Englisches Internat, Schulgeld, beschränkter Abzug: 1. Auch Schulgeld für den Besuch eines englischen Internats kann unter den Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG abziehbar sein. - 2. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem nationalen Recht hat insbesondere zur Folge, dass gemeinschaftsrechtswidrige Vorschriften des nationalen Steuerrechts nicht anzuwenden sind, ohne dass es einer Vorlage an das BVerfG oder den EuGH bedarf (Anwendungsvorrang). - Urt.; BFH 17.7.2008, X R 62/04; SIS 08 37 64
I. Die Beteiligten streiten über den
Abzug von Zahlungen an eine Auslandsschule.
Der 1981 geborene Sohn der Kläger und
Revisionskläger (Kläger) besuchte im Streitjahr (1998)
bis zu den Sommerferien die Klasse 10a des Städtischen
Gymnasiums in T. Für das folgende Schuljahr wurde er auf
Antrag der Kläger durch Verfügung des Schulleiters vom
20.5.1998 gemäß der nordrhein-westfälischen
Ausbildungs- und Prüfungsordnung für die gymnasiale
Oberstufe beurlaubt, um die Jahrgangsstufe 11 im Rahmen eines
Schüleraustausches in einer ausländischen Schule zu
absolvieren, wobei die im Ausland verbrachte Zeit auf die
Verweildauer in der gymnasialen Oberstufe angerechnet werden und
der Sohn nach seiner Rückkehr seine schulische Laufbahn in der
Jahrgangsstufe 12 fortsetzen sollte. Der Sohn besuchte
dementsprechend ab 1.9.1998 die staatliche C-School, England, mit
angegliedertem Internat. In der Einkommensteuererklärung
für das Streitjahr machten die Kläger unter anderem
18.726 DM Schulgeld für den Besuch der C-School als
Sonderausgaben geltend. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das
Finanzamt - FA - ) lehnte den Abzug mit der Begründung ab,
dass die Beträge nicht für den Besuch einer gesetzlich
anerkannten Schule gezahlt worden seien.
Mit der nach erfolglosem Einspruch
erhobenen Klage machten die Kläger geltend, dass die C-School
durch die Verfügung des Schulleiters anerkannt worden sei.
Soweit die einschlägige Vorschrift des § 10 Abs. 1 Nr. 9
des Einkommensteuergesetzes (EStG) dem Abzug von Schulgeld für
den Besuch ausländischer Schulen entgegenstehe, verstoße
sie gegen den Vertrag zur Gründung der Europäischen
Gemeinschaft (EG). Die entgegenstehende Entscheidung des
Bundesfinanzhofs (BFH) vom 11.6.1997 X R 74/95 (BFHE 183, 436,
BStBl II 1997, 617 = SIS 97 22 89) betreffe einen früheren
Veranlagungszeitraum und sei angesichts des fortgeschrittenen
Integrationsprozesses in der Europäischen Gemeinschaft auf das
Streitjahr nicht übertragbar.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab;
das Urteil ist in EFG 2004, 1044 = SIS 04 25 76
veröffentlicht.
Die Revision gegen diese Entscheidung hat
der XI. Senat des BFH mit Beschluss vom 20.2.2004
zugelassen.
Mit der Revision rügen die Kläger
Verletzung des § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG.
Sie beantragen sinngemäß, das
angefochtene Urteil aufzuheben und unter Änderung der
angefochtenen Verwaltungsakte Schulgeldzahlungen in Höhe von
18.726 DM (9.574,45 EUR) als Sonderausgaben abzuziehen.
Das FA beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
Im Einverständnis mit den Beteiligten
ruhte das Verfahren zwischenzeitlich (Beschluss vom
4.10.2006).
Mit Urteil vom 11.9.2007 hat der
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) in der
Sache C-76/05 - Schwarz und Gootjes-Schwarz - (Slg. 2007, I-6849,
DStR 2007, 1670 = SIS 07 34 68) entschieden, es sei mit Art. 18 und
Art. 49 EG nicht zu vereinbaren, dass Schulgeldzahlungen zwar
für bestimmte Privatschulen im Inland, nicht aber für
Privatschulen in anderen Mitgliedstaaten als Sonderausgaben
abgezogen werden könnten.
II. Die Revision ist begründet und
führt gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der
Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung des angefochtenen Urteils
und zur Zurückverweisung der Sache an das FG. Die vom FG
getroffenen Feststellungen reichen nicht aus, um abschließend
beurteilen zu können, ob und in welcher Höhe die
Schulgeldzahlungen als Sonderausgaben abgezogen werden
können.
1. Abziehbar sind gemäß § 10
Abs. 1 Nr. 9 EStG 30 % des Entgelts, das der Steuerpflichtige
für ein Kind, für das er Anspruch auf einen Freibetrag nach § 32 Abs. 6 EStG oder auf
Kindergeld hat, für den Besuch einer gemäß Art. 7
Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) staatlich genehmigten oder nach
Landesrecht erlaubten Ersatzschule sowie einer nach
Landesrecht anerkannten allgemein bildenden Ergänzungsschule
entrichtet.
