Tatsächliche Verständigung, Bindungswirkung: Eine tatsächliche Verständigung im Steuerfestsetzungsverfahren ist nicht schon deshalb unwirksam, weil sie zu einer von einem Beteiligten nicht vorhergesehenen Besteuerungsfolge führt und dadurch die vor der Verständigung offengelegten Beweggründe des Beteiligten zum Abschluss der Verständigung (die Erwartung der steuerlichen Neutralität des Vereinbarten) entwertet werden. - Urt.; BFH 8.10.2008, I R 63/07; SIS 08 43 32
I. Streitig ist die Bindungswirkung einer
sogenannten tatsächlichen Verständigung.
Die Klägerin und Revisionsbeklagte
(Klägerin), eine GmbH, war seit 5.7.1991
Alleingesellschafterin der G-GmbH. Zum Betriebsvermögen der
G-GmbH gehörten Grundstücke, die in der
DM-Eröffnungsbilanz zum 1.7.1990 mit rd. 88 Mio. DM angesetzt
und zum 31.12.1991 auf einen Wert von 30 Mio. DM abgeschrieben
worden waren. Den überwiegenden Teil der Grundstücke
veräußerte die G-GmbH in 1991 mit einem Zeitpunkt des
wirtschaftlichen Übergangs im September 1993 (Streitjahr) an
die T-GbR zu einem Preis von 30 Mio. DM; wegen der
Restitutionsbelastung einzelner Grundstücksteile kam es
später zu einer Herabsetzung des Übertragungsumfangs und
des Preises auf ca. 23 Mio. DM. Gesellschafter der T-GbR waren je
hälftig A und die V-KG, an der wiederum der alleinige
Gesellschafter der Klägerin, W, und B beteiligt waren.
Im Verlauf einer Außenprüfung
bei der G-GmbH wurde unter Hinweis auf einen unter dem Verkehrswert
der Grundstücke liegenden Verkaufspreis ein Strafverfahren
gegen W eröffnet; später stellte die Staatsanwaltschaft
das Ermittlungsverfahren gegen W gemäß § 170 Abs. 2
der Strafprozessordnung ein. Am 6.2.2001 kam es zwischen der G-GmbH
und dem für ihre Besteuerung zuständigen Finanzamt sowie
am 7.3.2001 zwischen der Klägerin und dem Beklagten und
Revisionskläger (Finanzamt - FA - ) zu Verständigungen
dahin, dass ausgehend von einem Verkehrswert der auf die T-GbR
übertragenen Grundstücke von 37,3 Mio. DM bei der G-GmbH
eine verdeckte Gewinnausschüttung (vGA) zugunsten der
Klägerin und bei der Klägerin eine empfangene
Ausschüttung der G-GmbH mit einer zeitgleichen
Ausschüttung der Klägerin an W in Höhe von 9,9 Mio.
DM anzusetzen sei. Die (telefonischen) Verhandlungen zur
Vorbereitung der tatsächlichen Verständigungen erfolgten
zwischen der Steuerfahndungsstelle des Finanzamts Y und den
Bevollmächtigten der beteiligten Steuerpflichtigen; die
Veranlagungsfinanzämter der G-GmbH bzw. der Klägerin
wurden erst kurz vor dem Abschluss der tatsächlichen
Verständigungen von der Steuerfahndung über Sachverhalt
und Rechtslage informiert. Im Zusammenhang mit den
Verständigungen ergingen Kontrollmitteilungen an die für
die Einkünftefeststellung der T-GbR bzw. der V-KG
zuständigen Finanzämter, die zugunsten des W ein
erhöhtes Abschreibungs- bzw. Verlustausgleichsvolumen
sicherstellen sollten.
