, ist nicht im Rahmen der
Berücksichtigungstatbestände des § 32 Abs. 4 Satz 1
EStG zu prüfen. Der Senat hat bereits in seinen Entscheidungen
zur Berücksichtigung von Kindern während einer
Vollzeiterwerbstätigkeit ausgeführt, dass eine typische
Unterhaltssituation kein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der
einzelnen Berücksichtigungstatbestände ist. Ob ein Kind
wegen eigener Einkünfte oder Bezüge typischerweise nicht
auf Unterhaltsleistungen der Eltern angewiesen und deshalb nicht
als Kind zu berücksichtigen ist, wird nach der gesetzlichen
Regelung nicht bei der Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen
des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 und 2 EStG ermittelt, sondern
erst auf einer zweiten Stufe bei der Prüfung nach § 32
Abs. 4 Satz 2 EStG, ob die Einkünfte und Bezüge des
Kindes den maßgebenden Grenzbetrag überschreiten (z.B.
Senatsurteile vom 17.6.2010 III R 34/09, BFHE 230, 61, BStBl II
2010, 982 = SIS 10 22 78; vom 7.4.2011 III R 50/10, BFH/NV 2011,
1329 = SIS 11 23 33, jeweils zur Vollzeiterwerbstätigkeit;
Senatsbeschluss vom 22.12.2011 III R 8/08, BFHE 236, 155, BStBl II
2012, 340 = SIS 12 06 34, zur Berücksichtigung von
Unterhaltsansprüchen gegenüber dem getrennt lebenden
Ehegatten, und Senatsurteil vom 27.9.2012 III R 70/11, BFHE 239,
116 = SIS 12 30 59, zur Berücksichtigung eines
Zivildienstleistenden als Ausbildungsplatz suchendes Kind).
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c) Insoweit kann der Senat auch dahingestellt
sein lassen, ob die Familienkasse - wie vom FG angenommen -
berechtigt gewesen ist, die bestehende Kindergeldfestsetzung nach
§ 70 Abs. 2 EStG mit Wirkung für die Vergangenheit
aufzuheben. Denn jedenfalls hätte eine Aufhebung auch auf
§ 70 Abs. 4 EStG gestützt werden können, wenn
nachträglich bekannt geworden ist, dass die Einkünfte und
Bezüge des Kindes den Grenzbetrag des § 32 Abs. 4 EStG
übersteigen. Da es insoweit nur auf die Kenntniserlangung
über veränderte Einkünfte und Bezüge der T
ankommt, ist die Frage, wann die Familienkasse von der Geburt des
Kindes der T erfahren hat, - entgegen der Auffassung der
Klägerin - nicht von Bedeutung.
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2. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG setzt damit
für einen Kindergeldanspruch der Klägerin voraus, dass
die Einkünfte und Bezüge der T, die zur Bestreitung des
Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind,
nicht mehr als 7.680 EUR im Kalenderjahr betragen haben.
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a) Unter den Begriff der Bezüge fallen
alle Zuflüsse in Geld oder Naturalleistungen, die nicht im
Rahmen der einkommensteuerrechtlichen Einkünfteermittlung
erfasst werden, also nicht steuerbare oder steuerfreie Einnahmen
(Senatsurteil vom 17.12.2009 III R 74/07, BFHE 228, 72, BStBl II
2010, 552 = SIS 10 05 34, m.w.N.). Insoweit sind auch
Unterhaltsleistungen des verheirateten oder geschiedenen Ehegatten
(§§ 1360, 1360a, 1361, 1569 ff. BGB) oder der Mutter bzw.
des Vaters aus Anlass der Geburt eines nichtehelichen Kindes
(§ 1615l BGB) als Bezüge zu erfassen. Darüber hinaus
gehören auch laufende oder einmalige Zuwendungen von dritter
Seite, die den Unterhaltsbedarf des Kindes decken oder die
Berufsausbildung sichern und damit die Eltern bei ihren
Unterhaltsleistungen entlasten können, grundsätzlich zu
den Bezügen i.S. von § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG (vgl. Urteil
des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 28.1.2004 VIII R 21/02, BFHE 205,
196, BStBl II 2004, 555 = SIS 04 14 42, m.w.N.; ähnlich
BFH-Beschluss vom 26.11.2008 III S 65/08 (PKH), BFH/NV 2009, 382 =
SIS 09 05 97, zur Berücksichtigung eines Lottogewinns). Danach
sind Unterhaltsleistungen des Kindsvaters an die Mutter des
nichtehelichen Kindes, die dieser z.B. freiwillig oder aufgrund
einer vermeintlichen Rechtspflicht nach § 1615l BGB erbringt,
ebenso als Bezüge der Mutter zu berücksichtigen, wie Bar-
oder Sachleistungen der gegenüber der Kindsmutter nicht zum
Unterhalt verpflichteten Eltern des Kindsvaters (vgl. z.B. für
zu Unrecht ausbezahlten Arbeitslohn BFH-Urteil vom 22.5.2002 VIII R
74/99, BFH/NV 2002, 1430 = SIS 02 97 85).
