1
|
I. Die Klägerin und
Revisionsklägerin (Klägerin) hat einen Sohn (S), der im
Juni 2008 seine Ausbildung zum Steuerfachangestellten erfolgreich
abschloss und anschließend im erlernten Beruf arbeitete. Ab
September 2008 nahm er ein berufsbegleitendes Studium an einer
Fachhochschule im Fachbereich Steuerrecht auf. Seitdem arbeitete er
28 Wochenstunden als Angestellter in einer Steuerberaterkanzlei und
besuchte an zwei bis drei Terminen je Woche (abends und auch an
Samstagen) die Fachhochschule in A bzw. B.
|
|
|
2
|
Die Beklagte und Revisionsbeklagte
(Familienkasse) gewährte für den Streitzeitraum Februar
bis Dezember 2009 kein Kindergeld, weil der Grenzbetrag ihres
Erachtens überschritten war. Bei ihrer Berechnung
berücksichtigte sie die Fahrten des S zur Fachhochschule nicht
mit den tatsächlich angefallenen Kosten, sondern setzte
lediglich die Entfernungspauschale an. Auf diese Weise ermittelte
sie Aufwendungen in Höhe von 1.363,50 EUR. Hieraus ergab sich
eine Überschreitung des Grenzbetrags um 276 EUR.
|
|
|
3
|
Die Klägerin wandte sich im
Einspruchs- und im Klageverfahren erfolglos gegen die Ablehnung
ihres Kindergeldantrags.
|
|
|
4
|
Mit ihrer Revision bringt die Klägerin
vor, dass ihrem Sohn Werbungskosten in Form von Fortbildungskosten
in dem erlernten und ausgeübten Beruf entstanden seien. Zu
diesen Kosten gehörten auch die Fahrtkosten zur
Bildungseinrichtung. Sie seien grundsätzlich in
tatsächlicher Höhe zu berücksichtigen. Eine
Einschränkung sei nur bei Fahrten zu solchen Orten
gerechtfertigt, an denen der Arbeitnehmer
schwerpunktmäßig tätig werde. S werde aber
schwerpunktmäßig in der Steuerberaterkanzlei tätig.
Der Besuch der Fachhochschule sei demgegenüber hinsichtlich
des zeitlichen Umfangs nachgeordnet und zudem befristet. Das Urteil
des Finanzgerichts (FG) beruhe noch auf der zwischenzeitlich
aufgegebenen höchstrichterlichen Rechtsprechung zu
Arbeitnehmern mit mehreren Arbeitsstätten. Es könne daher
keinen Bestand haben.
|
|
|
5
|
Die Klägerin beantragt, die
Familienkasse unter Aufhebung des Urteils der Vorinstanz, des
Ablehnungsbescheids vom 4.2.2010 und der Einspruchsentscheidung vom
2.3.2010 zu verpflichten, für S Kindergeld für die Monate
Februar bis Dezember 2009 festzusetzen.
|
|
|
6
|
Die Familienkasse beantragt, die Revision
als unbegründet zurückzuweisen.
|
|
|
7
|
Im vorliegenden Fall sei nicht
„eine“ (Gesamt-)Tätigkeit des Steuerpflichtigen,
die sich in „Untertätigkeiten“ aufgliedere, zu
beurteilen, sondern verschiedene, nebeneinander bestehende
Tätigkeiten. Der Streitfall sei daher mit der Konstellation
gleichzustellen, in welcher der Steuerpflichtige zwei isolierten
Beschäftigungen in Form von zwei verschiedenen
Arbeitsverhältnissen nachgehe. Für jede dieser
Beschäftigungen sei dann die jeweils „eine“
regelmäßige Arbeitsstätte festzustellen. Die von
der Klägerin angeführten Entscheidungen des
Bundesfinanzhofs (BFH) seien daher nicht einschlägig, weil der
Arbeitnehmer in den dort entschiedenen Fällen im Rahmen
eines Arbeitsverhältnisses verschiedene
Tätigkeitsorte aufsuchte. Auch das BFH-Urteil vom 10.4.2008 VI
R 66/05 (BFHE 221, 35, BStBl II 2008, 825 = SIS 08 24 17) zwinge zu
keiner anderen rechtlichen Beurteilung, weil das Studium des S im
Streitfall mit einem unbefristeten Arbeitsverhältnis
verglichen werden könne.