Für die G-GmbH ergingen für das
Streitjahr geänderte Steuerbescheide auf der Grundlage der
Verständigungen. Da anderes Eigenkapital nicht zur
Verfügung stand, galt für die vGA verwendbares
Eigenkapital i.S. des § 30 Abs. 2 Nr. 4 des
Körperschaftsteuergesetzes 1991 (KStG 1991) - EK 04 - als
verwendet. Bei der Veranlagung der Klägerin vertrat das FA die
Auffassung, dass das zu versteuernde Einkommen um die den Buchwert
der Anteile der G-GmbH von 11.500 DM übersteigende
Ausschüttung der G-GmbH zu erhöhen sei (Gesamtbetrag:
10.233.878 DM); zugleich sei die Ausschüttungsbelastung
herzustellen. Bei der Ermittlung des Gewerbeertrages sei die
Ausschüttung aus dem EK 04 nicht im Wege der Kürzung
(§ 9 Nr. 2a des Gewerbesteuergesetzes - GewStG 1991 - ) zu
berücksichtigen. In dem sich anschließenden Rechtsstreit
gegen die Festsetzung des Gewerbesteuermessbetrages bestätigte
der erkennende Senat diese Rechtsansicht zu § 9 Nr. 2a GewStG
1991 (Urteil vom 15.9.2004 I R 16/04, BFHE 208, 277, BStBl II 2005,
297 = SIS 05 11 93). Der Senat wies die Sache an das Finanzgericht
(FG) zurück, da dieses zum weiteren Streitpunkt - der
Wirksamkeit und der Reichweite der getroffenen tatsächlichen
Verständigungen - keine weiteren Feststellungen getroffen und
diese Frage nicht geprüft habe.
Im zweiten Rechtszug hat das Hessische FG
nach einer Beweisaufnahme über das Zustandekommen und den
Inhalt der tatsächlichen Verständigungen ein
Zwischenurteil erlassen, mit dem es entschieden hat, dass die
Klägerin nach dem Grundsatz von Treu und Glauben nicht an die
tatsächliche Verständigung gebunden sei (Urteil vom
3.7.2007 8 K 415/05, EFG 2008, 178 = SIS 08 06 93).
Das FA rügt die Verletzung materiellen
Rechts und beantragt, das Zwischenurteil des Hessischen FG
aufzuheben.
Die Klägerin beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
II. Die Revision ist begründet. Sie
führt gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der
Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung des angefochtenen
Zwischenurteils und - da weitere Besteuerungsgrundlagen nicht im
Streit sind, der Rechtsstreit mithin spruchreif ist - zur Abweisung
der Klage. Das FG hat die Klägerin zu Unrecht als nicht durch
die tatsächliche Verständigung gebunden angesehen.
1. Die Voraussetzungen für den Erlass
eines Zwischenurteils (§ 99 Abs. 2 FGO) sind erfüllt. Da
dies zwischen den Beteiligten, die der Verfahrensweise auch
zugestimmt haben, nicht streitig ist, sieht der Senat von einer
weiteren Begründung ab.
2. Der Bundesfinanzhof (BFH) hat die
Zulässigkeit tatsächlicher Verständigungen
grundsätzlich anerkannt (z.B. BFH-Urteile vom 11.12.1984 VIII
R 131/76, BFHE 142, 549, BStBl II 1985, 354 = SIS 85 08 39; vom
5.10.1990 III R 19/88, BFHE 162, 211, BStBl II 1991, 45 = SIS 91 01 50; Senatsurteil vom 6.2.1991 I R 13/86, BFHE 164, 168, BStBl II
1991, 673 = SIS 91 16 59; BFH-Urteile vom 31.7.1996 XI R 78/95,
BFHE 181, 103, BStBl II 1996, 625 = SIS 97 01 40; vom 12.8.1999 XI
R 27/98, BFH/NV 2000, 537 = SIS 00 54 15; BFH-Beschluss vom
25.8.2006 VIII B 13/06, BFH/NV 2006, 2122 = SIS 06 42 13;
BFH-Urteile vom 20.9.2007 IV R 20/05, BFH/NV 2008, 532 = SIS 08 13 91; vom 22.7.2008 IX R 74/06, BFH/NV 2008, 1908 = SIS 08 35 56, zur
amtlichen Veröffentlichung bestimmt). Zweck der
tatsächlichen Verständigung ist es, zu jedem Zeitpunkt
des Besteuerungsverfahrens hinsichtlich bestimmter Sachverhalte,
deren Klärung schwierig, aber zur Festsetzung der Steuer
notwendig ist, den möglichst zutreffenden
Besteuerungssachverhalt i.S. des § 88 der Abgabenordnung (AO)
einvernehmlich festzulegen. Die Bindungswirkung einer derartigen
Vereinbarung setzt voraus, dass sie sich auf Sachverhaltsfragen -
nicht aber auf Rechtsfragen (BFH-Urteil vom 28.6.2001 IV R 40/00,
BFHE 196, 87, BStBl II 2001, 714 = SIS 01 11 78, unter 2.b der
Gründe; Senatsurteil vom 31.3.2004 I R 71/03, BFHE 206, 42,
BStBl II 2004, 742 = SIS 04 27 02) - bezieht, dass der Sachverhalt
die Vergangenheit betrifft, dass die Sachverhaltsermittlung
erschwert ist, dass auf Seiten der Finanzbehörde ein für
die Entscheidung über die Steuerfestsetzung zuständiger
Amtsträger beteiligt ist und dass die tatsächliche
Verständigung nicht zu einem offensichtlich unzutreffenden
Ergebnis führt (z.B. BFH-Urteil vom 7.7.2004 X R 24/03, BFHE
206, 292, BStBl II 2004, 975 = SIS 04 35 55, unter II.B.1.;
Bundesministerium der Finanzen - BMF -, Schreiben vom 30.7.2008,
BStBl I 2008, 831 = SIS 08 32 44, Tz. 2, 3).
