1
|
I. Streitig ist, ob die Umsätze des
Klägers und Revisionsbeklagten (Kläger) dem
ermäßigten Umsatzsteuersatz unterliegen.
|
|
|
2
|
Der Kläger verkaufte im Streitjahr
(2004) auf Wochenmärkten in drei gleichartigen Imbisswagen
verzehrfertig zubereitete Speisen (insbesondere verschiedene
Würste, Pommes frites) und Getränke. Die Imbisswagen
verfügten über eine Verkaufstheke mit Spritzschutz aus
Glas und ein darunter angebrachtes umlaufendes „Brett“
aus Resopal, das zum Verzehr der Speisen an Ort und Stelle genutzt
werden konnte. Seitlich befand sich als Fortsetzung der umlaufenden
„Verzehrtheke“ über der Deichsel eine
herausklappbare „Zunge“. Der Bereich, in dem sich
Kunden zum Verzehr aufhalten können, war durch ein
herausklappbares Dach vor Regen geschützt.
|
|
|
3
|
In seiner Umsatzsteuererklärung
für das Streitjahr unterwarf der Kläger die Umsätze
aus dem Verkauf von Getränken dem Regelsteuersatz, die
Umsätze aus dem Verkauf von Speisen dagegen dem
ermäßigten Steuersatz. Im Rahmen einer
Umsatzsteuer-Sonderprüfung kam der Prüfer zu dem
Ergebnis, dass die Kunden des Klägers die Waren in der Regel
an Ort und Stelle verzehrten. Da der Kläger keine Angaben zum
Umfang des Verzehrs an den Imbisswagen gemacht habe, seien die
Umsätze zum Regelsteuersatz auf 70 v.H. zu
schätzen.
|
|
|
4
|
Aufgrund des Ergebnisses der Prüfung
änderte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt -
FA - ) am 27.12.2006 nach § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung den
Umsatzsteuerbescheid für 2004 und setzte die Umsatzsteuer auf
3.919,05 EUR fest. Der Einspruch des Klägers blieb ohne
Erfolg.
|
|
|
5
|
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt.
Zur Begründung seines in EFG 2009, 144 = SIS 09 01 37
veröffentlichten Urteils führte es im Wesentlichen aus:
Entscheidend sei für die Abgrenzung, ob das
Dienstleistungselement qualitativ überwiege.
|
|
|
6
|
Der Kläger habe zwar
Verzehrvorrichtungen bereitgestellt, die dazu geeignet und bestimmt
gewesen seien, Kunden den Verzehr der Speisen an Ort und Stelle zu
ermöglichen. Inwieweit „Verzehrvorrichtungen“ an
einem Imbisswagen tatsächlich von der Kundschaft zum Verzehr
an Ort und Stelle genutzt würden, sei unerheblich, weil sonst
die Höhe des Steuersatzes von einem Verhalten des Kunden nach
Ausführung des Umsatzes abhänge.
|
|
|
7
|
Im Streitfall handele es sich um
Lieferungen, denn neben der Zubereitung der Speisen habe der
Kläger nur überdachte Ablageflächen an seinem
Imbissstand bereitgehalten, auf denen die Speisen zum Verzehr
abgestellt werden könnten und Abfalleimer zur Verfügung
gestellt. Andere Dienstleistungselemente, die für
Restaurationsleistungen charakteristisch seien (Bedienung,
Sitzgelegenheit, geschlossene und temperierte Räume bzw.
ansprechende Verzehrgelegenheiten im Freien, Vorhandensein von
Garderobe und Toiletten usw.), fehlten dagegen.
|
|
|
8
|
Mit der vom FG zugelassenen Revision macht
das FA geltend, das FG habe § 12 Abs. 2 Nr. 1 des
Umsatzsteuergesetzes 1999 (UStG) verletzt, weil die Lieferungen mit
Leistungen (Zubereitung der Nahrungsmittel zu Speisen und Vorhalten
von überdachten Verzehrvorrichtungen) verbunden gewesen seien,
die über die bloße Vermarktung hinausgegangen
seien.
|
|
|
9
|
Das FA beantragt sinngemäß, das
angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
|
|
|
10
|
Der Kläger beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
|
|
|
11
|
Der Senat hat das Verfahren ausgesetzt und
dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) folgende Fragen
zur Vorabentscheidung vorgelegt:
|
|
|
12
|
„1. Handelt es sich um eine Lieferung
i.S. von Art. 5 der Richtlinie 77/388/EWG, wenn zum sofortigen
Verzehr zubereitete Speisen oder Mahlzeiten abgegeben werden? 2.