|
|
|
8
|
II. Die Revision ist begründet. Sie
führt zur Aufhebung des angegriffenen Urteils, des
Ablehnungsbescheids vom 4.2.2010 und der hierzu ergangenen
Einspruchsentscheidung vom 2.3.2010 (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1
der Finanzgerichtsordnung - FGO - ). Die Klägerin hat für
den Streitzeitraum einen Anspruch auf die Festsetzung von
Kindergeld für S.
|
|
|
9
|
1. a) Für ein Kind, das - wie S im
Streitzeitraum - das 18., aber noch nicht das 25. Lebensjahr
vollendet hat und sich in Ausbildung befindet, besteht nach §
62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 2
des Einkommensteuergesetzes in der im Streitzeitraum geltenden
Fassung (EStG) ein Anspruch auf Kindergeld nur, wenn das Kind
Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts
oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von nicht
mehr als 7.680 EUR im Kalenderjahr hat. Der Begriff der
Einkünfte entspricht dem in § 2 Abs. 2 EStG gesetzlich
definierten Begriff und ist je nach Einkunftsart als Gewinn oder
als Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten zu
verstehen. Erzielt das Kind Einkünfte aus
nichtselbständiger Arbeit, sind daher von den Bruttoeinnahmen
die Werbungskosten abzuziehen (ständige Rechtsprechung, z.B.
Senatsurteile vom 29.5.2008 III R 33/06, BFH/NV 2008, 1664 = SIS 08 35 78; vom 22.10.2009 III R 101/07, BFH/NV 2010, 200 = SIS 10 01 40).
|
|
|
10
|
b) Nach § 32 Abs. 4 Satz 5 EStG bleiben
bei der Ermittlung der schädlichen Grenze von 7.680 EUR
Bezüge außer Ansatz, die für besondere
Ausbildungszwecke bestimmt sind bzw. Einkünfte, die für
solche Zwecke verwendet werden. Solche besonderen Ausbildungskosten
sind alle über die Lebensführung hinausgehenden
ausbildungsbedingten Mehraufwendungen. Ausbildungsbedingte
Mehraufwendungen, die nicht bereits als Werbungskosten (§ 9
EStG) im Rahmen einer Einkunftsart des Kindes berücksichtigt
werden, sind gemäß § 32 Abs. 4 Satz 5 EStG von der
Summe der Einkünfte und Bezüge abzuziehen. Dabei erfolgt
die Abgrenzung zwischen Kosten der Lebensführung und dem
ausbildungsbedingten Mehrbedarf in der Weise, wie dies im Rahmen
eines Ausbildungsdienstverhältnisses zwischen den Kosten der
Lebensführung und den durch den Beruf veranlassten Kosten
(Werbungskosten) geschieht. Es sind die den Abzug der jeweiligen
Aufwendung betreffenden steuerlichen Vorschriften dem Grunde und
der Höhe nach zu beachten (BFH-Urteil vom 22.9.2011 III R
38/08, BFHE 235, 331, BStBl II 2012, 338 = SIS 11 37 57,
m.w.N.).
|
|
|
11
|
c) Die in § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG
genannten Voraussetzungen für den Abzug von Werbungskosten bei
den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit können
auch bei berufsbezogenen Bildungsmaßnahmen erfüllt sein
(BFH-Urteil vom 27.10.2011 VI R 52/10, BFHE 235, 444, BStBl II
2012, 825 = SIS 11 39 73). Als Werbungskosten abziehbar sind
sämtliche Aufwendungen, die im Zusammenhang mit der
beruflichen Bildungsmaßnahme stehen. Hierzu gehören auch
Fahrt- bzw. Mobilitätskosten. Sie sind grundsätzlich
gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG in tatsächlicher
Höhe zu berücksichtigen. Eine Einschränkung für
den Abzug von Fahrtkosten sieht das Gesetz in § 9 Abs. 1 Satz
3 Nr. 4 EStG nur für die Aufwendungen für die Wege
zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte
vor. Eine vom Arbeitnehmer besuchte arbeitgeberfremde
Bildungseinrichtung stellt - unabhängig davon, ob die
Bildungsmaßnahme die volle Arbeitszeit des Steuerpflichtigen
in Anspruch nimmt oder neben einer Voll- oder
Teilzeitbeschäftigung ausgeübt wird - nach der
Rechtsprechung des VI. Senats des BFH keine regelmäßige
Arbeitsstätte in diesem Sinne dar (BFH-Urteile vom 9.2.2012 VI
R 44/10, BFHE 236, 431 = SIS 12 07 86; vom 9.2.2012 VI R 42/11,
BFHE 236, 439 = SIS 12 07 85). Der erkennende Senat schließt
sich dieser Auffassung an.