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b) Für den Fall, dass Ehegatten oder die
Eltern eines nichtehelichen Kindes nicht in einem gemeinsamen
Haushalt leben, hat der Senat bereits entschieden, dass
Unterhaltsleistungen wegen des auch bei der Ermittlung der
Bezüge zu beachtenden Zuflussprinzips nur dann anzusetzen
sind, wenn sie dem unterhaltsberechtigten Ehegatten oder dem
anderen Elternteil auch tatsächlich zugeflossen sind, sofern
der Unterhaltsberechtigte nicht i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 9
EStG auf die Geltendmachung seines Unterhaltsanspruchs verzichtet
hat (Senatsbeschluss in BFHE 236, 155, BStBl II 2012, 340 = SIS 12 06 34, zum Unterhaltsanspruch gegen den getrenntlebenden Ehegatten;
Senatsurteil vom 30.8.2012 III R 43/10, BFH/NV 2013, 26 = SIS 12 32 84, zum Unterhaltsanspruch gegen den anderen Elternteil des
nichtehelichen Kindes).
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c) aa) Leben kinderlose Ehegatten dagegen in
einem gemeinsamen Haushalt, ist der Senat hinsichtlich der dann
regelmäßig notwendigen Schätzung der
Unterhaltsleistungen davon ausgegangen, dass dem nicht verdienenden
Ehepartner von einem Alleinverdiener mit einem durchschnittlichen
Nettoeinkommen in etwa die Hälfte des Nettoeinkommens in Form
von Geld- und Sachleistungen als Unterhalt zufließt, soweit
dem unterhaltsverpflichteten Ehepartner ein verfügbares
Einkommen in Höhe des steuerrechtlichen Existenzminimums
verbleibt (Senatsurteil vom 23.11.2011 III R 76/09, BFHE 236, 79,
BStBl II 2012, 413 = SIS 12 06 33, m.w.N.). Verfügt das Kind
dagegen auch über eigene Mittel, so ist nach der
Rechtsprechung des Senats zu unterstellen, dass sich die Eheleute
ihr verfügbares Einkommen teilen (Senatsurteil in BFHE 236,
79, BStBl II 2012, 413 = SIS 12 06 33).
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bb) Diese für zusammenlebende kinderlose
Ehegatten geltenden Grundsätze lassen sich hingegen nicht auf
die in einem gemeinsamen Haushalt lebenden Elternteile eines
nichtehelichen Kindes übertragen.
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Zum einen ist im Unterschied zu kinderlosen
Ehegatten bei Elternteilen eines nichtehelichen Kindes zu beachten,
dass auch dem nichtehelichen Kind ein Unterhaltsanspruch zustehen
kann. Da über § 1615l Abs. 3 Satz 1 BGB auf den
Unterhaltsanspruch des betreuenden Elternteils die allgemeinen
Vorschriften über den Verwandtenunterhalt Anwendung finden,
geht der unterhaltsberechtigte Elternteil nach § 1609 Nr. 1
und Nr. 2 BGB in der Rangfolge mehrerer Unterhaltsberechtigter
minderjährigen unverheirateten Kindern und Kindern i.S. des
§ 1603 Abs. 2 Satz 2 BGB nach. Dadurch kann sich eine
Verringerung des Unterhaltsanspruchs des betreuenden Elternteils
ergeben, wenn der Unterhaltspflichtige außerstande ist, allen
Unterhaltsberechtigten Unterhalt zu gewähren.