3. Das FG hat entschieden, dass im Streitfall
alle genannten Voraussetzungen für eine rechtswirksame
Absprache zwischen den Beteiligten über einen
tatsächlichen Umstand - den zwischen den Beteiligten
streitigen Grundstückswert als Grundlage für den Ansatz
einer Ausschüttung - erfüllt waren. Diese
Einschätzung des FG zur tatsächlichen Verständigung
zwischen der Klägerin und dem FA vom 7.3.2001 lässt keine
Rechtsfehler erkennen. Das FG hat dazu insbesondere festgestellt,
dass das Protokoll der Vereinbarung die Beweggründe
(langjähriger Streit über den Grundstückswert,
Vorhandensein diverser sich widersprechender Gutachten über
den Verkehrswert) ausreichend dokumentiert und dass ein zur
Steuerfestsetzung der Klägerin befugter Amtsträger die
Vereinbarung geschlossen hat. Darüber besteht zwischen den
Beteiligten auch kein Streit.
4. Die Klägerin wendet gegen die
Wirksamkeit der Verständigung ein, dass wegen der Verwendung
eines steuerrechtlichen Rechtsbegriffs („verdeckte
Gewinnausschüttung“) eine unzulässige
Vereinbarung (z.B. BFH-Urteil in BFHE 206, 292, BStBl II 2004, 975
= SIS 04 35 55) über eine Rechtsfrage - ob die
Tatbestandsvoraussetzungen des § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG 1991 im
Streitfall erfüllt sind - getroffen wurde. Dem ist nicht
zuzustimmen. Dies gilt schon unter dem Aspekt, dass in der die
Klägerin betreffenden Vereinbarung ausweislich der
Verständigungsurkunde nur von einem
„Kapitalrückfluss“ und einer
„Ausschüttung an den Gesellschafter“ die
Rede ist. Doch auch wenn der Inhalt der die G-GmbH betreffenden
Verständigung, in der von einer vGA die Rede ist, in die
Betrachtung einbezogen wird, ergibt sich nichts anderes. Denn der
Inhalt der Vereinbarung ist durch die ausdrücklich erfolgte
Eingrenzung auf den Sachverhalt im Bereich der
„Wertermittlung“ und der „Feststellung
des Zeitpunktes des wirtschaftlichen Übergangs“ als
Einigung im Bereich der Tatsachenermittlung geklärt. Dass die
Verständigung mittelbar auch den Tatbestandsbereich einer
Rechtsnorm erfasst, schadet nicht (s. insoweit z.B. Senatsbeschluss
vom 13.8.1997 I R 12/97, BFH/NV 1998, 498 = SIS 98 05 37; in der
Sache bestätigt durch BFH-Urteil vom 1.2.2001 IV R 3/00, BFHE
194, 13, BStBl II 2001, 520 = SIS 01 07 58, zu 4. der Gründe;
Senatsbeschluss vom 3.8.2005 I S 1, 4/05, BFH/NV 2005, 1972 = SIS 05 44 74; BMF-Schreiben in BStBl I 2008, 831 = SIS 08 32 44, Tz.
2.3; Buciek, DStZ 1999, 389, 396; Offerhaus, DStR 2001, 2093, 2094;
Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, Vor
§ 118 AO Rz 11, 13 f.; ders., BB 1999, 78, 79 f.; Rüsken
in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 78 AO Rz 60.5; Englisch, Bindende
„tatsächliche“ und
„rechtliche“ Verständigungen zwischen
Finanzamt und Steuerpflichtigen, 2004, S. 23 ff.).
