Ständig wechselnde Tätigkeitsstätten, Fahrtkosten: 1. Für die Wege eines Arbeitnehmers zwischen Wohnung und ständig wechselnden Tätigkeitsstätten ist keine Entfernungspauschale nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG anzusetzen. - 2. Die Fahrtkosten sind unabhängig von der Entfernung (ab dem ersten Kilometer) in tatsächlicher Höhe als Werbungskosten zu berücksichtigen. - 3. Die frühere Rechtsprechung zur Anwendung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG bei Fahrten zu ständig wechselnden Tätigkeitsstätten im Einzugsbereich (sog. 30-km-Grenze) ist aufgrund geänderter Rechtsprechung des BFH überholt. (zur Anwendung vgl. BMF-Schreiben vom 26.10.2005, IV C 5 - S 2353 - 211/05, BStBl 2009 I S. 960 = SIS 05 45 86) - Urt.; BFH 18.12.2008, VI R 39/07; SIS 09 06 83
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte
(Kläger) war im Streitjahr 2004 an 257 Werktagen als
Bauarbeiter auf wechselnden Tätigkeitsstätten eingesetzt,
die bis zu 45 km von seinem Wohnort entfernt lagen.
Im Einkommensteuerbescheid für 2004
berücksichtigte der Beklagte und Revisionskläger (das
Finanzamt - FA - ) die Fahrten des Klägers mit dem eigenen PKW
zu solchen Tätigkeitsstätten, die weniger als 30 km von
seinem Wohnort entfernt lagen, nur mit der Entfernungspauschale
nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 des Einkommensteuergesetzes in
der im Streitjahr 2004 geltenden Fassung (EStG).
Der hiergegen gerichtete Einspruch des
Klägers, mit dem er den Ansatz der tatsächlichen Kosten
(in Höhe des Pauschbetrags von 0,30 EUR je km) begehrte, blieb
erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit
den in EFG 2008, 940 = SIS 08 13 29 veröffentlichten
Gründen insoweit statt.
Mit der Revision rügt das FA die
Verletzung materiellen Rechts. Die Fahrtkosten des Klägers zu
den wechselnden Tätigkeitsstätten in einer Entfernung von
der Wohnung von weniger als 30 km (sog. Einzugsbereich)
könnten als Werbungskosten nur in Höhe der
Entfernungspauschale berücksichtigt werden. Der
Bundesfinanzhof (BFH) habe bereits in seinem Urteil vom 10.5.1985
VI R 157/81 (BFHE 144, 46, BStBl II 1985, 595 = SIS 85 16 30)
entschieden, dass die tatsächlichen Kosten nur für solche
Fahrten angesetzt werden könnten, die über den
Einzugsbereich hinausgehen; die innerhalb dieses Bereichs liegenden
Fahrten unterlägen der Abzugsbeschränkung des § 9
Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG. Diesen Rechtsgrundsatz habe der BFH auch
in seiner neueren Rechtsprechung nicht aufgegeben.
Das FA beantragt (sinngemäß),
das Urteil des Sächsischen FG vom 20.6.2007 2 K 185/06
abzuändern und die Klage auch hinsichtlich des genannten
Streitpunktes abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
II. Die Revision des FA ist unbegründet
und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ).
1. Zutreffend führt das FA an, dass der
BFH u.a. in dem vorgenannten Urteil in BFHE 144, 46, BStBl II 1985,
595 = SIS 85 16 30 entschieden hat, es seien (nur) die
Pauschsätze des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG und nicht
die tatsächlichen Kosten anzusetzen, wenn ein Arbeitnehmer an
wechselnden Einsatzorten in einer Entfernung von seiner Wohnung
tätig ist, wie sie auch von vielen anderen Arbeitnehmern mit
einer festen Arbeitsstätte täglich zurückgelegt wird
(ebenso BFH-Urteile vom 20.11.1987 VI R 6/86, BFHE 152, 232, BStBl
II 1988, 443 = SIS 88 08 39; vom 10.10.1994 VI R 2/92, BFHE 175,
553, BStBl II 1995, 137 = SIS 95 03 60, unter 2.a der Gründe).
Die Entfernungsgrenze hat die Finanzverwaltung für
Veranlagungszeiträume ab 1996 auf 30 km festgelegt (vgl.
Abschn. 38 Abs. 5 der Lohnsteuer-Richtlinien - LStR - 1996).
2. Die vom FA in Bezug genommene (ältere)
Rechtsprechung des Senats zur Ausdehnung des § 9 Abs. 1 Satz 3
Nr. 4 EStG auf Fahrtkosten bei wechselnden
Tätigkeitsstätten im sog. Einzugsbereich ist jedoch mit
der Gesetzessystematik und der neueren Rechtsprechung des BFH zur
Berücksichtigung von Fahrtkosten bei
Auswärtstätigkeiten nicht vereinbar (ebenso Schmidt/
Drenseck, EStG, 27. Aufl., § 9 Rz 120; Bergkemper, FR 2005,
1113, 1114; Albert, FR 2006, 302, 305). Denn die neuere
Rechtsprechung des BFH unterscheidet - auch begrifflich - strikt
zwischen Fahrten zwischen Wohnung und (regelmäßiger)
Arbeitsstätte (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG) einerseits
und Fahrten zwischen Wohnung und ständig wechselnden
Tätigkeitsstätten andererseits (zum Begriff vgl. § 4
Abs. 5 Satz 1 Nr. 5 Satz 3 EStG i.V.m. § 9 Abs. 5 EStG; zu den
gleichen Maßstäben bei Fahrtkosten und
Mehrverpflegungsaufwendungen aus Gründen der Folgerichtigkeit
und zum Zweck der Vereinfachung: s. u.a. BFH-Urteil vom 11.5.2005
VI R 70/03, BFHE 209, 508, BStBl II 2005, 785 = SIS 05 36 03, unter
II.3.b der Gründe; Fissenewert, Der Betrieb, Beilage 6/2006,
32 ff., 35).
a) Nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG sind
Aufwendungen des Arbeitnehmers für die Wege zwischen Wohnung
und (regelmäßiger) Arbeitsstätte Werbungskosten.
Die Vorschrift hat insofern abzugsbeschränkende Wirkung, weil
zur Abgeltung dieser Aufwendungen für jeden Arbeitstag, an dem
der Arbeitnehmer die Arbeitsstätte aufsucht, (nur) eine
Entfernungspauschale für jeden vollen Kilometer der Entfernung
zwischen Wohnung und Arbeitsstätte von 0,30 EUR anzusetzen
ist.
Regelmäßige Arbeitsstätte i.S.
des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG ist nach der Rechtsprechung
des Senats jede ortsfeste dauerhafte betriebliche Einrichtung des
Arbeitgebers, der der Arbeitnehmer zugeordnet ist und die er nicht
nur gelegentlich, sondern mit einer gewissen Nachhaltigkeit, das
heißt fortdauernd und immer wieder aufsucht; dies ist
regelmäßig der Betrieb des Arbeitgebers oder ein
Zweigbetrieb (z.B. Urteile vom 10.7.2008 VI R 21/07, BFH/NV 2008,
1923 = SIS 08 35 53; vom 4.4.2008 VI R 85/04, BFHE 221, 11, BStBl
II 2008, 887 = SIS 08 24 19 zu § 8 Abs. 2 Satz 3 EStG; vom
14.9.2005 VI R 93/04, BFH/NV 2006, 53 = SIS 06 02 58; vom 11.5.2005
VI R 15/04, BFHE 209, 515, BStBl II 2005, 788 = SIS 05 35 99; VI R
16/04, BFHE 209, 518, BStBl II 2005, 789 = SIS 05 36 00; VI R
25/04, BFHE 209, 523, BStBl II 2005, 791 = SIS 05 36 01).
Liegt eine auf Dauer und Nachhaltigkeit
angelegte (regelmäßige) Arbeitsstätte vor, so kann
sich der Arbeitnehmer in unterschiedlicher Weise auf die immer
gleichen Wege einstellen und so auf eine Minderung der Wegekosten
hinwirken. Demgemäß kann die Regelung des § 9 Abs.
1 Satz 3 Nr. 4 EStG als eine sachgerechte und folgerichtige
Ausnahme vom objektiven Nettoprinzip angesehen werden (hierzu z.B.
BFH-Urteil in BFHE 209, 523, BStBl II 2005, 791 = SIS 05 36 01).
b) Die Regelung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr.
4 EStG kann indessen schon deshalb nicht für Fahrten des
Arbeitnehmers zu ständig wechselnden
Tätigkeitsstätten angewendet werden, weil derartige
Einsatzstellen nicht auf Dauer und Nachhaltigkeit angelegt sind
(vgl. auch BFH-Urteile in BFHE 209, 508, BStBl II 2005, 785 = SIS 05 36 03; vom 11.5.2005 VI R 34/04, BFHE 209, 527, BStBl II 2005,
793 = SIS 05 36 02). Die Anwendung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4
EStG erwiese sich bei Fahrten zu wechselnden
Tätigkeitsstätten als systemwidrig, weil der Arbeitnehmer
bei wechselnden Einsätzen im Interesse des Arbeitgebers
beweglich bleiben muss, er deshalb typischerweise oft auf ein
Kraftfahrzeug angewiesen ist und die Entfernung der sich laufend
ändernden Tätigkeitsstätten vom Wohnort oft stark
schwankt (vgl. auch BFH-Urteil vom 11.5.2005 VI R 7/02, BFHE 209,
502, BStBl II 2005, 782 = SIS 05 36 04, m.w.N.). Diese Sachlage ist
typischerweise auch bei ständig wechselnden
Tätigkeitsstätten eines Arbeitnehmers innerhalb eines
Einzugsbereichs von 30 km gegeben.
3. Hieraus ergibt sich, dass Fahrten zwischen
Wohnung und ständig wechselnden Tätigkeitsstätten
unabhängig von der Entfernung (ab dem ersten Kilometer) mit
den tatsächlichen Kosten als Werbungskosten zu
berücksichtigen sind.
Der Senat geht davon aus, dass sich die
Finanzverwaltung dieser Rechtsauffassung zwischenzeitlich
angeschlossen hat. Denn die in R 38 Abs. 3 LStR (1999 bis 2007)
angeführte Regelung zur 30-km-Grenze ist in den LStR 2008
nicht mehr enthalten (vgl. R 9.5 LStR 2008 und H 9.4, 9.5 des
Lohnsteuer-Handbuchs 2008).