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I. Der Kläger und Revisionsbeklagte
(Kläger) ist leiblicher Vater einer 1991 geborenen Tochter,
die nach dem Abschluss ihrer Schulausbildung am 1.10.2010 eine
dreijährige Ausbildung begann, für die sie
Ausbildungsvergütung bezog.
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Die Tochter heiratete im April 2011. Ihr
Ehemann befindet sich seit September 2011 in einem
Berufsausbildungsverhältnis und erhält ebenfalls eine
Ausbildungsvergütung.
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Der Kläger leistete seiner Tochter,
die für 2012 (Streitjahr) einen Abzweigungsantrag gestellt
hat, keinen Unterhalt. Seinen Kindergeldantrag lehnte die Beklagte
und Revisionsklägerin (Familienkasse) mit Bescheid vom
20.7.2012 ab und wies den fristgemäß eingelegten
Einspruch als unbegründet zurück, weil die Tochter sich
mit ihrem eigenen Einkommen und dem Unterhaltsbeitrag ihres
Ehemannes selbst unterhalten könne. Nach der Berechnung der
Familienkasse hatte die Tochter Einkünfte von mehr als 8.300
EUR erzielt.
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Die Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht
(FG) entschied, da es ab 2012 nicht mehr auf die Höhe der
Einkünfte und Bezüge des Kindes ankomme, sei ein etwaiger
Unterhaltsanspruch der Tochter gegen ihren Ehemann
unerheblich.
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Zur Begründung ihrer Revision
rügt die Familienkasse die Verletzung materiellen
Rechts.
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Die Familienkasse beantragt, das FG-Urteil
aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Der Kläger beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
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II. Die Revision ist unbegründet und
zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung -
FGO - ). Das FG hat zutreffend entschieden, dass die Tochter zu
berücksichtigen ist.
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1. Dem Kläger steht nach dem Wortlaut der
§§ 32, 62 ff. des Einkommensteuergesetzes (EStG) für
seine Tochter Kindergeld zu. Die Tochter ist ab Januar 2012 als
Kind zu berücksichtigen, denn sie hat das 18. Lebensjahr, aber
noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet, wird für einen Beruf
ausgebildet (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG) und hat
noch keine erstmalige Berufsausbildung oder ein Erststudium
abgeschlossen (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG i.d.F. des
Steuervereinfachungsgesetzes 2011 - EStG n.F. -, BGBl I 2011,
2131). Die Höhe ihrer Einkünfte und Bezüge ist - im
Gegensatz zu der bis Ende 2011 geltenden Rechtslage - ohne
Bedeutung.
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2. Ihre Verheiratung steht der
Berücksichtigung - entgegen der Verwaltungsansicht
(Dienstanweisung zur Durchführung des
Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des
Einkommensteuergesetzes, Stand 2013) - nicht entgegen.
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a) Die Verheiratung des Kindes hindert den
Anspruch auf Kindergeld nach dem Wortlaut des § 32 Abs. 4 EStG
n.F. nicht; einen entsprechenden Ausschlusstatbestand enthält
die Vorschrift nicht.
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b) Nach langjähriger Rechtsprechung (z.B.
Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 2.3.2000 VI R 13/99, BFHE
191, 69, BStBl II 2000, 522 = SIS 00 07 54; vom 19.4.2007 III R
65/06, BFHE 218, 70, BStBl II 2008, 756 = SIS 07 24 93; vom
22.12.2011 III R 8/08, BFHE 236, 155, BStBl II 2012, 340 = SIS 12 06 34) bestand für ein verheiratetes Kind jedoch
grundsätzlich kein Anspruch auf Kindergeld. Dies beruhte auf
der Annahme, dass der Kindergeldanspruch für über 18
Jahre alte Kinder eine typische Unterhaltssituation seitens der
Eltern voraussetzt, an der es fehlt, wenn das Kind verheiratet ist
oder während einer Übergangs- oder Wartezeit einer
Vollzeiterwerbstätigkeit nachgeht. Der Anspruch blieb jedoch
erhalten, wenn bei einem verheirateten Kind - wie z.B. bei einer
Studentenehe - die Einkünfte des Ehepartners für den
vollständigen Unterhalt des Kindes nicht ausreichten und das
Kind ebenfalls nicht über ausreichende eigene Mittel für
seinen Unterhalt verfügte - sog. Mangelfall - (so
ausdrücklich das BFH-Urteil in BFHE 191, 69, BStBl II 2000,
522 = SIS 00 07 54) oder die Einkünfte und Bezüge des
Kindes den Grenzbetrag trotz seiner Vollzeiterwerbstätigkeit
nicht erreichten (Senatsurteil vom 18.5.2006 III R 1/06, BFH/NV
2006, 1825 = SIS 06 38 24), so dass die Eltern weiterhin für
das Kind aufkommen mussten.
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c) Das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der
„typischen Unterhaltssituation“ wurde vom BFH
mit Urteil vom 17.6.2010 III R 34/09 (BFHE 230, 61, BStBl II 2010,
982 = SIS 10 22 78) aufgegeben. Der BFH ist damit von einer
teleologischen zu einer am Wortlaut und der Systematik des §
32 Abs. 4 EStG orientierten Auslegung übergegangen, die die
Rechtsanwendung deutlich vereinfacht hat (Sauerland, DStR 2010,
2118). Seit der Rechtsprechungsänderung ist zunächst der
Berücksichtigungstatbestand zu prüfen (u.a.