Kommt es für die Beantwortung der Frage 1 darauf an, ob
zusätzliche Dienstleistungselemente erbracht werden
(Bereitstellung von Verzehrvorrichtungen)? 3. Falls die Frage zu 1
bejaht wird: Ist der Begriff ‘Nahrungsmittel’ im Anhang
H Kategorie 1 der Richtlinie 77/388/EWG dahin auszulegen, dass
darunter nur Nahrungsmittel ‘zum Mitnehmen’ fallen, wie
sie typischerweise im Lebensmittelhandel verkauft werden, oder
fallen darunter auch Speisen oder Mahlzeiten, die - durch Kochen,
Braten, Backen oder auf sonstige Weise - zum sofortigen Verzehr
zubereitet worden sind?“
|
|
|
13
|
Der EuGH hat in seinem Urteil vom 10.3.2011
C-497/09, C-499/09, C-501/09, C-502/09, Bog u.a. (UR 2011, 272 =
SIS 11 06 35) die Fragen wie folgt beantwortet:
|
|
|
14
|
„1. Die Art. 5 und 6 der Sechsten
Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17.5.1977 zur Harmonisierung
der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die
Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche
steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in der durch die Richtlinie
92/111/EWG des Rates vom 14.12.1992 geänderten Fassung sind
dahin auszulegen, dass – die Abgabe frisch zubereiteter
Speisen oder Nahrungsmittel zum sofortigen Verzehr an
Imbissständen oder -wagen oder in Kino-Foyers eine Lieferung
von Gegenständen im Sinne des genannten Art. 5 ist, wenn eine
qualitative Prüfung des gesamten Umsatzes ergibt, dass die
Dienstleistungselemente, die der Lieferung der Nahrungsmittel
voraus- und mit ihr einhergehen, nicht überwiegen; ... 2. Bei
Lieferung von Gegenständen ist der Begriff
‘Nahrungsmittel’ in Anhang H Kategorie 1 der durch die
Richtlinie 92/111 geänderten Sechsten Richtlinie 77/388 dahin
auszulegen, dass er auch Speisen oder Mahlzeiten umfasst, die durch
Kochen, Braten, Backen oder auf sonstige Weise zum sofortigen
Verzehr zubereitet worden sind.“
|
|
|
15
|
Die Beteiligten haben im Anschluss an das
EuGH-Urteil auf mündliche Verhandlung verzichtet.
|
|
|
16
|
II. Die Revision des FA ist unbegründet;
sie war daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ).
|
|
|
17
|
Zu Recht hat das FG entschieden, dass die vom
Kläger ausgeführten Umsätze gemäß §
12 Abs. 2 Nr. 1 UStG dem ermäßigten Steuersatz
unterliegen. Bei der Abgabe der verzehrfertigen Speisen durch den
Kläger an seine Kunden hat es sich um Lieferungen von in der
Anlage zu § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG bezeichneten
Gegenständen gehandelt.
|
|
|
18
|
1. Nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG
ermäßigt sich die Steuer auf 7 v.H. für die
Lieferung der in der Anlage bezeichneten Gegenstände. Dazu
gehören u.a. „Zubereitungen von Fleisch
...“ (Nr. 28), „Zubereitungen aus Getreide,
Mehl, Stärke oder Milch; Backwaren“ (Nr. 31) und
„verschiedene Lebensmittelzubereitungen“ (Nr.