|
|
|
12
|
2. Die Vorentscheidung entspricht diesen
Grundsätzen nicht. Sie ist daher aufzuheben.
|
|
|
13
|
a) Die Kosten des S für das
Fachhochschulstudium sind als (vorweggenommene) Werbungskosten
gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG bei seinen
Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit zu
berücksichtigen. Den erforderlichen Veranlassungszusammenhang
hat das FG zu Recht bejaht. Um Kosten der Berufsausbildung i.S. von
§ 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG handelt es sich nicht (vgl. BFH-Urteil
vom 18.6.2009 VI R 14/07, BFHE 225, 393, BStBl II 2010, 816 = SIS 09 28 99).
|
|
|
14
|
§ 4 Abs. 9, § 9 Abs. 6 und § 12
Nr. 5 EStG i.d.F. des Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetzes
(BeitrRLUmsG) vom 7.12.2011 (BGBl I 2011, 2592), die nach § 52
Abs. 12, 23d und 30a EStG i.d.F. des BeitrRLUmsG rückwirkend
ab dem Veranlagungszeitraum 2004 gelten sollen, stehen dem
Werbungskostenabzug im Streitfall schon deshalb nicht entgegen,
weil S vor Beginn seines berufsbegleitenden Studiums an der
Fachhochschule bereits eine Ausbildung zum Steuerfachangestellten
durchlaufen und damit eine erste Berufsausbildung im Sinne dieser
Vorschriften absolviert hat (BFH-Urteile in BFHE 236, 431 = SIS 12 07 86 und in BFHE 236, 439 = SIS 12 07 85).
|
|
|
15
|
Da es sich bei den streitigen Aufwendungen
folglich um Werbungskosten handelt, die unmittelbar bei der
Ermittlung der Einkünfte des S i.S. des § 32 Abs. 4 Satz
2 EStG zu berücksichtigten sind, bedarf es keiner -
systematisch nachrangigen - Korrektur der Einkünfte und
Bezüge gemäß § 32 Abs. 4 Satz 5 EStG (sog.
ausbildungsbedingter Mehrbedarf).
|
|
|
16
|
b) Das FG ist - in Übereinstimmung mit
der früheren höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl.
z.B. BFH-Urteil vom 29.4.2003 VI R 86/99, BFHE 202, 299, BStBl II
2003, 749 = SIS 03 27 09) - davon ausgegangen, dass eine
arbeitgeberfremde Bildungseinrichtung grundsätzlich eine
regelmäßige Arbeitsstätte i.S. des § 9 Abs. 1
Satz 3 Nr. 4 Satz 1 EStG mit der Folge der Anwendung der
Entfernungspauschale darstellen kann. Dies ist jedoch nicht
zutreffend. Zur Begründung ist auf die BFH-Urteile in BFHE
236, 431 = SIS 12 07 86 und in BFHE 236, 439 = SIS 12 07 85 zu
verweisen.
|
|
|
17
|
3. Die Sache ist spruchreif. Der Senat kann
durcherkennen. Die Anzahl der Fahrten und die Entfernung zwischen
der Wohnung des S und der in A bzw. B gelegenen Fachhochschule
sind, wie die übrigen Positionen der Berechnung (Bruttolohn,
Sozialversicherungsbeiträge u.a.), zwischen den Beteiligten
unstreitig. Die tatsächlichen Aufwendungen hat die
Klägerin zulässigerweise mit den in H 9.5 des
Lohnsteuerhandbuchs 2009 vorgesehenen Pauschalen von 0,30 EUR je
Fahrtkilometer, mithin mit insgesamt 2.727 EUR berechnet. Die
Familienkasse hat die Fahrtaufwendungen bislang lediglich in
Höhe der Entfernungspauschale, also mit der Hälfte des
genannten Betrags berücksichtigt. Werden im Rahmen der
Grenzbetragsprüfung weitere Kosten des S in Höhe von
1.363,50 EUR berücksichtigt, dann ist der Grenzbetrag
unterschritten.
|