5. Gleichwohl hat das FG entschieden, dass die
Klägerin an die von ihr geschlossene Vereinbarung nicht
gebunden sei. Denn die Klägerin habe die Vereinbarung unter
dem ausdrücklichen Vorbehalt geschlossen, dass sie selbst und
ihr Alleingesellschafter W „keiner steuerlichen
Mehrbelastung in einer gesamtwirtschaftlichen
Betrachtungsweise“ ausgesetzt seien. Dieser Vorbehalt sei
dem FA auch erkennbar gewesen. Insoweit widerspreche es dem
Grundsatz von Treu und Glauben, dass einer Steuerfahndungsbeamtin,
die die Vereinbarung maßgeblich vorbereitet habe, bewusst
gewesen sei, dass (zwar nicht bei W, aber) bei der Klägerin
eine Belastung mit Gewerbesteuer drohe, darauf aber nicht
hingewiesen worden sei. Das FA müsse sich insoweit die
Kenntnis der Beamtin zurechnen lassen. Dem ist nicht zu folgen.
a) Das FG hat seine Entscheidung darauf
gestützt, dass einer tatsächlichen Verständigung
durch ausdrücklichen Vorbehalt eines Beteiligten die
Bindungswirkung versagt werden könne. Es hat sich dazu auf das
BFH-Urteil in BFHE 181, 103, BStBl II 1996, 625 = SIS 97 01 40 -
dort II.2.b a.E. - bezogen. Dem kann nicht beigepflichtet werden.
Denn im BFH-Urteil in BFHE 181, 103, BStBl II 1996, 625 = SIS 97 01 40 ist insoweit die Situation angesprochen, dass im Rahmen einer
Verständigung über den maßgeblichen Sachverhalt
einer der Beteiligten eindeutig zum Ausdruck bringt, dass er die
getroffene Absprache als (noch) nicht verbindlich ansehe. Diese
Situation einer aufschiebenden Bedingung - etwa im Sinne eines
Vorbehalts einer noch notwendigen Prüfung - ist aber nicht
Gegenstand des Streitfalls. Nach dem Inhalt der Vereinbarung
zwischen der Klägerin und dem FA sollte eine Bindung
unmittelbar eintreten; der Klägerin stand zudem - was vom FG
ausdrücklich festgestellt wurde - ausreichend Zeit zur
Verfügung, die Rechtsfolgen der beabsichtigten Absprache zu
prüfen.
b) Die Feststellung des FG, dass die
Klägerin eine Steuerneutralität erreichen wollte bzw.
dass sie die Vereinbarung nicht abgeschlossen hätte, wenn sie
die eine Gewerbesteuerbelastung auslösende Rechtslage (die
auch erst durch die Revisionsentscheidung des erkennenden Senats im
ersten Rechtszug endgültig geklärt wurde) zutreffend
erkannt hätte, kann nicht als rechtserhebliche
„Geschäftsgrundlage“ der Vereinbarung i.S.
des § 313 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (n.F.)
berücksichtigt werden. Die Motivationslage der Klägerin
vor dem Abschluss der Vereinbarung ist nicht schon deshalb eine von
beiden Parteien getragene und damit gemeinschaftliche Grundlage der
Vereinbarung, weil sie dem FA gegenüber offengelegt wurde.
Vielmehr ist sie - wenn sie nicht Gegenstand eines
ausdrücklichen Vorbehalts ist - alleine dem Risikobereich der
Klägerin zuzuweisen und nicht mittelbar Gegenstand der
Vereinbarung (zur Unbeachtlichkeit eines Motivirrtums s. auch z.B.
Englisch, a.a.O., S. 66; Buciek, DStZ 1999, 389, 400[Fn. 155]; Seer
in Tipke/ Kruse, a.a.O., Vor § 118 AO Rz 33 a.E.; Rüsken
in Beermann/ Gosch, a.a.O., § 78 AO Rz 67). Auf die zwischen
den Beteiligten streitige Frage, ob die Kenntnis der
Steuerfahndungsbeamtin von der aus Verwaltungssicht drohenden (aber
noch nicht höchstrichterlich bestätigten)
Gewerbesteuerbelastung der Klägerin dem FA zugerechnet werden
kann und welche Rechtsfolgen sich daraus gegebenenfalls ergeben,
muss deshalb im Streitfall nicht eingegangen werden.