33). Damit hat der nationale Gesetzgeber von dem ihm in Art. 12
Abs. 3 Buchst. a Unterabs. 3, Anhang H Nr. 1 der Sechsten
Richtlinie des Rates vom 17.5.1977 zur Harmonisierung der
Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern
77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) eingeräumten Ermessen
hinsichtlich der Anwendung eines ermäßigten Steuersatzes
Gebrauch gemacht. Nach Art. 12 Abs. 3 Buchst. a Unterabs. 3 der
Richtlinie 77/388/EWG können die Mitgliedstaaten einen oder
zwei ermäßigte Steuersätze anwenden. Diese
ermäßigten Steuersätze „... sind nur auf
Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen der in
Anhang H genannten Kategorien anwendbar“.
|
|
|
19
|
In Anhang H Nr. 1 der Richtlinie 77/388/EWG
sind genannt:
|
20
|
„Nahrungs- und Futtermittel
(einschließlich Getränke, alkoholische Getränke
jedoch ausgenommen), lebende Tiere, Saatgut, Pflanzen und
üblicherweise für die Zubereitung von Nahrungs- und
Futtermitteln verwendete Zutaten, üblicherweise als Zusatz
oder Ersatz für Nahrungs- und Futtermittel verwendete
Erzeugnisse.“
|
|
|
21
|
a) Lieferungen sind nach § 3 Abs. 1 UStG
Leistungen, durch die der Unternehmer den Abnehmer befähigt,
im eigenen Namen über einen Gegenstand zu verfügen
(Verschaffung der Verfügungsmacht). Nicht begünstigt sind
sonstige Leistungen. Eine sonstige Leistung ist nach § 3 Abs.
9 Satz 4 UStG die Abgabe von Speisen und Getränken zum Verzehr
an Ort und Stelle. Speisen und Getränke werden zum Verzehr an
Ort und Stelle abgegeben, wenn sie nach den Umständen der
Abgabe dazu bestimmt sind, an einem Ort verzehrt zu werden, der mit
dem Abgabeort in einem räumlichen Zusammenhang steht, und
besondere Vorrichtungen für den Verzehr an Ort und Stelle
bereitgehalten werden (§ 3 Abs. 9 Satz 5 UStG).
|
|
|
22
|
b) Die Abgabe von Bratwürsten, Pommes
frites und ähnlichen standardisiert zubereiteten Speisen an
einem mit behelfsmäßigen Verzehrvorrichtungen
ausgestatteten Imbissstand ist eine einheitliche Leistung (vgl.
EuGH-Urteil Bog u.a. in UR 2011, 272 = SIS 11 06 35 Rdnr. 56;
Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 18.12.2008 V R 55/06, BFHE
223, 539, BFH/NV 2009, 673 = SIS 09 08 71; vom 1.4.2009 XI R 3/08,
BFH/NV 2009, 1469 = SIS 09 26 94), die eine Lieferung ist und
gemäß § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG i.V.m. Nrn. 28, 31 und
33 der Anlage zu § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG dem
ermäßigten Steuersatz unterliegt.
|
|
|
23
|
aa) Bei der Abgrenzung zwischen Lieferung und
Dienstleistung ist auf die Sicht des Durchschnittsverbrauchers
abzustellen. Maßgebend ist eine Gesamtbetrachtung aller
Umstände, unter denen der Umsatz erfolgt. Im Rahmen dieser
Gesamtbetrachtung ist „die qualitative und nicht nur
quantitative Bedeutung der Dienstleistungselemente im Vergleich zu
den Elementen einer Lieferung von Gegenständen zu
bestimmen“ (EuGH-Urteil Bog u.a. in UR 2011, 272 = SIS 11 06 35 Rdnr. 62; BFH-Urteile vom 18.2.2009 V R 90/07, BFHE 225, 210,
BFH/NV 2009, 1551 = SIS 09 25 70; vom 26.10.2006 V R 59/04, BFHE
215, 360, BStBl II 2007, 487 = SIS 07 00 39, m.w.N., und vom
10.8.2006 V R 55/04, BFHE 214, 474, BStBl II 2007, 480 = SIS 06 40 95, m.w.N.).
|
|
|
24
|
bb) Zu der Frage, ob die einheitliche Leistung
bei der Abgabe standardisiert zubereiteter, verzehrfertiger Speisen
an mit behelfsmäßigen Verzehrvorrichtungen
ausgestatteten Imbissständen als Lieferung oder als
Dienstleistung einzustufen ist, hat der EuGH auf das zu dem das
vorliegende Verfahren betreffenden Vorabentscheidungsersuchen
C-497/09 entschieden, dass die Lieferung von Speisen oder
Mahlzeiten zum sofortigen Verzehr das überwiegende Element der
betreffenden Umsätze darstellt, wenn die
Dienstleistungselemente nur in der Bereitstellung
behelfsmäßiger Vorrichtungen bestehen, d.h.