Verwandtschaftsgrad und Alter des Kindes sowie Ausbildung,
Übergangs- oder Wartezeit). Anschließend war - für
die Zurechnung von Kindern bis Ende 2011 - zu ermitteln, ob die
Berücksichtigung wegen Überschreitung des Grenzbetrags
(§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG a.F.) ausgeschlossen war.
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aa) Der BFH hat auch nach der
Rechtsprechungsänderung in mehreren Urteilen zum
Kindergeldanspruch für verheiratete Kinder daran festgehalten,
dass dieser wegen der vorrangigen Unterhaltsverpflichtung des
Ehegatten grundsätzlich ausgeschlossen sei und nur
ausnahmsweise - in Mangelfällen - nach der Eheschließung
fortbestehe. Die Entscheidung richtete sich jedoch sodann stets
nach dem Ergebnis der Grenzbetragsberechnung, bei der dem
verheirateten Kind der vom Ehegatten bezogene Unterhalt als Bezug
zugerechnet wurde. Wenn der Grenzbetrag nicht erreicht wurde, weil
die Unterhaltsleistungen dafür zu niedrig waren oder der
getrennt lebende Ehegatte keinen Unterhalt leistete (BFH-Urteil in
BFHE 236, 155, BStBl II 2012, 340 = SIS 12 06 34), wurde das
verheiratete Kind berücksichtigt.
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bb) Das Erfordernis einer typischen
Unterhaltssituation ist seit dem BFH-Urteil in BFHE 230, 61, BStBl
II 2010, 982 = SIS 10 22 78 vollständig entfallen, und nicht
nur - wie die Familienkasse meint - für die Fallgruppe der
vollzeitbeschäftigten Kinder.
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Der BFH hat daher auch wiederholt in seinen
die Vollzeiterwerbstätigkeit von Kindern betreffenden
Entscheidungen ausgesprochen, dass es nach dem Gesetzeswortlaut und
der Gesetzessystematik unerheblich sei, aus welchen Gründen es
an einer typischen Unterhaltssituation der Eltern fehlt (z.B.
BFH-Urteil vom 28.5.2013 XI R 38/11, BFH/NV 2013, 1774 = SIS 13 27 92).
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Darüber hinaus hat er das Argument, die
Berücksichtigung eines Kindes setze voraus, dass sich die
Eltern in einer typischen Unterhaltssituation befänden, auch
für andere Sachverhaltsgestaltungen ausdrücklich
abgelehnt, z.B. zur Berücksichtigung eines
Zivildienstleistenden als Ausbildungsplatz suchendes Kind
(Senatsurteil vom 27.9.2012 III R 70/11, BFHE 239, 116, BStBl II
2013, 544 = SIS 12 30 59) sowie zu einem unverheirateten Kind, das
mit dem anderen Elternteil seines nichtehelichen Kindes in einem
gemeinsamen Haushalt lebt und gegen diesen einen gegenüber der
Unterhaltspflicht der Eltern vorrangigen Unterhaltsanspruch nach
§ 1615l des Bürgerlichen Gesetzbuchs hat (Urteil vom 11.4.2013 III R 24/12, BFHE 241, 255,
BStBl II 2013, 866 = SIS 13 18 27).
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cc) Die von der Familienkasse
befürwortete Fortführung einer Einkünfte- und
Bezügegrenze, die sich zwecks Prüfung eines Mangelfalles
allein auf verheiratete Kinder beschränkt, würde der mit
der Abschaffung der Grenzbetragsregelung bei volljährigen
Kindern vom Gesetzgeber bezweckten Entlastung der Eltern vom
Erklärungsaufwand und der Entlastung der Verwaltung von der
Ermittlung der Einkünfte und Bezüge der Kinder
widersprechen (BRDrucks 54/11, S. 27).
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Sie wäre zudem im Hinblick auf Art. 3
Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes bedenklich, weil die
Eltern verheirateter Kinder dadurch gegenüber Eltern, die
ihren Kindern typischerweise ebenfalls nicht zum Unterhalt
verpflichtet sind, benachteiligt würden. Dies betrifft
insbesondere die Eltern volljähriger Kinder mit hinreichenden
Einkünften (z.B. aus einer hohen Ausbildungsvergütung)
oder Bezügen (z.B. Kinder, deren Unterhalt durch den
„Erbonkel“ oder ein Stipendium bestritten
wird).
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dd) Die Versagung der Berücksichtigung
eines verheirateten Kindes ist zudem dann nicht zu rechtfertigen,
wenn das Kind - wie im Streitfall - die nach Verwaltungsauffassung
insoweit „fortgeltende“ Einkünfte- und
Bezügegrenze nicht aufgrund der Unterhaltsleistungen seines
Ehegatten, sondern allein aufgrund eigener Einkünfte
überschreitet. Denn die Entlastung der Eltern beruht dann
nicht auf der Heirat und den dadurch erlangten
Unterhaltsansprüchen des Kindes, sondern lediglich auf den
Einkünften des Kindes, die nach der durch das
Steuervereinfachungsgesetz 2011 geschaffenen Gesetzeslage ab 2012
nicht mehr zu berücksichtigen sind.
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