Ausgenommen vom Schulgeldabzug ist das Entgelt
für Beherbergung, Betreuung und Verpflegung (§ 10 Abs. 1
Nr. 9 EStG; BFH-Urteil vom 14.12.2004 XI R 32/03, BFHE 209, 40,
BStBl II 2005, 518 = SIS 05 21 61, m.w.N.). Der Sonderausgabenabzug
nach § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG bezweckt die Förderung von
Privatschulen unter gleichzeitiger Beschränkung des Abzugs auf
den Besuch solcher Schulen, die in gewisser Weise in das
öffentliche Schulwesen einbezogen sind, bestimmte staatliche
Anforderungen erfüllen müssen und deshalb typischerweise
besonders förderungsbedürftig sowie
förderungswürdig sind (BFH-Urteile vom 11.6.1997 X R
77/94, BFHE 183, 432, BStBl II 1997, 615 = SIS 97 21 03; in BFHE
183, 436, BStBl II 1997, 617 = SIS 97 22 89, und X R 144/95, BFHE
183, 445, BStBl II 1997, 621 = SIS 97 21 04).
Mit Urteil in Slg. 2007, I-6849, DStR 2007,
1670 = SIS 07 34 68 hat der EuGH entschieden, dass dann, wenn
Steuerpflichtige eines Mitgliedstaats ihre Kinder zur
Schulausbildung in eine Schule in einem anderen Mitgliedstaat
schickten, deren Leistungen nicht unter Art. 49 EG fielen (also
keine Privatschulen seien, die sich im Wesentlichen aus privaten
Mitteln finanzierten), Art. 18 EG einer Regelung eines
Mitgliedstaats entgegenstehe, die vorsehe, dass Schulgeldzahlungen
an bestimmte Schulen im Inland als Sonderausgaben
einkommensteuermindernd berücksichtigt werden könnten,
diese Möglichkeit aber in Bezug auf Schulgeldzahlungen an
Schulen in anderen Mitgliedstaaten generell ausschließe.
Gleiches gelte für Privatschulen, da dann ein Verstoß
gegen Art. 49 EG vorliege.
2. Im Streitfall kann der Senat auf der
Grundlage der vom FG getroffenen Feststellungen nicht beurteilen,
ob die Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG erfüllt
sind.
a) Die Norm des § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG
ist wegen des Anwendungsvorrangs des EG-Rechts normerhaltend i.S.
der EuGH-Entscheidung in Slg. 2007, I-6849, DStR 2007, 1670 = SIS 07 34 68 europarechtskonform auszulegen (vgl. auch BFH-Urteil vom
20.9.2006 I R 113/03, BFH/NV 2007, 220 = SIS 07 03 60 - zum Abzug
von Steuerberatungskosten eines niederländischen
Steuerpflichtigen). Dies führt dazu, dass das
„europarechtswidrige Tatbestandsmerkmal“ nicht
zu beachten ist, dass also dann, wenn die Schule im EU-Ausland -
gleichgültig ob öffentliche oder Privatschule im Sinne
des EuGH-Urteils - zu einem im Inland ohne Abstriche anerkannten
Schulabschluss führt, der Abzug des für den Besuch dieser
Schule gezahlten Schulgeldes - also ohne Beträge für
Beherbergung, Betreuung und Verpflegung - dem Grunde nach in
Betracht zu ziehen ist.
Im Verhältnis
des Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht besteht ein
Vorrang des Gemeinschaftsrechts. Der EuGH hat bereits
frühzeitig entschieden, dass Kollisionsfälle zwischen
Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht nur durch einen umfassenden
Vorrang des Gemeinschaftsrechts gelöst werden können. Der
Vorrang bezieht sich auf alle Rechtsquellen des
Gemeinschaftsrechts, einschließlich des sekundären
Gemeinschaftsrechts. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, selbst
aus der Verletzung europäischen Rechts die möglichen
Konsequenzen für die Vergangenheit zu ziehen (EuGH-Urteil vom
10.4.2008 Rs. C-309/06 - Marks & Spencer -, BB 2008, 1158 = SIS 08 20 61). „Europäische Rechtsakte“ sind
nach der Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts -
BVerfG - (Urteil vom 12.10.1993 2 BvR 2134/92, 2159/92, BVerfGE 89,
155) nur dann nicht verbindlich, wenn europäische
Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag in einer Weise
handhaben und fortbilden, die von dem Vertrag nicht mehr gedeckt
wäre (sog. „ausbrechende Rechtsakte“).
Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts
gegenüber dem nationalen Recht hat insbesondere zur Folge,
dass gemeinschaftsrechtswidrige Vorschriften des nationalen
Steuerrechts nicht anzuwenden sind, ohne dass es einer Vorlage an
das BVerfG oder den EuGH bedarf (Anwendungsvorrang). Dieser
Anwendungsvorrang ist durch die Rechtsprechung des EuGH und auch
des BVerfG abgedeckt (vgl. EuGH-Urteil in BB 2008, 1158 = SIS 08 20 61; BVerfG-Beschluss vom 7.6.2000 2 BvL 1/97, BVerfGE 102, 147;
a.A. offenbar Gosch, DStR 2007, 1895, 1897); nach der
letztgenannten Entscheidung des BVerfG sind Verfassungsbeschwerden
und Vorlagen von Gerichten von vornherein unzulässig, wenn
ihre Begründung nicht darlegt, dass die europäische
Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des EuGH
nach Ergehen der Solange II-Entscheidung (BVerfG-Beschluss vom
22.10.1986 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339) unter den erforderlichen
Grundrechtsstandard abgesunken sei. Im Streitfall kommt eine
Vorlage nach Art. 100 GG daher nicht in Betracht; es ist nicht zu
erkennen, dass die Entscheidung des EuGH in Grundrechte der
Kläger eingreift; ganz im Gegenteil kommt ihnen diese zugute,
indem möglicherweise das für den Besuch einer englischen
Schule geleistete Schulgeld abziehbar ist.
Zur Nichtanwendung des dem Gemeinschaftsrecht
widersprechenden nationalen Rechts sind alle mit der Rechtssache
befassten Instanzen verpflichtet (zu Vorstehendem vgl. Jarass in
Jarass/ Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik
Deutschland, Kommentar, 9. Aufl., Art. 23 Rz 33 f.; Ehlers,
Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl., §
7 Rz 9; Wegener in Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 3. Aufl., Art. 220
EGV, Rz 27 f.; Terhechte, Der Vorrang des Unionsrechts, Juristische
Schulung 2008, 403).
b) In der Einkommensteuererklärung
für das Streitjahr haben die Kläger Schulgeld in
Höhe von 18.726 DM für den Besuch der C-School als
Sonderausgaben geltend gemacht. Das FG hat nicht näher
geprüft, ob und in welchem Umfang in diesem Betrag Kosten
für Verpflegung und Unterbringung enthalten sind.
c) Weiter setzt der Abzug von
Schulgeldzahlungen voraus, dass durch die Höhe der gezahlten
Beträge keine Sonderung der Schüler nach den
Besitzverhältnissen der Eltern gefördert wird. Denn das
BVerfG hat Art. 7 Abs. 4 Satz 3 GG als verletzt angesehen, wenn die
Schule nicht mehr allgemein zugänglich ist. Im Grundsatz
müssen alle Schüler ohne Rücksicht auf ihre
wirtschaftliche Lage die Privatschule besuchen können
(BVerfG-Urteil vom 8.4.1987 1 BvL 8, 16/84, BVerfGE 75, 40, 63 f.;
zum Ganzen auch BFH-Urteil vom 14.12.2004 XI R 66/03, BFHE 209, 48,
BStBl II 2005, 473 = SIS 05 18 71). Nach der Rechtsprechung des
BVerfG ist bereits ein Schulgeld von mehreren Hundert Mark
schädlich (vgl. BVerfG-Urteil in BVerfGE 75, 40, 64). Zwar ist
das Sonderungsverbot kein Tatbestandsmerkmal des § 10 Abs. 1
Nr. 9 EStG; bei dem Besuch einer Schule im EU-Ausland ist aber
fiktiv zu prüfen, ob sie nach deutschem Recht anerkannt worden
wäre; in diesem Zusammenhang ist das Sonderungsverbot von
Bedeutung.
Der Senat kann nicht beurteilen, ob diese
Voraussetzungen erfüllt sind. Nach Auffassung des Senats kann
zudem ein hohes Schulgeld z.B. durch Stipendien oder durch andere
Maßnahmen, die den ungehinderten Zugang (auch deutscher
Schüler) ermöglichen, kompensiert werden. Andererseits
kann es entgegen der Auffassung des FG nicht allein darauf
ankommen, dass in der Praxis das Sonderungsverbot
möglicherweise nicht beachtet wird. Meilicke hat in IStR 2006,
447 (vgl. auch Müller, EFG 2008, 607) darauf hingewiesen, dass
in der deutschen Besteuerungspraxis die Absetzbarkeit von Schulgeld
nicht am Sonderungsverbot scheitert; das indes ist kein
hinreichender Grund, an den Voraussetzungen des grundgesetzlich
verankerten Sonderungsverbots nicht festzuhalten.
Möglicherweise kommt den Klägern insoweit § 52 Abs.
24b EStG in der Fassung des Jahressteuergesetzes 2009
(Regierungsentwurf) zugute; danach gilt § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG
in der bisherigen Fassung für noch
nicht bestandskräftige Steuerfestsetzungen der
Veranlagungszeiträume vor 2008 mit der Maßgabe, dass es
sich nicht um eine nach Art. 7 Abs. 4 GG staatlich genehmigte oder
nach Landesrecht erlaubte Ersatzschule oder eine nach Landesrecht
anerkannte allgemein bildende Ergänzungsschule handeln
muss.