„ganz einfacher Verzehrtheken ohne Sitzgelegenheit, um
einer beschränkten Zahl von Kunden den Verzehr an Ort und
Stelle im Freien zu ermöglichen. Solche
behelfsmäßigen Vorrichtungen erfordern nur einen
geringfügigen personellen Einsatz. Unter diesen Umständen
stellen diese Elemente nur geringfügige Nebenleistungen dar
und können am dominierenden Charakter der Hauptleistung, d.h.
dem einer Lieferung von Gegenständen, nichts
ändern“ (Rdnr. 70 des EuGH-Urteils Bog u.a. in UR
2011, 272 = SIS 11 06 35). „Ob die Kunden die genannten
behelfsmäßigen Vorrichtungen benutzen, ist ohne
Bedeutung, da der sofortige Verzehr an Ort und Stelle, der kein
wesentliches Merkmal des betreffenden Umsatzes darstellt, nicht
für dessen Natur bestimmend sein kann“ (Rdnr. 74 des
EuGH-Urteils Bog u.a. in UR 2011, 272 = SIS 11 06 35).
|
|
|
25
|
cc) Der Anwendung dieser Grundsätze im
Streitfall steht die Regelung in § 3 Abs. 9 Sätze 4 und 5
UStG nicht entgegen. Nach ständiger Rechtsprechung hat das
innerstaatliche Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit
die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts anzuwenden hat, für
die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es
erforderlichenfalls jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen
Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lässt
(vgl. z.B. EuGH-Urteil vom 19.11.2009 C-314/08, Filipiak, Slg.
2009, I-11049, BFH/NV 2010, 136 = SIS 10 02 35 Rdnrn. 81, 82,
m.w.N.; BFH-Urteile vom 17.7.2008 X R 62/04, BFHE 222, 428, BStBl
II 2008, 976 = SIS 08 37 64, unter II.2.a; vom 22.7.2008 VIII R
101/02, BFHE 222, 453, BStBl II 2010, 265 = SIS 08 33 42, unter
IV.1.). Für die Anwendung des § 3 Abs. 9 Sätze 4 und
5 UStG bedeutet dies, dass soweit die Vorschrift nicht
richtlinienkonform ist, die unionsrechtlichen Grundsätze zur
Abgrenzung Lieferung und sonstige Leistung maßgebend sind
(BFH-Urteil in BFHE 223, 539, BFH/NV 2009, 673 = SIS 09 08 71,
unter II.4.a, m.w.N.) und dabei die vorstehende EuGH-Rechtsprechung
zu beachten ist.
|
|
|
26
|
2. Unter Berücksichtigung dieser
Grundsätze hat das FG zu Recht entschieden, dass es sich bei
dem Verkauf verzehrfertiger Speisen durch den Kläger um
Lieferungen gehandelt hat, weil er keine über die einfache,
standardisierte Zubereitung von Lebensmitteln und die
Bereitstellung behelfsmäßiger Vorrichtungen
hinausgehende Leistungen gegenüber seinen Kunden erbracht
hat.
|
|
|
27
|
3. Die streitigen Umsätze des
Klägers unterliegen gemäß § 12 Abs. 2 Nr. 1
UStG dem ermäßigten Steuersatz, weil die von ihm
gelieferten Lebensmittel in der Anlage zu § 12 Abs. 2 Nr. 1
UStG bezeichnet sind (Zubereitungen von Fleisch usw. - Nr. 28 -,
aus Getreide, Mehl, Stärke oder Milch sowie Backwaren - Nr. 31
-, Zubereitungen von Gemüse, Früchten usw. - Nr. 32 -
oder verschiedene Lebensmittelzubereitungen - Nr. 33 - ). Aus dem
2. Leitsatz des EuGH-Urteils Bog u.a. in UR 2011, 272 = SIS 11 06 35 ergibt sich, dass dies im Einklang mit Anhang H der Richtlinie
77/388/EWG steht, weil Anhang H auch Speisen oder Mahlzeiten
umfasst, die durch Kochen, Braten, Backen oder auf sonstige Weise
zum sofortigen Verzehr zubereitet worden sind.
|
|
|