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Zum anderen wird auf den Unterhaltsbedarf des
betreuenden Elternteils eines nichtehelichen Kindes ein anderer
Maßstab angewendet als auf den Unterhaltsbedarf eines
verheirateten, getrennt lebenden oder geschiedenen Ehegatten. Der
Unterhaltsbedarf des betreuenden Elternteils leitet sich aufgrund
der Verweisung in § 1615l Abs. 3 Satz 1 BGB auf § 1610
BGB aus seiner eigenen Lebensstellung ab. Anders als beim
Familienunterhalt in der intakten Ehe, beim Trennungsunterhalt oder
beim nachehelichen Unterhalt, bei denen der Bedarf von den
ehelichen Lebensverhältnissen (§§ 1360, 1360a Abs. 1
und 2, 1361 Abs. 1, 1578 Abs. 1 BGB) bestimmt wird, sind für
die Bedarfsbemessung beim Unterhaltsanspruch nach § 1615l BGB
die wirtschaftlichen Verhältnisse des unterhaltspflichtigen
Elternteils grundsätzlich nicht maßgebend (Urteil des
Bundesgerichtshofs vom 16.7.2008 XII ZR 109/05, BGHZ 177, 272, NJW
2008, 3125, unter III.1.a).
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cc) Leben die nichtverheirateten Eltern eines
gemeinsamen Kindes in einem gemeinsamen Haushalt, kann aufgrund
dieser Unterschiede zum Ehegattenunterhalt für die
Schätzung von Unterhaltsleistungen nicht von dem
Erfahrungssatz ausgegangen werden, dass die Elternteile sich das
verfügbare Einkommen des Alleinverdieners oder das beider
Elternteile hälftig teilen. Vielmehr ist denkbar, dass der
unterhaltsverpflichtete Elternteil Unterhalt nur in Höhe
seiner zivilrechtlichen Verpflichtung erbringt, freiwillig
Leistungen erbringt, zu denen er zivilrechtlich nicht verpflichtet
ist, oder - z.B. aufgrund der Sicherstellung des Unterhalts durch
freiwillige Leistungen Dritter - weniger an Unterhalt leistet, als
er zivilrechtlich leisten müsste.
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dd) Wegen der Geltung des Zuflussprinzips ist
daher in Fällen des gemeinsamen Haushalts unverheirateter
Eltern im Einzelnen zu ermitteln, ob und ggf. in welchem Umfang
gegenüber dem betreuenden Elternteil im jeweiligen
Anspruchszeitraum Bar- oder Naturalleistungen durch den anderen
Elternteil oder durch einen Dritten erbracht wurden.
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3. a) Die Vorentscheidung beruht auf einer
anderen Rechtsauffassung, da sie unter Anwendung der für
kinderlose Ehegatten entwickelten Grundsätze der T die
Hälfte des Einkommens des Kindsvaters (Jahre 2006 und 2007)
bzw. die Hälfte des gemeinsamen Einkommens (Jahr 2008) als
Einkünfte bzw. Bezüge zugerechnet hat. Sie ist daher
aufzuheben. Aufgrund der Feststellungen des FG kann der Senat nicht
beurteilen, in welcher Höhe T im Streitzeitraum Einkünfte
und Bezüge zuzurechnen sind.
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b) Ohne Bindungswirkung für das Verfahren
im zweiten Rechtsgang weist der Senat darauf hin, dass es bei der
Bewertung von etwaigen Naturalleistungen (z.B. Verpflegung,
Unterkunft oder Wohnung), die T vom Kindsvater oder dessen Mutter
bezogen hat, keinen Bedenken begegnen würde, wenn diese in
Anlehnung an die Werte der Verordnung über den Wert der
Sachbezüge in der Sozialversicherung (Sachbezugsverordnung)
bzw. der ab 1.1.2007 geltenden Verordnung über die
sozialversicherungsrechtliche Beurteilung von Zuwendungen des
Arbeitgebers als Arbeitsentgelt
(Sozialversicherungsentgeltverordnung) in der jeweils geltenden
Fassung geschätzt würden, sofern nicht im Einzelfall
abweichende Werte festgestellt werden können.
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Hinsichtlich der Berücksichtigung
etwaiger Beiträge zu einer gesetzlichen oder einer privaten
Kranken- und Pflegeversicherung verweist der Senat auf den
Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11.1.2005 2 BvR 167/02
(BVerfGE 112, 164 = SIS 05 30 28) sowie die Senatsurteile vom
16.11.2006 III R 74/05 (BFHE 216, 69, BStBl II 2007, 527 = SIS 07 04 35) und vom 14.12.2006 III R 24/06 (BFHE 216, 225, BStBl II
2007, 530 = SIS 07 04 33).
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4. Die Verfahrensrüge der mangelhaften
Sachverhaltsaufklärung hat der Senat geprüft. Sie greift
jedoch nicht durch. Von einer Begründung sieht der Senat ab
(§ 126 Abs. 6 Satz 1 FGO).
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